Polen und die EU – alles wieder gut?
- Polen und die EU – alles wieder gut?
- Die EU-Skeptiker aus PiS-Reihen
- Ukrainekrieg: Schlagartiger Paradigmenwechsel
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Der Ukrainekrieg ist ein Game Changer. Doch haben rechtsnationalen Regierungen Ungarns und Polens auch eine Grundsatzdiskussion ausgelöst, die das Denken der Brüsseler Bürokraten nachhaltig verändern wird
Am 16. Februar 2022 wies der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die Klage der polnischen und ungarischen Regierungen gegen den sogenannten Rechtstaatmechanismus ab. Die EU präzisierte im Jahr 2020, was sie unter Rechtsstaatlichkeit versteht. Die öffentliche Gewalt habe sich an "das geltende Recht, im Einklang mit den Werten der Demokratie und der Achtung der EU-Grundrechte unter der Kontrolle unabhängiger und unparteiischer Gerichte" zu halten.
Weiterhin wurde beschlossen, dass in einem Verfahren entschieden werden kann, EU-Geldzahlungen jenen Staaten vorzuenthalten, die gegen diese rechtsstaatlichen Prinzipien verstoßen. Der EU-Rat, also die Chefs der Regierungen der EU-Staaten können demnach per Mehrheitsbeschluss über die Vorenthaltung oder Freigabe der Geldmittel befinden.
Gegen diesen als Konditionalität bezeichneten Mechanismus haben beide Mitgliedsstaaten geklagt und verloren. Der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro, der der rechtsnationalen Partei Solidarna Polska (Solidarisches Polen), dem Juniorpartner in der von Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) angeführten polnischen Regierungskoalition vorsteht, beschuldigte daraufhin Premierminister Mateusz Morawiecki "einen sehr schweren historischen Fehler" begangen zu haben, als dieser beim Brüsseler Gipfeltreffen 2020 diese Verordnung akzeptiert hatte.
Diese würde bloß der "wirtschaftlichen Erpressung Polens" dienen und die "Souveränität im Bereich der Justiz und der Werte" einschränken. Die vermeintliche Erpressung richte sich, so Ziobro, in erster Linie gegen polnische Gemeinden, die fortan gezwungen werden, die Beschlüsse "zum Schutz der Familie, der traditionellen polnischen Werte und Prinzipien, nach welchen polnische Kinder in Schulen unterrichtet werden" zu beseitigen.
Ziobro meinte damit die von einigen PiS-regierten Gemeinden, Landkreisen und Woiwodschaften im Südosten Polens ausgerufenen "LGBT-ideologiefreien Zonen". Diese Erklärungen waren eine Reaktion auf die sogenannte Warschauer Deklaration des liberalen Warschauer Bürgermeisters Rafał Trzaskowski, der sich verpflichtete, LGBT-Rechte zu fördern und zu achten.
Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński nannte die LGBT-Rechte "einen Import", der die traditionelle polnische Familie bedrohe. Federführend in der Anti-Gender- und der Anti-LGBT-Bewegung war Zbigniew Ziobros Partei Solidarna Polska.1
Polen – ein schwieriger EU-Partner
Als Polen am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitrat, war die öffentliche Meinung im Land selbst geteilt. Zehn Jahre dauerten die Bemühungen der konsekutiven Nachwende-Regierungen, in die "europäische Familie" aufgenommen zu werden. Dieses Bestreben, das 1989 den meisten Polen wie ein unerreichbarer Traum erschien, wurde im Laufe der Jahre immer differenzierter bewertet.
Die Aufnahmeverhandlungen von neuen Mitgliedsstaaten in der damaligen Erweiterungsrunde umfassten neben Polen auch Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Litauen, Lettland, Malta und Zypern. Unter diesen Kandidaten war das Land an der Weichsel nach Ansicht vieler Politiker der "alten Union" am wenigsten willkommen.
