Philosoph Sloterdijk lobt Grenze und Nationalstaat

Ungarischer Grenzzaun als Vorbild 2015. Bild: Bőr Benedek/CC-BY-SA-2.0

Die Regierung habe Deutschland der "Überrollung preisgegeben": Sloterdijk grenzt sich wenig überzeugend vom "AfD-Ideen-Müll" ab

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Wir brauchen Grenzen, möglichst dichte, um die "Invasoren", die sich als Flüchtlinge gebenm abzuwehren. Bislang hatte sich Frauke Petry von der AfD noch geziert, was das Hochziehen von Grenzen zur Flüchtlingsabwehr bedeutet. Jetzt sagte die muntere AfD-Chefin aus Ostdeutschland dem Mannheimer Morgen, man müsse mehr Polizisten einsetzen und "Grenzsicherungsanlagen" aufbauen, so hoch wie in den spanischen Enklaven. Sie will das Wort Zaun vermeiden, in Melilla und Ceuta ist der Zaun aus messerscharfem "Nato-Draht" sieben Meter hoch. Mitunter verbluten Flüchtlinge an ihren Wunden. Wenn jemand die Grenze übertritt, dann muss ein Polizist nach Petry notfalls von der Waffe Gebrauch machen: "Er muss den illegalen Grenzübertritt verhindern, notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen. So steht es im Gesetz." Dafür wurde Petry kritisiert, obgleich sie nur die Konsequenz der neuen Grenzzieher beim Namen nannte. Jörg Radek, der Vizevorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, erklärte: "Kein deutscher Polizist würde auf Flüchtlinge schießen." Wer ein solches radikales Vorgehen vorschlage, wolle offenbar den Rechtsstaat aushebeln und die Polizei instrumentalisieren. In die Grenzzieher hat sich nun auch Deutschlands Meisterphilosoph Peter Sloterdijk eingereiht, er ist aber, auch dank der Journalisten, die ihn befragen durften, im Nebulösen verblieben.

Die Positionierungen im alles beherrschenden Flüchtlings- und Grenzstreit werden allmählich deutlicher. Mittlerweile nehmen sich auch manche Intellektuelle des Themas an, das alles andere verdrängt. So warf gerade der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Gespräch mit der Zeitschrift Cicero der Regierung vor, Deutschland "in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben" zu haben: "Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter." Das verbindet er mit "Selbstzerstörung" des Nationalstaats. Um dann noch "phobokratisch", wie man es mit ihm nennen könnte, nachzuschieben: "Bis zum Ende unseres kurzen Gesprächs werden tausend Flüchtlinge mehr die Grenze überschritten haben." Wenn man von veröffentlichten Zahlen ausgeht, nach denen im Januar pro Tag durchschnittlich 2500 Migranten eingereist sind, dann hätte das "kurze Gespräch" fast 10 Stunden dauern müssen.

Journalisten, allseits und besonders in AfD- und Pegida-Kreisen unbeliebt, kommen bei Sloterdijk gar nicht gut weg. Er versichert sogar, dass "Lügenpresse" ein verharmlosender Begriff sei. Die Journalisten vom Cicero lassen das wie fast alles, was Sloterdijk - "Deutschlands wichtigster und kreativster Philosoph" tituliert - sagt, unhinterfragt. Ein Wider- oder Einspruch ist nicht vorgesehen, so dass man Sloterdijks Verachtung der Journalisten in dem Fall nachvollziehen könnte, wenn er sie nicht bezichtigte, sich für das "Sich-Gehen-Lassen" durch "zügellose Parteinahme" bezahlen zu lassen. Das kann man ihnen wirklich nicht vorwerfen. Sie entsprechen damit auch nicht dem Bild der europäischen "kritischen Intelligenz", der Sloterdijk vorwirft, "reflexhaft fixiert auf den Zwang zur Auflehnung gegen Macht und Mächtige" zu sein.

Den Politikern, die in der "wahrheitslosen Sphäre" arbeiten, könne man prinzipiell kein Vertrauen schenken, schon davon nur zu sprechen, heiße, "dem habituellen Betrug Spielräume" zu sichern: "Der Lügenäther ist so dicht wie seit Tagen des Kalten Kriegs nicht mehr" - ausgenommen selbstverständlich seine Person. Dort, wo die Lügenpresse abgelehnt, aber manchen verwegenen Publikationen wie Compact und durchaus auch staatlichen russischen Medien geglaubt wird, und wo den Politikern, die nicht auf der eigenen Seite stehen, ebenso pauschal nicht geglaubt wird, wird derselbe Vorbehalt nur etwas einfacher ausgedrückt. Sloterdijk immerhin fordert Neutralität, die er als Philosoph offenbar aber selbst nicht pflegt, dafür aber offenbar pauschal vermisst, wenn er von "Verwahrlosung des Journalismus" spricht.

