Peter Handke. Zum Beispiel

Seite 2: Die geopolitische Dimension

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Indes, auch über die geopolitische Dimension war und ist kaum was zu lesen. Logisch, es ginge hierbei ja um Argumente. Ein rationaler Diskurs entstünde. Solschenizyn, Sacharow und wie sie alle hießen, die Dissidenten im Sowjetreich: Sie wurden als System- oder Staatsfeinde gebrandmarkt. Auf die Kennzeichnung als Schläger, Schänder und Vergewaltiger verzichtete der Machtapparat (war das eine der Schwächen jenes Kommunismus?). Systemfeind: Diese Bezeichnung hätte auch Handke verdient. Wie auch der um Maßen brutaler zersetzte Assange.

Für diese Ehrlichkeit und die mit ihr verhängte letzte Würde müsste man der Sowjetdiktatur im Vergleich fast dankbar sein. Und die Menschen wussten das, auch wenn sie kuschten: Systemfeind und integer. Wo aber ist dieses Bewusstsein heute geblieben? Haben Sie Freunde, denen klar ist, dass Handke mit seiner Kritik fundamentale Voraussetzungen der westlichen Dominanz auf dem Balkan kritisiert hat?

Und dass dies ein Assange in einem noch viel fundamentaleren und für die USA bedeutend gefährlicheren Ausmaß ebenso getan hat? Und dass die genau deshalb zur Strecke gebracht werden? Indes, wen in Ihrem Bekanntenkreis interessiert überhaupt noch das Schicksal eines Assange? Selbst sein Krepieren würde an der erfolgreich implementierten politischen Gleichgültigkeit kaum etwas ändern. Und an dieser politischen Gleichgültigkeit wird weiter gearbeitet, zum Beispiel wenn Handke auf dem Feld der persönlichen Diffamierung verarbeitet wird.

Handkes Reisebericht zu den Flüssen in Serbien. Ich habe ihn wiedergelesen. Es werden keine Verbrechen verharmlost, keine Massaker abgestritten. Der Text zeigt Menschen. Menschen in Serbien. In Zusammenhängen. Und ihn selbst auf der Reise da. Handke ist nicht für die Serben. Sein Text zeigt vielmehr, wie er mit Serben in Serbien ist.

Dadurch unterläuft er das Schema. Die Opfer hier, die Schlächter da. Das ist sein Vergehen. Relativieren und Verharmlosen sind nicht das Gleiche. Zusammenhänge einblenden, welche die Ordnung ausblendet: In dieser Funktion ist Literatur politisch. Dušanka und Branka sagten: Serben waren auch Opfer. Sie sagten nicht: Serben töteten nicht. Auch Handke sagt das nicht. Weder in seinem Reisetext noch anderswo. Er sagt nicht: Die Serben sind die Guten. Er zeigt sich mit ihnen. Und sie wurden zu Menschen.

Das ändert an den Massakern, begangen von Serben, nichts. Nichts an den entsetzlichen Erfahrungen, die sie zurücklassen. Es ändert an Srebrenica nichts, nichts an der Belagerung Sarajevos, nichts, was später in Ademir Kenovićs Film Le Cercle parfait oder Slavenka Drakulićs Roman Als gäbe es mich nicht Ausdruck gefunden hat. Kein einziges Verbrechen, keine einzige Erfahrung der Vernichtung und des Leidens wird umgeschrieben. Und nichts gegengerechnet.

Auch Saša Stanišićs Erfahrung aus Višegrad bleibt eine Wirklichkeit. Auf nichts zurückzuführen, mit nichts aufzuheben. Welches Reden aber, welche Sprache arbeitet den nächsten Traumatas, irreduzibel und unteilbar, wohl eher zu (denn sie entstehen ja nicht aus dem Nichts, die Handlungen, die zu Traumatas führen)? Ist es Handkes Sprache, die das Sein mit den Serben zur Unzeit thematisiert (die Kategorie Serben übrigens hat nicht Handke geschaffen)? Oder ist es das einheitliche Urteil aus den Redaktionsstuben mit Wörtern wie Leugner, Irrsinniger, Idiotie und Scheiße?

Auch Totalitarismus geht mit der Zeit

Die Maßregelung als Eingeständnis. Meine Frage: Stellt am Ende die Wucht des Strafgesangs gerade nicht Handkes Schuld heraus? Mehr noch: Wäre diese Schuldherausstellung auch gar nicht die erste Absicht?

