Piratenpartei - virtuell zukunftsfähig, real stets auf der Kippe
Warum Deutschlands Parteien nicht zukunftsfähig sind - Teil 6
So eine junge Partei gab es noch nie in der Bundesrepublik Deutschland. Das Durchschnittsalter ihrer fast ausschließlich männlichen Mitglieder liegt bei etwa 30 Jahren, dagegen sehen die NPD mit 37 und die Grünen mit 46 Jahren alt aus. Auch ihr Werden als Partei umfasst nur einige wenige Jahre: Nach einer kurzen Phase des Sammelns von Anliegen und Interessierten im Internet wurde die Partei im September 2006 formell gegründet. Nahezu aus dem Stand erhielt sie bei der Europawahl vom Juni 2009 knapp 230.000 Stimmen, was einem Stimmanteil in Deutschland von 0,9 Prozent entspricht. Bei der folgenden Bundestagswahl vom September 2009 stimmten knapp 850.000 Wahlbürger für diese Partei, ein Stimmanteil von 2,0 Prozent. Bei den Erstwählern männlichen Geschlechts lag der Anteil gar über zehn Prozent.
Klar, die Rede ist von der Piratenpartei, die ihren Namen vom Vorbild Piratpartiet in Schweden bezieht, das seit Anfang 2006 als aktiv ist und bei den besagten Europawahlen mit 7,1 Prozent ein aufsehenerregendes Wahlergebnis erzielte.
Auch in anderen Ländern erwuchsen Piratenparteien, sie sind im weltweiten Dachverband Pirate Parties International mit derzeit 22 Parteien zusammengeschlossen (zahlreiche weitere Parteigründungen laufen). Sie sind allesamt junge Parteien, sie entstammen dem gleichen, global vorhandenen Milieu der IT, sie wenden den von der Musik- und Filmindustrie zwecks Denunziation eingeführten Begriff der Piraterie positiv, sie sprechen globale sowie in allen Ländern ähnliche Themen mit oft gleichlautenden Forderungen an.
Die augenscheinliche Grenzenlosigkeit der digitalen Revolution auf der einen Seite, die unzähligen Be- und Einschränkungen politischer, wirtschaftlicher, juristischer, sozialer, kultureller, administrativer Natur auf der anderen Seite: In allen Gesellschaften ein stetiges Spannungsfeld, wenn auch in verschiedenster Ausprägung. Mittendrin unzählige junge Leute, gut ausgebildet, selbstbewusst, immer auf dem neuesten Stand, vertraut mit dem gesamten Möglichkeitsspektrum der neuen Technologien, die dabei sind, zum Nervengeflecht einer jeder modernen Gesellschaft zu werden.
Dass sie, die tagtäglichen Allesermöglicher, die begrenzende Wirkung der realen Welt als unnötige Einschränkung empfinden, ist nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund ist wenig überraschend, dass es das Filesharing war, das den Stoff für die erste globale Kontroverse auf diesem Felde lieferte. Und genauso wenig überraschend, dass die Impulse zur Gründung der schwedischen "Piratpartiet" aus den politischen und juristischen Auseinandersetzungen um den BitTorrent-Indexer und -Tracker The Pirate Bay erwuchsen.
Eine zentrale politische Thematik war auf die Agenda gelangt - worin besteht sie? All die unzähligen Einzelfragen lassen sich auf diese fundamentale zurückführen: Sollen oder müssen die Regularien der realen Welt allesamt und maßstäblich auf die virtuelle Welt angewendet werden? Oder bietet die virtuelle Welt als historisch völlig neuartige und äußerst bedeutsame Teilwelt nicht die historische Chance, gleichsam einen Motor für vielfältigste Entwicklungen aller Gesellschaftsbereiche in Gang zu setzen? Entwicklungen, die so offen als irgend möglich gehalten und nur gerade die allernötigsten Regeln, Einschränkungen und Vorgaben erhalten sollten?
Vor Jahrzehnten wurde in politischen Debatten gerne "Sachzwang" als Allzweckkeule gegen jegliche Veränderung geschwungen - nun scheint das genaue Gegenteil auf, als "Sachchance", die Türen zu völlig neuen Ufern aufstoßen soll und kann. Weil die IT-Avantgarde als Protagonist dieser Sachchancen wirkt und allein technische Grenzen denken mag, fühlt sie eine Kluft zum Rest der Gesellschaft.
Angesichts der vor allem von der Politik verkörperten Rückständigkeit, Beharrung und Gängelung drängte sich der Schritt zur politischen Artikulation gleichsam auf. Insofern trägt bereits die Gründung von Piratenparteien ein weit höheres Maß an Zukunftsfähigkeit, allerdings an rein virtueller Zukunftsfähigkeit in sich, als es bei allen anderen Parteien der Fall ist. Ein vielversprechender Anfang bietet jedoch keinerlei Gewähr, dass eine politische Perspektive erlangt wird - und dass diese obendrein stabil ausfällt.