Mit so viel Generalisierung ist er schon ziemlich nahe bei der AfD und den Geistesströmungen, die sich um sie scharen. Schon mit der früheren AfD, also sie noch die Anti-Euro-Professorenpartei unter Lucke war, geht Sloterdijks Ablehnung des Euro als "Zwangsvergemeinschaftung" überein. Daraus folge eine Entfremdung der Länder. Die daraus entstehenden "neuen Nationalismen", man wird sie mit der AfD oder der Ukip, aber auch mit Front National, der Lega Nord, der FPÖ oder der PVV verbinden dürfen, attestiert der Philosoph "lokale Notwehr". Die in der Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheiten" (ENF) zusammengeschlossenen Rechtsparteien hatten sich gerade in Mailand getroffen

Sloterdijks langjähriger Assistent Marc Jongen, der noch an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe ist, sich als Teil einer "konservativen Avantgarde" versteht und stellvertretender Landesvorsitzender sowie Mitglied der Bundesprogrammkommission der AfD ist, wird von der konservativen Faz als "Parteiphilosoph der AfD" gefeiert. Er will wie seine Partei die "Dekonstruktion von Familie und Volk verhindern" will und hat auch keine Schwierigkeiten mit Höcke und empörten oder wütenden AfD-Anhängern. Sloterdijk ist intelligent genug, sich nicht der Rüpelpartei oder überhaupt einer Partei anzuschließen. Allerdings scheint er sich wie sein Freund Rüdiger Safranski der Position der AfD und ähnlicher Geistesströmungen weit genug angenähert zu haben und könnte als eigentlicher Philosoph der AfD fungieren. Das weist er allerdings weit von sich, er möchte mit dem "AfD-Ideen-Müll" nichts zu tun haben. Nähen sind gleichwohl nicht auszuschließen und irgendwie werden sich Jongen vor seinem Antritt bei der AfD und Sloterdijk wohl auch zunächst nicht ganz uneinig gewesen sein.

Gleichwohl wird im neurechten Jargon die Regierung des "Souveränitätsverzichts" bezichtigt, weil sie die Grenzen nicht abdichtet. Da ist der Schritt nicht weit zur AfD und Co., aber auch zum Staatsrechtler Carl Schmitt und seiner Verklärung des Ausnahmezustands, mit dem die Verfassung ausgehebelt wird: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Der Philosoph verweist denn auch darauf und meint affirmativ mit Blick auf Walter Benjamin, der kritisch anmerkte, das Proletariat erlebe den Ausnahmezustand täglich, dass heute der Flüchtling über den Ausnahmezustand entscheidet. Und Sloterdijk macht sich auch noch die Theorie der in rechten Kreisen kursierenden Vermutung zu eigen, dass es sich um eine gewollte Einwanderungswelle handelt. Man werde bald lesen können, sagt, wer die Flüchtlingswelle "gelenkt" hat. Keine Nachfrage der Journalisten.

Sloterdijk stimmt nun in ein "Lob der Grenze" ein, verklärt den Nationalstaat, ohne ihn weiter zu erklären, und geißelt die offenbar verruchten Deutschen, die der Ansicht sein sollen, dass eine Grenze nur dazu da sei, "um sie zu überschreiten". Tatsächlich könnte es sein, dass die Deutschen wenig Lust auf einen neuen Mauerbau haben und nicht den Einschluss in den Nationalstaat erträumen, sondern am grenzenlosen Schengenraum der EU gerne festhalten würden - politisch, kulturell und auch ganz egoistisch wirtschaftlich. Der Tod des Schengensystems wurde denn auch von den rechten Parteien in Mailand ausgerufen wie ein "neues Europa" der Nationalstaaten. Da ist dann auch gerne die Rede von der Souveränität. Le Pen feierte dort wie Sloterdijk den Nationalstaat gegen manche, in der rechten Szene wie der Lega Nord auftretende Abspaltungstendenzen:

Ich glaube an die Nationen. Die Nation ist nicht nur eine territoriale Einrichtung, sie besteht aus Geschichte, Kultur und Vielfältigkeit. Es können zwar Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bestehen, doch die Nation, die die Souveränität hält, ist die beste Struktur, um unsere Völker zu schützen.

