Plagiatsvorwürfe auf dünnem Eis: Der Fall Ulrike Guérot

Seite 2: Enthalten Guérots Bücher Plagiate?

Gewiss können die drei Bücher, auch wenn sie also keine Plagiate sind, durchaus solche enthalten. Von zehn durch die Kommission für Verdachtsfälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens bemängelten Stellen in "Wer schweigt" sind:

• Vier Stellen völlig korrekt bei einem Sachbuch/einem Essay, nämlich die Wiedergabe von Zitaten bzw. Aussprüchen (Albert Einstein, David Hume, Arno Gruen, Christian Angermayer) unter Nennung des Autors und ohne Angabe der genauen Fundstelle;

• Eine weitere Stelle, offenbar eine Paraphrase eines Textes (offenbar der Klappentext eines Buches von Paul Watzlawick), ohne Anführungszeichen, die sich aber noch in akzeptablen Grenzen hält, was die sprachliche Übereinstimmung mit der Originalformulierung angeht.

Vereinzelt zu wörtliche Wiedergaben

Anders stellt sich das bei folgenden Passagen dar:

• Ein aus Wikipedia wörtlich zitierter Halbsatz ohne Quellennennung; das lässt sich als Bagatellverstoß betrachten.

• Ein fast vollständig wörtlich übernommener Satz aus einem Buch (von Marina Garces) ohne Anführungszeichen und Quellenangabe.

• Zwei aus dem Französischen übersetzte Sätze, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus einer Übersetzungsquelle stammen (Michael Mannheimer), die nicht genannt wird.

• Eine leicht umformulierte, aber angesichts fehlender Anführungszeichen zu wörtliche Wiedergabe eines Textes (von Heinrich Popitz) in drei Sätzen. Die Kommission für Verdachtsfälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens moniert hierbei, dass Ulrike Guérot ein nicht existentes Werk des Autors als Quelle angegeben habe. Tatsächlich verweist sie auf kein spezielles Werk, sondern nur auf ein Erscheinungsjahr – bei dem die letzte Ziffer falsch sein könnte, was aber nichts mit Plagiieren zu tun hat.

• Und schließlich, quantitativ am bedeutsamsten, die Wiedergabe einer längeren Passage aus einem Buch (von Paul Watzlawick), der dabei seinerseits zwei literarische Werke zitiert. Ulrike Guérot kennzeichnet dabei einige wörtliche Übernahmen (Watzlawicks) nicht und übernimmt dessen Textaufbau.

Die Sicht des Verlages: Geringfügige Korrekturen ausreichend

Wie der Westend Verlag mitteilte, genügten aus seiner Sicht geringfügige Korrekturen für künftige Auflagen: "Vier Anführungszeichen an zwei Sätzen im Text wurden ergänzt und die Quellen benannt."

In Republik werden ebenfalls zehn Stellen bemängelt. Bei einer elften handelt es sich um eine Dopplung, was auf mangelnde Sorgfalt seitens der Kommission für Verdachtsfälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens hindeutet.

In drei Fällen geht es um die oben erwähnte Übernahme aus Texten von Lucke und Greffrath. Auch bei Nennung der Quellen besteht das Problem, dass zu viele Formulierungen wörtlich übernommen sind, ohne sie als direktes Zitat zu kennzeichnen, sodass man nicht mehr von Paraphrasen in eigenen Worten sprechen kann.

Quellenangaben vorhanden, aber nicht präzise platziert

Bei einer Greffrath-Stelle findet sich das in so erheblichem Umfang, dass der Hinweis in einer Endnote, viele "wörtliche Anleihen genommen" zu haben, "die nicht im Einzelnen markiert" sind, das nicht zu heilen vermag.

Bei drei Passagen entsprechen über ein bis drei Sätze Formulierungen dem jeweiligen Original (von Stefan Collignon, Oskar Negt beziehungsweise Olaf Asbach) ganz oder fast wörtlich, ohne als direktes Zitat gekennzeichnet zu sein. Gleichzeitig sind die dazugehörigen Quellenhinweise im Text beziehungsweise im Anmerkungsapparat zu finden, dort jedoch nicht präzise platziert.

Ein Satz ist wörtlich sehr nah an eine nicht erwähnte Quelle (von Olaf Asbach) angelehnt. Zwei Stellen (mit zwei beziehungsweise vier Sätzen) entsprechen (fast) wörtlich je einem Wikipedia-Eintrag, ohne dass dieser genannt wäre.