Könnte die Maßregelung in ihrer Wucht und Einheitlichkeit nicht vielmehr die Disziplinierung im Auge haben? Die Disziplinierung gegen unten? Ein nachhaltiger Aufruf dazu, wie man zu urteilen hat, um nicht abzufallen? Wird am Ende nicht Handke (zu gewinnen ist der eh nicht mehr), werden vielmehr Leserinnen und Leser gemaßregelt? Seht hin, so ergeht es dem, der ausschert.

Dass ein Denken, das den Korridor des Erlaubten verlässt, Erkenntnisse zu Tage fördert, Erkenntnisse, die wiederum Bestehendes in Frage stellen, das ergibt sich aus dem Wesen des Denkens. Dem Schall der Zurechtweisung käme folglich auch die Funktion zu, solche Erkenntnisse gewissermaßen zu übertönen.

Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Maßregelung angeblicher Gewaltverherrlichung, lautstark Handke zugeschrieben, selbst einer Gewaltstruktur entspränge, in die sämtliche Redaktionsstuben eingebunden wären? Und dies, obgleich die Schreiber beteuern, niemand hätte sie gezwungen, dies oder jenes zu schreiben ... - auch Totalitarismus geht mit der Zeit.

Keinerlei Verweis auf die Forschung. In einer offenen, demokratischen Gesellschaft wäre das Abbilden verschiedener Positionen und Haltungen selbstverständlich. Diese Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, wird der Charakter der "Debatte" um Handke deutlich. In keinem Beitrag, nicht einmal in solchen, die Handke verteidigen (tatsächlich verteidigen, in etwa so: Die literarische Qualität hebt den politischen Irrsinn auf - oder anders gesagt: Ein Poet darf sich irren bzw. es ist ja ein Literaturpreis), in keinem Beitrag also findet Erwähnung, dass Handke mit seiner Einschätzung nicht allein steht.

Dass es Historiker, Politiker, Dokumentarfilmer und auch Journalisten gibt, die aufgrund von Nachforschungen unter Angabe von Quellen und Dokumenten die einseitige Kriegsschuld als Konstruktion zurückweisen. Einer, der sich in dieser "Debatte" zu Wort meldet, müsste diese Einschätzung nicht teilen, aber auf diese Forschung zu verweisen, Handkes Stellungnahme einzubetten: Das allein wäre redlich.

Ein solcher Kontext aber striche den Irrsinnigen, den man braucht. Oder aber man käme nicht umhin, alle jene, die Handkes Position stützen oder teilweise stützen, ebenso zu Irren zu erklären. Das wäre zum Beispiel der in der Schweiz lehrende österreichische Historiker Kurt Gritsch, dessen Buch über den Kosovokrieg dem Nobelpreiskomitee offenbar mit zur Einschätzung bzw. Bewertung der politischen Haltung Handkes gedient hat. Weiter Hannes Hofbauer, ebenso Historiker aus Österreich, der sich schwergewichtig mit Osteuropa beschäftigt.

Das wäre auch der 2017 verstorbene US-Amerikaner Edward S. Herman, ein Professor aus Pennsylvania, der unter anderem zusammen mit Noam Chomsky Bücher veröffentlicht hat. Und auch der Amerikaner Philip Corwin, von Frühjahr bis Sommer 1995 als "Civil Affairs Coordinator and Delegate of the Special Representative for the UN Secretary General for Bosnia and Herzegovina" der höchste UN-Beamte in Bosnien, zählt dazu.

Diese und viele weitere als Irrsinnige zu bezeichnen, das könnte sich als Bumerang erweisen. Gleichwohl, der Wahn, der aus der "Debatte" spricht, lässt den Schluss zu: Man würde, müsste es sein, auch davor nicht zurückschrecken. Aber der einfachere und sicherere Weg ist zweifelsohne das weitgehende Verschweigen der Tatsache, dass Handkes Position zum Krieg in Ex-Jugoslawien keine singuläre ist.

Gut möglich indes, dass die Schreiber der NZZ und der FAZ und alle, die sich berufen fühlten, hier das Urteil zu fällen, von diesen Forschungen gar keine Ahnung haben, dass es also im Grunde eine "Debatte" der (durchaus gewollt) Ahnungslosen ist.