Es war nicht nur bevölkerungsmäßig größer als alle übrigen Mitkandidaten zusammen, Polen hatte damals das Image, wirtschaftlich unterentwickelt, arm und korrupt zu sein und seine Institutionen galten als schwer reformierbar. Der österreichische EU-Parlamentarier Hannes Swoboda von der SPÖ gehörte zu den vehementesten Gegnern der Aufnahme Polens in die EU und erklärte in einer Diskussionsrunde Ende 2002:
Die Erweiterungsländer haben oftmals noch nicht den Sinn einer politischen Union begriffen
Hannes Swoboda
Bei Polen müsse man sich fragen, ob dieses Land den Weg eines politischen Europas überhaupt gehen möchte, so Swoboda damals.
Swoboda: Erweiterung der EU bedeutet auch kulturelle Bereicherung
Polen hatte aber einen bedeutenden Fürsprecher. In Deutschland herrschte, anders als etwa in Österreich, seit dem Fall der Mauer politischer Konsens darüber, dass das östliche Nachbarland in der ersten Erweiterungsrunde mit dabei sein müsse. Dieser politische Beistand, nahezu ohne Wenn und Aber, wurde als eine Art späte Wiedergutmachung Deutschlands an Polen aus einem geschichtlich begründeten Schuldbewusstsein, aber auch als Anerkennung der führenden Rolle Polens bei der Überwindung der Teilung Europas, interpretiert.
Beim Referendum über die EU-Aufnahme stimmten im Juni 2003 77,45 Prozent der wahlberechtigten Polen über den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union, 22,55 Prozent waren dagegen. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 60 Prozent für polnische Verhältnisse hoch.
Zwischen 2001 und 2004 regierte in Polen eine Koalition der postkommunistischen Partei Sojusz Lewicy Demokratycznej (Bund der Demokratischen Linken, kurz SLD), Unia Pracy (Arbeitsunion) und der Bauernpartei PSL, unter dem SLD-Premierminister Leszek Miller. Miller setzte, wie alle Ministerpräsidenten vor ihm, bei der Heranführung an und der Integration Polens mit der EU auf Deutschland als den Schlüsselpartner.
Die polnischen Nachwendepolitiker sahen die künftige Position ihres Landes im Bund mit Deutschland und Frankreich mit der Hoffnung, Polen würde sich mit der Zeit als wichtiger Player und Entscheidungsträger in der sich erweiternden Gemeinschaft etablieren. Als Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses galt die Gründung des informellen "Weimarer Dreiecks" im Jahre 1991.
Nur wenige Wochen vor dem Referendum war dessen Ausgang keinesfalls entschieden. Vonseiten rechtsgerichteter Medien und Politiker, zu welchen die Zwillinge Lech und Jarosław Kaczyński damals nicht zählten, kamen zahlreiche Bedenken: die höheren Subventionen für Bauern der alten EU würden polnische Landwirte in den Ruin treiben und die billigen europäischen Lebensmittel würden den polnischen Markt überschwemmen; die hellsten Köpfe würden Polen verlassen.
Am meisten fürchtete man den Verlust der eigenen Identität, da man die eigenen christlichen Werte und Traditionen durch den westlichen "Nihilismus" für bedroht erachtete.
Damit war klar, welche Rolle der Positionierung des polnischen Episkopats in dieser Frage zukommen würde. Zunächst kamen von den Bischöfen widersprüchliche Signale. Da war einerseits die Rede davon, dass Polen immer in Europa war und sein Platz dort keiner Diskussion unterliege, andererseits wurden Kriterien heraufbeschworen, gemäß welchen sich Gläubige bei ihrer Entscheidung für oder gegen die EU richten sollten. In einem sehr vorsichtig formulierten Brief, kurz vor der Volksbefragung, appellierten die Hierarchen, mit "Ja" zu stimmen.
Sie bezogen sich dabei auf die eindeutige Positionierung in dieser Frage des aus Polen stammenden Papstes Johannes Paul II. Mit dem Verweis auf die christliche Tradition Europas und die Position Polens als deren fixer Bestandteil war er ein deutlicher Befürworter der polnischen EU-Mitgliedschaft.
