Phantomdebatte um Meinungsvielfalt
Wie Regulierungsbehörden die "Meinungsmacht" von Medien ermitteln wollen
Vergangene Woche diskutierte man in der Bayerischen Landesmedienzentrale mit Kartelljuristen, Kommunikationswissenschaftlern und Meinungsforschern "Modelle zur Gewichtung von Medienmärkten". Anlass war das vom BLM-Präsidenten Wolf-Dieter Ring heftig kritisierte "Scheitern" der Übernahme der Sendergruppe durch die Axel Springer AG.
Das Bundeskartellamt und die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) hatten Anfang des Jahres eine Übernahme abgelehnt (vgl. Elefantenhochzeit geplatzt). Rechtsgrundlage war der § 26 des Rundfunkstaatsvertrages RStV, insbesondere die "Sicherung der Meinungsvielfalt" im Fernsehen.
Vorherrschende Meinungsmacht
§ 26 RStV vermutet eine vielfaltsgefährdende "vorherrschende Meinungsmacht" bei 30% Zuschaueranteil oder bei 25% Zuschaueranteil und einer marktbeherrschenden Stellung auf einem medienrelevanten verwandten Markt. Ein dritter Fall liegt vor, wenn eine Gesamtbeurteilung ergibt, dass die Position auf dem Fernsehmarkt und in den medienrelevanten verwandten Märkten zusammen einem Zuschaueranteil von 30% im Fernsehen entspricht.
Bis 1996 enthielt der Rundfunkstaatsvertrag sehr viel strengere Regeln zur Vielfaltssicherung: Pro "Veranstalter" waren nur zwei bundesweit empfangbare Fernsehprogramme erlaubt, davon durfte nur eines ein "Vollprogramm" oder ein "Spartenprogramm Information" sein.
Die KEK postulierte nach einem von ihr nach den Kriterien "Aktualität", "Breitenwirkung" und "Suggestivkraft" entworfenen Rechenmodell einen gemeinsamen Medienmachtsanteil von 42% für Springer und ProSiebenSat.1. Das dabei verwendete Modell wirkte - von den erhobenen Daten bis hin zu den Gewichtungskriterien - relativ willkürlich, und genau das bemängelten auch die von der BLM geladenen Redner wie Wolfgang Werres von TNS Infratest ("nicht nachrechenbar") oder der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Kepplinger ("unwissenschaftlich", "absolut naiv" und "Hochstapelei").
"Scheinbar exakt"
Die Kritikpunkte lagen relativ offen zutage. Will man nicht nur den relativ einfach zu ermittelnden Zuschaueranteil, sondern auch die "Meinungsmacht" genau in Zahlen darstellen ergeben sich einige offensichtliche Schwierigkeiten: Wie kann man die Stellung von Unternehmen auf den verschiedenen Teilmärkten Fernsehen, Presse und Online zu einem Gesamtwert zusammenfassen? Zieht man Kontakthäufigkeit oder Kontaktdauer für eine Bewertung heran? Wie berücksichtigt man die aus der Werbewirkungsforschung bekannten Kontaktqualitäten? Und rechnet man die Überschneidung von Medien als Verringerung oder als Wirkungsverstärker?
Die von der KEK verwendeten Reichweiten- und Marktanteilsinterpretationen sind keine Messung von Medienwirkung - dort werden nicht einmal die Medieninhalte berücksichtigt. Kepplinger verglich das Verfahren forschungslogisch mit dem "Versuch, die Wirkung von Medikamenten nicht am Genesungsgrad von Patienten, sondern am Absatz der Präparate zu bestimmen". Das Zuschaueranteilsmodell und das Reichweitenmodell führten laut Kepplinger dazu, dass "vorherrschende Meinungsmacht im Sinne von § 26 Abs. 2 RStV ohne ausreichende Datengrundlage "scheinbar exakt" beziffert werde.