IT- und Netzfragen sind mit zentralen Gesellschaftsbereichen verbunden
Denn rasch erlebte die deutsche Piratenpartei, dass die Strahlkraft des anfänglichen Hypes nachließ, dass ihre Themen im Handumdrehen von anderen Parteien "besetzt" wurden, dass das Tagesgeschäft eine Vielzahl unerwarteter wie mühseliger Anforderungen aufwarf. Bei der Landtagswahl in NRW im Mai 2010 entfielen von 7,76 Millionen gültigen Zweitstimmen 121.000 auf die Piratenpartei, ein Anteil von 1,56 Prozent. Immerhin ist sie damit stärkste der nicht in den Landtag gelangten Parteien. Und steht unmittelbar vor Herausforderungen, an deren Bewältigung oder Nichtbewältigung sich ihr Schicksal entscheiden wird. Zuvörderst steht die Zentralfrage an, ob die Piratenpartei ihre Tätigkeit auf reine IT-, Netz- und Digitalthemen beschränken oder ob sie, in welcher Abfolge und Gewichtung auch immer, ihre Themenbreite und -vielfalt erweitern will.
Angesichts der Tatsache, dass es gleichsam das Nervengeflecht einer modernen Gesamtgesellschaft ist, mit dem Piraten in professioneller Hinsicht als auch interessehalber hantieren, würde die ausschließliche Befassung mit IT-Themen im engeren Sinne die Kluft zum Rest der Gesellschaft zur Isolation treiben. Die Piraten wären dann eine Art Consulting-Gruppe für die bestehende Politik. Würde die Konzentration auf die Kernthematik sich indes mit Offenheit für verwandte Themen paaren, würde dies eine naheliegende als auch geeignete Strategie darstellen. Aufgrund all ihrer Implikationen sind jegliche IT- und Netz-Fragen mit zentralen Gesellschaftsbereichen wie Wirtschaftsleistung und Infrastruktur, Bildung und Wissenschaft, Transparenz und Beteiligung, Verbraucher- und Datenschutz derart eng verknüpft, dass daraus unausweichlich eine sich allmählich verbreiternde Positionierung erwachsen müsste. Für eine junge Partei, die sich gerade erst über das Milieu der Computerfreaks hinauszuentwickeln beginnt, wäre dies ein pragmatisch-sinnvoller Weg.
Indes agieren auch Piraten im politischen System, wie es mit all seinen Eigenarten historisch gewachsen ist, wie es zudem von den etablierten Parteien instrumentalisiert und mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Der lange Weg der Grünen verdeutlicht eindringlich, wie nahe am Scheitern junge Parteien stets agieren. Erschwerend wirken zudem die Besonderheiten, an denen junge Parteien kranken. Obgleich sie Transparenz herstellt (selbst die Sitzungen des Bundesvorstandes sind per Audiostream öffentlich), obgleich sie die unmittelbare Beteiligung der Mitglieder pflegt (die Parteitage versammeln statt Delegierten die Mitglieder), obgleich sie direkten Initiativen gute Chancen auf Berücksichtigung bietet - die Selbstfindung der Piratenpartei pendelt noch zwischen Dilettantenstadel und Überambitionen.
"Regieren Sie doch einfach mit!"
Weil der Bundesparteitag vom Mai 2010 in Bingen keinerlei inhaltliche Weiterentwicklung erbrachte, soll es jetzt der Sonderparteitag Ende November 2010 in Chemnitz richten. Die Teilnehmer sind aufgerufen, dessen Motto "Regieren Sie doch einfach mit!" nun auf Inhalte anzuwenden - Programmanträge (und nicht Formalitäten oder Kleinkram) sollen im Mittelpunkt stehen. Eine Fülle von Anträgen ist eingereicht worden - die zugelassenen Anträge beschäftigen sich nicht allein mit der Kernthematik, sondern auch mit Bereichen wie Energie, Umwelt, Wirtschaft, Außenpolitik oder Gesundheitswesen.
Wenig überraschend, dass das per "LiquidFeedback" betriebene Verfahren auch bunteste Blüten treibt - bis hin zum Irrsinnsantrag, ein "Piratiges Verständnis des Menschen", bestehend aus einer Ansammlung von Platitüden, zu beschließen.
Sich nicht im Sektiererischen zu verzetteln, nicht im Beliebigen unterzugehen, sich über das Milieu der IT-Avantgarde hinaus zu öffnen, das sind die unmittelbaren Aufgaben, an denen diese Partei auch scheitern kann - weitere Bingens würden das politische Aus bedeuten. Was die inhaltliche Ausrichtung angeht, stehen die Piraten nicht allein in Chemnitz, sondern zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor einer von vielen Weichenstellungen, mit denen werdende Parteien unausweichlich und unaufhörlich konfrontiert sind. Eine jede muss halbwegs erfolgreich gemeistert werden, damit das eigene Profil substanziell gebildet und überzeugend vertreten, von der Öffentlichkeit wahrgenommen und von Wählern anerkannt werden kann.