Von weiten Teilen des polnischen Klerus wurde diese Fürsprache des Papstes mit Unwillen akzeptiert, man tröstete sich mit einer neuen Missionarsrolle Polens, die das Kirchenoberhaupt seinem Heimatland bei der "Re-Christianisierung Europas" zuschrieb.
Mittlerweile gehört die Zustimmung zur Europäischen Union in Polen mit über 80 Prozent zu den höchsten in der ganzen Gemeinschaft und das hat nicht bloß mit den großzügigen Förderungen, die aus Brüssel nach Polen fließen, zu tun.
EU-Transfers
Betrachtet man die EU-Geldtransfers, gehört Polen seit Jahren zweifelsohne zu den größten Benefizienten Europas. Zwischen 2004 und 2021 sind 210,4 Milliarden Euro aus Brüssel nach Polen geflossen, während Polen in jenem Zeitraum 68,6 Milliarden Euro ins gemeinsame Budget eingezahlt hat. Der Saldo ist mit 141,8 Milliarden Euro dennoch beeindruckend.
Von dieser Gesamtsumme gingen etwa 65 Prozent aus dem Kohäsionsfonds der EU für den Ausbau transeuropäischer Verkehrsnetze (Autobahnen, Eisenbahn, Häfen) sowie für Umwelttechnologien, 31 Prozent stammen aus dem Landwirtschaftsfonds und 3,4 Prozent aus anderen EU-Fonds, etwa zur Förderung der Sozial- oder der Migrationspolitik.
Damit ist Polen absolut betrachtet der größte Netto-Empfänger der EU-Gelder innerhalb der EU-Gemeinschaft. Gleichwohl, die großzügige Sozialpolitik der PiS-Regierung wird, anders als von Kritikern der PiS-Regierung behauptet, nicht aus EU-Geldern, sondern aus dem Staatsbudget gespeist.
Diese absoluten Zahlen werden in der Argumentation ins Feld geführt, dass Polen eben ein undankbarer und schwieriger Partner in der EU sei. Bei der Berechnung der EU-Geldflüsse je Einwohner sieht das Bild ein wenig anders aus. Hier rangiert Polen erst auf dem achten Platz hinter Kroatien, Ungarn, den baltischen Staaten, aber auch hinter Griechenland und es erhält mit 350 Euro pro Kopf und Jahr nur unwesentlich weniger Geld als Portugal oder Tschechien. 2020 machten die EU-Gelder 2,53 Prozent des polnischen Bruttoinlandsproduktes aus, ein Prozentpunkt weniger als etwa in Griechenland oder Ungarn.
Zum Vergleich: im Rahmen des deutschen "Aufbau Ost" flossen zwischen 1990 und 2014 in die Neuen Bundesländer, wo weniger als halb so viele Menschen wie in Polen lebten, etwa 300 Milliarden Euro an reinen Aufbauhilfen. Die Gesamtkosten inklusive Sozialtransfers beliefen sich auf über eine Billion Euro.
Die Summen, die in die polnische Infrastruktur und Landwirtschaft gepumpt wurden, klingen beeindruckend und gemessen am zivilisatorischen Fortschritt, den Polen seit seinem EU-Beitritt durchschritten hat, sie sind es auch. Dennoch wuchs die polnische Wirtschaft auch vor 2014 in einem sehr hohen Tempo. Polens Wirtschaft befand sich nach einem massiven Einbruch in den Achtzigerjahren ab 1992 auf dem Wachstumspfad, bis 2015 erfuhr Polen eine siebenfache BIP-Steigerung pro Kopf von 1731 USD im Jahr 1990 auf 12.500 USD 2015.
Polen wies damit das höchste Wachstum aller europäischen und sogar aller OECD-Länder auf. Diese Zahlen dienen polnischen EU-Gegnern oft als Argument dafür, dass ihr Land nicht auf die EU angewiesen sei.