Eine weitere Schwäche des Modells war, dass die KEK zwar eine Definition von "Meinungsmacht" hatte ("Einfluss der Medien auf Meinungen"), aber nicht von "Meinung". So kam es auch zu Kritik an der Tatsache, dass die Kommission Musiksender und Zeitschriften wie die ADAC Motorwelt nicht als "meinungsbildend" ansah und in ihren Berechnungen nicht berücksichtigte.
Der Kommunikationswissenschaftler Hans-Bernd Brosius wies deshalb darauf hin, dass in Unterhaltungssendungen wie "Deutschland sucht den Superstar" wesentlich prägendere Inhalte vermittelt werden als in Nachrichtenmedien und der Medienforscher Wolfgang Schulz flankierte diese Feststellung mit dem Hinweis auf "subtile Kultivierungseffekte die langfristig relevant sind".
Zusammenhänge zwischen Medienangeboten und Meinungsänderungen kaum berechenbar
Ohne praktisch kaum realisierbare Feldstudien mit Experimental- und Kontrollgruppen lassen sich Zusammenhänge zwischen Medienangeboten und Meinungsänderungen nicht berechnen - und so überraschte es wenig, dass auch die alternativ angebotenen Berechnungsmodelle ähnlich wenig überzeugend waren wie das Modell der KEK. Der "Media-Forscher" Michael Hofsäss vertrat ein Modell der deutschen Werbewirtschaft zur Erforschung von Mediennutzung (ag.ma) und wollte mit der nicht weiter erklärten Formel "LpSPZ = LpSTZ = Ø Std. Sehbeteiligung TV" sowie dem als Werbewirtschafts-Zauberwort eingesetzen "GRP" (Gross Rating Point - der Anteil aller erreichten Personen multipliziert mit der durchschnittlichen Ansprachehäufigkeit) ein besseres Berechnungsmodell liefern.
Hofsäss bot ein beeindruckendes Beispiel der Schwächen seines Gewerbes, als er zugab, dass er in seinen Erhebungen gar nicht nach Werbung fragt, wenn er deren Wirkung "erforscht", weil dann seinen eigenen Angaben zufolge nur rauskommt, dass die "in Deutschland niemanden interessiert".
So kamen die Teilnehmer je nach Berechnungsmodell auf völlig unterschiedliche Anteile an der "Meinungsmacht". Bemerkenswert daran war, dass nicht nur die Meinungsmacht der Axel Springer AG und der ProSiebenSat.1 AG regelmäßig weit über der gesetzlich zulässigen Schwelle lag, sondern auch der für die Bertelsmann AG, der mit 27% (davon 25,2% allein RTL-Gruppe), 34%, 37% und 79 % angegeben wurde.
All die byzantinischen Berechnungsmodelle ließen jedoch eine zentrale Frage unberührt: Wo steckt eigentlich die Meinungsvielfalt, die es zu schützen gilt?
Meinungsvielfalt im TV?
Kepplinger zitierte eine von ihm durchgeführte Studie, wonach Fernsehen nicht nach politischer Grundhaltung selektiv genutzt wird. Vielleicht liegt der Grund darin, dass beim Fernsehen eine solche selektive Nutzung gar nicht möglich ist, weil es dort gar keine solchen Unterschiede gibt. Nicht einmal wurde auf der Veranstaltung die Gretchenfrage gestellt, wo sie denn eigentlich ist, die Meinungsvielfalt im Fernsehen. Ebenso wenig kam ein einziges Beispiel für divergierende Positionen von Sendern oder von Themen, die im Fernsehen gar nicht zu Sprache kommen.
Wo ist der Unterschied zwischen Pro7, RTL und ZDF, zwischen "Verliebt in Berlin" und "Sturm der Liebe", zwischen "Explosiv" und "Brisant", zwischen Beckmann, Kerner und Konsorten?
Volkes Stimme, wie auch die des Ex-Kanzlers, fasst die "Glotze" nur als ein Medium zusammen (während sie Bild und BamS trennt). Und sogar der Deutschlandradio-Intendant Ernst Elitz schlug im Tagesspiegel vor, man solle "den ganzen Brei aus Volksbelustigung, Sport und Schmusetalk als Dauerwerbefläche deklarieren".