Ein produktiver Ausgang des Sonderparteitages wäre, wenn die skizzierte strategische Option ausgefüllt würde, als Gestaltungskraft der digitalen Revolution "die Gefahren der Technologie abwehren und die Chancen nutzen". Zuvörderst, weil sie auf der Hand liegt und einlösbar erscheint. Denn in diesem Themenfeld sowie bei der allmählichen Erschließung von Nachbarthemen können die vorherrschenden Denkweisen unter den Piraten der ersten Generation, vor allem das Vertrauen auf "rationales" Vorgehen und die Fokussierung auf technische Lösungen, noch adäquat sein.
Bei der Ausfüllung der inhaltlichen Positionen kommt als Besonderheit zum Tragen, dass es kaum "Interessen" gibt, die Positionen gleichsam zwingend definieren. Dies ist Herausforderung und Chance zugleich: Zwar muss jegliche Klärung unter den politisch Unerfahrenen höchst mühsam ausgehandelt werden, dafür aber könnten die erarbeiteten Positionen tatsächlich "vorn" liegen, also dort, wo sich die Piraten auf die Frage nach ihrem Platz in der Parteienlandschaft selbst verorten.
Einen Anzeiger, wie es gehen könnte, liefert ein Positionspapier zur Thematik der Energieversorgung, das die Grundsätze "Nachhaltigkeit, Transparenz, Bürgernähe und Bürgerbeteiligung, Vermeidung von Monopolen und freien Zugang zu Ressourcen" zu konkretisieren sucht. Es fordert die "Reduzierung von Verbräuchen gepaart mit Effizienzgewinnen", die "Dezentralisierung der Energiegewinnung und -verteilung" als auch Offenheit für "grenzüberschreitende Großprojekte - beispielsweise internationale Verbunde von Windkraftanlagen und Verteilungsnetzen, Desertec und ITER", "die Stromerzeugung durch Kernspaltung in Atomkraftwerken mittelfristig unter Einhaltung des Atomausstiegsvertrags zu beenden", des weiteren "heterogene Strukturen und fairen Wettbewerb nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft unter staatlicher Aufsicht". Ein "nationaler Energieplan" soll Wege und Ziele nach politischen Prioritäten und nicht nach wirtschaftlichen Interessen festlegen: Bis 2040 soll mehr als die Hälfte des Energiebedarfs aus regenerativen Ressourcen gedeckt werden.
Ein solches Herangehen, das als pragmatisch-radikal gelten kann, auf möglichst viele Gesellschaftsbereiche angewendet, erlaubte der Piratenpartei, über die Zeit sogar die anspruchsvollere strategische Option zu erschließen - eine "richtige" Partei zu werden, die Zuständigkeit für alle Themen nicht bloß beansprucht, sondern unter Beweis stellt. Und zwar so unter Beweis stellt, dass angemessene Antworten für die Herausforderungen entwickelt werden. Um eine solche, weit über die reine Digi-Partei hinausgehende politische Bedeutung für die Gesellschaft und damit Zukunftsfähigkeit zu erlangen, müsste die Piratenpartei zwei Weichenstellungen ausfüllen.
Gestaltung der digitalen Revolution als Kernprojekt?
Zum einen muss sie über die Beschränkungen ihres bisherigen Kernmilieus hinausgehen. Kann sich jemand vorstellen, dass die jungen männlichen Computerfreaks Themen wie Kinderbetreuung, Familienpolitik oder Alterssicherung angemessen erörtern? Oder der Zugang zur Partei: Wer als Interessierter etwas von der Partei erfahren möchte, muss äußerst netzerfahren sein - oder wird scheitern. Bleibt sie bei ausschließlicher Verankerung in der digitalen Avantgarde, wird die Partei kaum je breitere Bedeutung gewinnen.
Zum anderen müssen Konzepte erwachsen, wie die digitale Revolutionierung der Gesellschaft zu besseren Lösungen für wenigstens einige, am besten viele der bestehenden, absehbaren und kommenden Herausforderungen verhelfen könnte. Wären diese beiden Säulen mit Leben erfüllt, könnten die Nerds auf mittlere Sicht ein gesellschaftliches Zukunftsprojekt von Bedeutung anstoßen. Ein Zukunftsprojekt, für das anderen Parteien Kompetenz und Kraft abgehen.
Zukunftsmusik, denn derzeit mangelt es in jeglicher Hinsicht an den Grundlagen, ob inhaltlich, personell oder organisatorisch. Deshalb sollte die Partei auch nicht auf Hypes setzen oder gar in die von Medien eröffneten Nebenschauplätze hineinirren. Weder das krampfhafte Anpappen überholter Etiketten wie "linksliberal" (Julia Seeliger im Taz-Blog) noch die Überhöhung zur "ersten digital-sozialen Bewegung" (Frank Schirrmacher in der FAZ) sind relevant für die Piraten.
Sollte sich die Partei im Werden davon verleiten lassen, könnten die Allesermöglicher schon jetzt alles versemmeln. Wenn der Sonderparteitag in Chemnitz nicht die gebotene inhaltliche, bedachtsam erweiterte Positionierung bringt, könnte die Partei ihre Zukunft schon hinter sich haben.