Bei einer ist eine längere Passage so gut wie wörtlich einer Originalquelle (von Annette Kuhn) entnommen, allerdings nicht als direktes Zitat gekennzeichnet.

Indirekte Rede oder Zitat ohne Anführungszeichen?

In "Bürgerkrieg" werden sieben Stellen moniert. Bei zwei indirekten Zitaten (von Hannah Arendt) entspricht ein Satz stark dem Wortlaut des Originals. Das ist allenfalls als Bagatelle zu werten.

Ein Satz ist dem aus einer Originalquelle (von Giorgio Agamben) sehr wortähnlich, ohne dass diese Quelle an genau diesem Punkt genannt wird.

Eine Passage ist stark an einen Wikipedia-Eintrag angelehnt und übernimmt ihn in mehreren (Halb-)Sätzen wörtlich, ohne ihn anzuführen.

An drei Stellen wird Sekundärliteratur (von Wolfgang Heuer beziehungsweise Antje Büssgen) zu Autoren teils wörtlich zitiert, ohne dass dies jeweils als direktes Zitat gekennzeichnet oder die Quelle konkret dazu genannt worden wäre.

Einordnung

Den meisten der Stellen, die tatsächlich problematisch sind, liegt im Wesentlichen das gleiche Vorgehen zugrunde: Weder wurde korrekt wörtlich zitiert noch der Inhalt in eigenen Worten wiedergegeben. Für eines von beiden hätte sich Ulrike Guérot in diesen Fällen aber entscheiden sollen.

Das Zitat in Anführungszeichen bringt in der Regel mit sich, dass man die dazugehörige Quelle an die richtige Stelle setzt beziehungsweise dort erwähnt. Und wenn einem während des Schreibprozesses das Volumen des in Anführungszeichen stehenden Textes zu groß erscheint, müsste man sich zur Umformulierung durchringen.

In diesem Bereich der Texterstellung geht Schnelligkeit zuweilen vor Gründlichkeit – und das betrifft Ulrike Guérot nur als eine unter vielen. Wer allerdings als kritische Stimme unter "besonderer Beobachtung" steht, darf sich derartige Verfehlungen noch weniger erlauben als andere.

Was ist ein Plagiat im eigentlichen Sinn?

Elmer und Soiland sprechen von einem "Plagiat im eigentlichen Sinne […], wenn darunter die Aneignung fremden Gedankengutes verstanden wird" (Tabellarische Kommentierung durch Lydia Elmer/Tove Soiland, 2023).

Also einem Ideenplagiat durch fehlende Quellennennung, dem, nach verbreiteter Einteilung, das Verbalplagiat gegenübersteht. Wo also nur Formulierungen kopiert wurden, ohne sie angemessen zu zitieren, Ulrike Guérot aber in hinreichender Form auf den Urheber des entsprechenden Gedankens hinweist, liegt ein reines Verbalplagiat vor.

Wo beginnt ein Verbalplagiat?

Schon im Bereich der Wissenschaft beziehungsweise des wissenschaftlichen Fehlverhaltens – das, wie oben gesehen, hier nicht einschlägig sein kann – gehen Ansichten auseinander, wo ein Verbalplagiat anfängt.

Der Aachener Jurist Prof. Walter Frenz, selbst mal eine Hauptfigur in einer Plagiatsaffäre – ohne aber von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) disziplinarisch belangt worden zu sein –, vertritt wie Elmer und Soiland die Auffassung, dass reine Übereinstimmungen, wie Plagiatssoftware sie feststellt, noch keine Verstöße sein müssen.

Er plädiert dafür, das Urheberrecht analog anzuwenden, das nicht bei jeder Formulierung und jedem Satzteil gleich Diebstahl geistigen Eigentums annimmt (Walter Frenz: "Wissenschaftliches Fehlverhalten und Urheberrecht", Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 1 (60), 2016, S. 13–18).

Fundgrube für Plagiatsjäger: Der Graubereich der Paraphrasierung

Gewiss besteht ein Graubereich bei der Paraphrasierung, dennoch empfiehlt sich auch jenseits des wissenschaftlichen Schreibens sauberes Arbeiten, zumal es einen weniger angreifbar macht.