Tatsächlich sind sich die Fernsehsender nicht nur bei den Formaten, sondern auch bei der Auswahl, Darstellung und Bewertung von Nachrichtenereignissen bemerkenswert ähnlich: In der Debatte um die EU-Verfassung gab es sogar in der Bild-Zeitung mehr Meinungsvielfalt als im deutschen Fernsehen. Regelmäßig werden Medienhypes von allen Sendern in ähnlichem Duktus gebracht. Auch wenn Sie sich später als grob falsch herausstellen, erfolgte keine Aufarbeitung - weder in der eigenen, noch in anderen Sendeanstalten. Und nicht nur das Meinungs-, auch das Themenspektrum ist relativ geschlossen - viele gesellschaftlich relevante Entwicklungen kommen im Fernsehen gar nicht vor.
Wo ist die in den 80ern versprochene größere Vielfalt?
Dabei war das Kabel- und das Privatfernsehen in den 1980ern vor allem mit dem Hinweis auf größere Vielfalt durchgesetzt worden - ein Argument das weitläufig überzeugte. Auch der damals 26jährige Diedrich Diederichsen glaubte an diese versprochene Vielfalt und stellte sich die Medienzukunft vor der Einführung des Privatfernsehens wie folgt vor1:
Wenn ich einmal alt wäre, käme es mit der Regelmäßigkeit und Häufigkeit, die für Greise typisch ist, zu folgender Szene: Die Schar der Enkel besucht den Opa, und der erzählt von früher. Von der schlimmen Zeit, 1983-95, damals unter Kohl, und was sie im Atomkrieg alles durchmachen mussten, und wie froh sie waren als es vorbei war, und wie es dann erst mal nichts zu essen gegeben hätte und so weiter. Aber anschließend würde ich resümieren: 'Eines, Kinder, eines muss man dem Kohl ja lassen. Er hat ja die Kabel gelegt, nicht wahr, er hat ja die Kabel gelegt.' Und die Kinder würden es nicht mehr hören können.
Doch statt der in den 1980ern versprochenen größeren Vielfalt entwickelte sich ein von Oligopolen kontrolliertes und bis auf regelbestätigende Ausnahmen homogenisiertes Medium. Rings Kritik, dass die Vorbehalte gegen Springers Meinungsmacht eine "Debatte aus den Sechzigern" seien, hat deshalb mehr Realitätsgehalt als ihm lieb sein kann: mittlerweile spricht sogar die Bild-Zeitung - zwar aus dem Glashaus heraus, aber keineswegs zu Unrecht - vom "Doof-TV".
Regulierung gegen und für Medienkonzerne
Die Tatsache, dass es keine Meinungsvielfalt in der deutschen Fernsehlandschaft mehr gibt, liegt zu einem großen Teil im Verantwortungsbereich der Landesmedienanstalten. Irgendwann in den 1990ern verschwand die Meinungsvielfalt in einer Abwärtsspirale, als sich die öffentlich-rechtlichen Sender auf der Suche nach Quoten und Werbekunden immer mehr den privaten Abwärtsschrittmachern anpassten, und sich schließlich auf dem niedrigsten Niveau trafen.
Dies führte auch zum Niedergang ganzer Formate wie der historischen Dokumentationen oder der "Wissensmagazine" für die heute die Namen Guido Knopp und Galileo stehen (vgl. Gralssuche auf Pro Sieben). Während die Sender Qualitätsangleichung nach unten betrieben, war von dem geplanten "Mitentwickeln" und "Mitgestalten" des Privatfernsehens durch die Landeszentralen wenig zu sehen. Bei der BLM "prüft" man noch heute einen Keller voll Kisten mit in den 1990ern gegen die Auswüchse eingegangenen Unterschriften, ohne je gegen die Entwicklung eingeschritten zu sein.
