Polen: Auf dem Weg zum EU-Exit?
Regierungsnahe Verfassungsrichter in Warschau bescheren Brüssel die nächste große Krise
Polnische Verfassungsrichter urteilten, dass grundsätzliche Teile des EU-Rechts mit der Verfassung des souveränen Staates Polen unvereinbar sind (Tagesschau). Das wird als Kampfansage an die EU gewertet. Darin sind sich die meisten Kommentatoren einig.
Mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das den Vorrang des nationalen, polnischen Rechts proklamiere, werde der "Polexit" geprobt - EU-Beobachter Eric Bonse steht mit dieser Auffassung nicht allein.
Die Sache geht ans Eingemachte der EU, die verbalen Reaktionen sind scharf, die Folgen weitreichend, aber noch nicht absehbar; als sicher gilt, dass die Antwort aus Brüssel deutlich ausfallen muss, berichtet der Spiegel. Als wahrscheinliche Option wird erwähnt, dass EU-Zahlungen an Wahrschau eingefroren werden. Wie kalt und hart wird es werden?
Die Machtprobe zwischen Warschau und Brüssel mit der Überschrift "Rechtsstaatlichkeit" wird schon seit längerem ausgefochten, das Urteil ist der vorläufige Höhepunkt. Aufseiten der Kritiker der polnischen Position wird aufgeführt, dass die Berufung der Richter des Verfassungsgerichts in Polen einer nationalen politischen Agenda folgte und diese Vorgehensweise mit EU-Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Essentials nicht vereinbar ist.
Juristen kritisieren darüber hinaus, dass sich die Verfassungsrichter in Warschau eine Kompetenz anmaßen, die dem Gericht nicht zusteht. Die Entscheidung sei mit grundsätzlichen EU-Regelungen nicht vereinbar. Das ist auch das Hauptargument der EU-Kommission, die in diesem Fall außergewöhnlich schnell mit einem Statement reagierte:
Die Kommission hält an den Grundprinzipien der Rechtsordnung der Union fest und bekräftigt sie, nämlich dass:
EU-Kommission
Das EU-Recht Vorrang hat vor dem nationalen Recht, einschließlich der Verfassungsbestimmungen; Alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, verbindlich.
Man werde die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Polen "im Detail analysieren und über die nächsten Schritte entscheiden", so die EU-Kommission. Sie kündigte an, nicht zu "zögern, von ihren Befugnissen gemäß den Verträgen Gebrauch zu machen, um die einheitliche Anwendung und Integrität des Unionsrechts zu gewährleisten".
Wie eine harte Reaktion seitens der EU-Kommission konkret aussehen könnte, stellte Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europaparlaments, so dar: "Einfrieren der von Polen beantragten Gelder aus dem Corona-Rettungsfonds der EU". Darüber hinaus müsse die Kommission "nun endlich den seit Januar verfügbaren Rechtsstaats-Mechanismus des EU-Haushalts gegen Polen einsetzen, der den Entzug von Fördergeldern ermöglicht".
Die Forderung nach einem Stopp der EU-Zahlungen kommt nicht nur von Barley, so der Spiegel, der die Dimension dieses Druck-Hebels so beschreibt:
Das Land ist der mit Abstand größte Profiteur von EU-Mitteln, allein 2019 hat das Land unter dem Strich zwölf Milliarden Euro aus den Brüsseler Töpfen bekommen. Zusätzlich hat Warschau aus dem Corona-Wiederaufbaufonds fast 24 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Zuwendungen beantragt, dazu weitere gut zwölf Milliarden an Krediten. Zusammen entspricht das fast sieben Prozent der polnischen Wirtschaftsleistung.
Spiegel
Die Analogie, die zwischen den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und dem polnischen Verfassungsgericht zur Souveränität der Nationalstaaten immer wieder mal gezogen wird, passe nicht, wird argumentiert, da Karlsruhe bei seiner Entscheidung über die Anleihegeschäfte anders als die polnischen Verfassungsrichter nicht die grundsätzliche Priorität des Unionsrechts in Frage gestellt habe.
Geht es nach dem eingangs erwähnten Bericht der Tagesschau, so stehen die Zeichen zwischen Warschau und Brüssel "auf Sturm". Zitiert wird ein polnischer Regierungssprecher, dessen Formulierung aber vielleicht auch eine mögliche Brücke andeutet?
Polen sei auch weiter bereit, EU-Regeln zu respektieren, so ein Regierungssprecher noch am Abend: Aber nur in von den EU-Verträgen ausdrücklich und direkt abgedeckten Bereichen. Nötig sei eine klarere Aufteilung nationaler und europäischer Kompetenzen.
Tagesschau
Auch die EU hat ein Interesse daran, Polen in der Gemeinschaft zu halten und auch die polnische Regierung dürfte die Umfrage kennen, die ihre Kritiker erwähnen, wonach die überwiegende Mehrheit, nämlich 80 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU sind.