Besonders deutlich wird dies bei der geopolitischen Dimension der Position Handkes zum Balkankrieg, eine Dimension, die vielleicht kein erster Beweggrund für die Stellungnahme gewesen sein mochte, die aber wesentlich ist und am Ende erst die Reaktionen erklärt. Wenn Geopolitik erzählt wird, dann meistens so: Da hat sich eine Seite, die moralisch im Recht ist, gegen einen Diktator oder ein Regime erhoben, und "wir" treten hinzu, um der moralischen Seite zu helfen.

Dass die Instanz, die hinzutritt, also der Westen bzw. das NATO-Bündnis, eigene Absichten und Interessen hätte, Absichten, die dem angeblichen moralischen Aufstand gegen den Diktator zuweilen vorausgegangen wären und den Konflikt möglicherweise erst in Gang gesetzt hätten, das kommt nicht vor. Ich betone: möglicherweise. Kein abschließendes Urteil, eine Option bloß, die von Forschern thematisiert wird.

Auf den Balkankonflikt bezogen kämen hier beispielsweise Quellen und Dokumente mit in die Betrachtung, die radikalislamische Bestrebungen in Bosnien be- oder nahelegen. Das ist kein Rechtfertigungsgrund für irgendeine Grausamkeit (auch nicht als Gegengrausamkeit), aber mit in den Fokus müsste es. Noch entscheidender dürfte der wirtschaftliche Druck, erzeugt durch westliche Institutionen auf die jugoslawische Volkswirtschaft während den 1980ern, gewesen sein, ein Druck, den weite Teile der Bevölkerung massiv zu spüren bekamen und der die Attraktion der jugoslawischen Idee erheblich reduzierte.

Nationalismus entsteht auch in Slowenien und Kroatien nicht aus dem Nichts. Gleichzeitig und in Kombination damit gab und gibt es Hinweise auf Quellen, nach welchen zu schließen bereits vor dem Ausbruch des Konflikts Überlegungen zur Aufteilung Jugoslawiens und damit verbundenen Einflussmöglichkeiten der NATO in diesem bis dahin vom Bündnis nicht belegten Teil Europas existierten. Es mag gute Gründe geben, diese Quellen oder ihre Deutung infrage zu stellen, aber das ist nicht, was geschieht. Stattdessen: Verschweigen.

Die Frage nach dem Cui bono

Die Frage nach dem Cui bono ist denn auch die meist ausgeblendete bei Berichten über Konflikte. So zum Beispiel auch in Syrien. Sie würde Assad bezüglich der Giftgasangriffen strategisch als Irrsinnigen entlarven, schriebe man ihm diese Giftgasattacken zu, von denen er unter keinen denkbaren Umständen auch nur entfernt hätte profitieren können, ganz im Gegenteil. Man kann natürlich eine Irrsinns-Option postulieren, sollte aber die Implikationen transparent machen.

Im Balkankrieg führt die Cui Bono-Frage unmittelbar und augenfällig zur bereits erwähnten Tatsache, dass am Ende der Aufteilung Jugoslawiens die NATO über Militärstützpunkte auf dem Balkan verfügte, die sie zuvor eben nicht hatte. Wenn "die Serben" aber nicht die einseitig Bösen gewesen wären, kann die Intervention der NATO auch nicht mehr im Lichte des ausschließlich Guten erzählt werden - und die über den Krieg erreichte militärische Vormacht auf dem Balkan rückte anders in den Fokus. Nämlich nicht als uneigennütziges Epiphänomen.

So banal ist das und das ist Handkes geopolitisches Sakrileg. In einer geopolitischen Logik, wie sie in den Stellungnahmen Handkes implizit gegeben ist, mag Serbien bzw. die Führung um Milošević (zu bedenken: Handke spricht von Serbien, nie von den Verbänden um Mladić und Karadžić in Srpska) im Krieg das letzte Mittel der Zerfallsverhinderung gesehen haben (wobei der Vertragsentwurf von Rambouillet auch zeigt, wie weit Serbien entgegengekommen wäre, um Krieg zu verhindern, erst als es darum ging, sich als selbstständiger Staat aufzulösen, hat es sich verweigert).

Dass Serbien, im Bestreben den Status Quo zu halten, diesen Krieg lange vorgeplant und angesteuert hätte: das hingegen scheidet aus. Dafür hätten andere viel reizvollere Gründe gehabt, wie die Cui Bono-Frage zeigt. In sämtlichen Urteilen über Handke aber findet sich nicht die leiseste Andeutung von alledem. Cui Bono gibt es nicht. Geopolitik abseits des einen Narrativs auch nicht. So einfach ist das.