Tatsächlich liegt BLM-Chef Ring der Investitions- mindestens so sehr wie der Publikumsschutz am Herzen, was in einem von ihm auf der Veranstaltung verwendeten Johannes-Rau-Zitat deutlich wurde:
Ohne eine gewisse Konzentration von wirtschaftlicher Medienmacht sind große Fernsehprojekte nicht finanzierbar. Und ohne finanzstarke Medienkonzerne hat die deutsche und europäische Medienwirtschaft keine Chance, im globalen Wettbewerb mit den weltweit operierenden amerikanischen und japanischen Medienunternehmen [zu] bestehen.
In der "vertikalen Integration" - der Entwicklung, dass Netzbetreiber zu "Inhalteanbieter" werden wollen, sieht Ring deshalb "Chancen". Obwohl sogar das BLM-Organ "Tendenz" zu dem Schluss kam, dass bei Mobile TV durch die intransparenten Kostenmodelle kein planbares Kostenmanagement möglich ist2 hält Ring hier keine Regulierung für notwendig.
Stattdessen ist er der Auffassung "dass der Markt die Entwicklungen stärker bestimmt als in der analogen Zeit" und dass deshalb der Einfluss der Medienaufsicht geringer werden müsse. Wo und wie bei den neuen Feudalrechten der Netzbetreiber "Markt" entstehen soll, ließ er offen.
Internet - Gefahr für Oligopole und Monopole
Mehr Meinungsvielfalt als im Fernsehen findet sich im Internet, das zu einem weitaus geringeren Anteil von den großen deutschen Medienkonzernen kontrolliert wird. Wie andere technische Alternativen ist es eine potentielle Gefahr für Oligopole und Monopole. Anfang des 20. Jahrhunderts etwa konnte erst der motorisierte Fernverkehr als technische Alternative nach und nach die lange bekämpften Eisenbahnmonopole in den USA brechen.
Monopole und Oligopole reagieren bislang auf zweierlei Arten auf diese Gefahr: Entweder sie investieren in die neue Technologie und verzögern sie (wie es etwa RCA mit einem Patent auf die FM-Radiotechnologie gelang) oder sie setzen ihren politischen Einfluss ein, um die Gefahr möglichst weitgehend zu regulieren. Letzteres scheint derzeit in der deutschen Medienlandschaft der Fall.
Durch den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag von 2003 sicherten sich die Landesmedienanstalten ein Kontrollrecht für das Internet, das sie an die von Ring geführte Kommission für Jugendmedienschutz weitergaben. Hier ist Ring - ganz im Gegensatz zu seinen obigen Äußerungen zum Fernsehen - durchaus für mehr Regulierung. Während er im TV nur "seriöse Anbieter" sieht, die "inhaltliche Anforderungen" einhalten und deshalb nicht umfassend kontrolliert werden müssten, will er gegen Netzinhalte "ordnungspolitisch energisch vorgehen" - ein Schelm, wer dahinter die Lobbyinteressen der Medienkonzerne vermutet.
Um tatsächlich Meinungsvielfalt zu sichern, ist es wenig effektiv, Fusionen in bereits weitgehend homogenisierten Bereichen zu verbieten. Sinnvoll wäre stattdessen die Schaffung eines Ordnungsrahmens beziehungsweise eines Klimas, das Meinungsvielfalt innerhalb der noch nicht homogenisierten technischen Alternativen schützt: Konkrete Regelungen wären beispielsweise eine gesetzliche Verankerung der Netzneutralität (vgl. US-Abgeordnete legen weiteren Gesetzentwurf zur "Netzneutralität" vor), eine Anpassung des deutschen Abmahnrechts und der Jugendschutzregelungen an europäische Standards und eine Klärung von unbestimmten Tatbeständen. Darüber allerdings wurde auf der Veranstaltung der Bayerischen Landesmedienzentrale zur Sicherung der Meinungsvielfalt nicht gesprochen.