Die Abgrenzung von Ideen- zu reinen Verbalplagiaten gestaltet sich bei mehreren Einzelstellen schwierig, wo sie nämlich davon abhängt, wie die Quellen platziert sind. Dabei bewegt sich Ulrike Guérot zuweilen in einem Graubereich, da – so auch Elmer und Soiland – die Textform des Sachbuchs beziehungsweise Essays eine geringere diesbezügliche Präzision erfordert.

Prof. Andreas Fisahn, der in Bielefeld Rechtswissenschaft lehrt, weist darauf hin, dass weder "Das Prinzip Hoffnung" aus der Feder Ernst Blochs (1959) noch Colins Crouchs "Postdemokratie" (2008) auch nur eine einzige Fußnote beinhalten. (Andreas Fisahn: "Wahrheit und Fußnote – Wissenschaftliche Ehrlichkeit und der Plagiatspranger", Neue Juristische Wochenschrift 11, 2020, S. 743‒747.)

War die Bagatellgrenze bei Ulrike Guérot überschritten?

Dies äußert er im Zusammenhang mit Plagiatsvorwürfen gegen die Darmstädter Soziologin Prof. Cornelia Koppetsch.

Gegen Koppetsch wurde 2023 zum zweiten Mal eine beamtenrechtliche Disziplinarmaßnahme wegen Plagiats verhängt, ihr Beamtenverhältnis blieb aber unangetastet. Laut einem Bericht wurden zuletzt 25 Stellen in einem Buch Koppetschs offiziell als Plagiate eingestuft, wobei "die Bagatellgrenze schon bei der Hälfte der Fälle überschritten gewesen [sei]". Ulrike Guérots inkriminierte Bücher bleiben alle unter dieser Schwelle, was die Zahl der monierten Stellen betrifft.

Fazit: Kein wissenschaftliches Fehlverhalten

Bei den betroffenen Büchern Ulrike Guérots handelt es sich nicht um Plagiate als solche. Zudem treffen die erhobenen (Teil-)Plagiatsvorwürfe bezüglich einzelner Passagen vor dem Hintergrund, dass es sich um nichtwissenschaftliche Sachbücher beziehungsweise Essays handelt, nur teilweise zu.

Wo sie zutreffen, finden wir eine Mischung aus Grenz-, Bagatell- und eindeutigen Fällen vor. Davon sind mehrere reine Verbalplagiate, weil die geistige Herkunft der Gedanken nicht verschleiert wurde. Schon dem Umfang nach, gemessen an der jeweiligen Gesamtlänge der Bücher, treten eindeutige und weniger eindeutige Plagiate hinter die Eigenleistung der Autorin sehr deutlich zurück.

Als nichtwissenschaftliche Werke können sie zwar Zitierfehler und "geklaute" Formulierungen enthalten, wissenschaftliches Fehlverhalten kann in ihnen jedoch nicht begangen werden.

Eine Unbequeme soll bestraft werden

Selbst wenn "Wer schweigt", das eine Buch, das während Ulrike Guérots Angestelltentätigkeit an der Universität Bonn entstanden ist, kontrafaktisch als für das Arbeitsverhältnis relevant gewertet werden würde, hätte dies, wenn überhaupt, eine Abmahnung nach sich ziehen können, aber keineswegs gleich eine Kündigung.

Denn gerade im Vergleich mit anderen Plagiatsfällen in der Wissenschaft, von denen keiner zu einer Entlassung führte, oder gar solchen in der Politik (Franziska Giffey, Annalena Baerbock …), zeigt sich, dass einige Artikel der Medienkampagne gegen Ulrike Guérot und die Bonner Universität mit Kanonen auf Spatzen schießen.

Wird hier nicht offensichtlich, dass die Vorwürfe, oftmals vorverurteilend als Plagiat bezeichnet und wenngleich sie in Teilen zutreffen, nur vorgeschoben sind? Tatsächlich soll eine Unbequeme bestraft werden – wohl auch in der Absicht, andere abzuschrecken.

Gleichwohl sei Guérot gründlicheres Arbeiten und den Sachbuchverlagen eine entsprechende Prüfung ihrer Manuskripte empfohlen.

Gabriele Gysi (Hrsg): Der Fall Ulrike Guérot – Versuche einer öffentlichen Hinrichtung

Westend-Verlag, 8. Januar 2024,

96 Seiten, Klappenbroschur, 14,00 Euro

Artikelnummer: 9783864894503