Marine Le Pen

Starkwandige Grenzen als Heilsversprechen

Sloterdijk kritisiert die "postmodernisierte Gesellschaft", die einen Zustand "jenseits von Grenzschutz" erträume und in einem "surrealen Modus der Grenzvergessenheit" edxistiert. Da frägt man sich schon, wo der Philosoph lebt, wenn er mit der "postmodernisierten Gesellschaft" nicht nur die EU nach dem Fall der Mauer meint. Mangels Nachfrage der Journalisten muss man davon ausgehen, dass der Philosoph nicht die zahlreichen Staaten meint, die sich seit Jahren emsig bemüht haben, Grenzen zu schließen und Mauern zu bauen. Und Sloterdijk träumt von schönen, gesicherten gated nations, wenn er bedauert: "Wo früher starkwandige Grenzen waren, sind schmale Membranen entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen."

Hier war noch alles gut in Berlin 1986. Bild: Florian Schäffer/ CC-BY-SA-3.0

Sloterdijk scheint die in den rechten Kreisen wuchernde Phantasie befördern zu wollen, dass das Leben in den bestehenden Nationalstaaten mit gesicherten Grenzen irgendwie besser ist. Es werde sich der "territoriale Imperativ" wieder durchsetzen, auch bei Merkel. Deren "Reserven an Opportunismus" seien nicht zu unterschätzen, sie werde halt, was sich ja auch abzeichnet, für Obergrenze und Grenzschutz andere Worte finden.

Was der Philosoph unter Grenzschutz versteht, wie er denn zwischen Asylrecht und Einwanderungsrecht unterscheiden will, wie viele Einwanderer ein Land vertragen kann (Sloterdijk zitiert George: "Schon eure Zahl ist Frevel"), ob Grenzen nur die Bewegung von Menschen oder auch die von Waren, Geld und Informationen kontrollieren und wohl vor allem begrenzen sollen - all das bleibt in dem Cicero-Gespräch, also im "Magazin für politische Kultur" - mit den braven Journalisten offen. Sloterdijk hätte vielleicht noch einiges näher erläutern und differenzieren können. Aber das war möglicherweise auch nicht erwünscht. Cicero propagiert danach schließlich "Merkels Masterplan", den "unsere Autorin" Gertrud Höhler angeblich kennt. Merkels Vision sei nämlich: "Deutschland als Vielvölkerstaat, in dem Religion und Herkunft geschliffen und nivelliert werden." Und dann galoppiert die Cicero-Autorin munter im verbalen Überschwang davon: "Das Integrationsmarketing simuliert derweil den Marathon der Integration in diesen Vielvölkerstaat als Sprint."

Kleine Anmerkung: Von fast 81 Millionen Deutschen hatten nach dem Statistischen Bundesamt bereits 2014 16,4 Millionen einen Migrationshintergrund, also etwa 20 Prozent. Die Stadt München, die derzeit nicht gerade von Deutschen gemieden wird und auch keine sonderlich hohe Kriminalitätsrate aufweist, berichtet: "Von den 1,4 Millionen Münchnern haben über ein Drittel (37,7 Prozent) ihre Wurzeln in aller Herren Länder - das sind mehr als 530000 Menschen." Wollen Sloterdijk und Co. diese urbane Kultur, die eigentlich dem als Horrorvision von Höhlers Vielvölkerstaat gleicht, zurückdrehen?

Grenzenlosigkeit wurde und wird auch nicht nur von Rechten als Problem gesehen. Vor fast 20 Jahren organisierte Ernst Ulrich von Weizsäcker beispielsweise einen interdisziplinären Kongress des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen zum Thema "Grenzen-los?" Damals ging es allerdings eher kritisch gegen eine Zivilisation, die westliche, "in welcher die Überwindung von Grenzen zum Fortschrittssymbol geworden und geradezu zum moralischen Imperativ hochstilisiert worden ist", man angesichts des Globalisierungsprozesses einen Verlust der Vielheit fürchtete und die "segensreichen Systemeigenschaften von Grenzen" entdeckte. Die Frage war allerdings, wie durchlässig Grenzen sein müssten, heute geht es eher dahin, schlicht die Grenze oder Mauer also solche einzufordern, um sich vor dem Fremden abzuschotten und ein scheinbar einheitliches Wir gegen die da draußen zu bilden. Sloterdijk hatte es schon mit den Blasen, offenbar sehnt er sich in solche zurück, wo man unter sich ist und den Eingang scharf kontrolliert.