Polen und die EU – alles wieder gut?
Seite 4: Politische Diamanten
Bedeuten nun der brutale Krieg und die größte Flüchtlingskrise, die Polen seit 1945 erlebt, dass die PiS-Regierung auf eine Rehabilitierung zählen kann?
So zynisch es klingt, Jarosław Kaczyński und seiner Partei kommt die russische Invasion in der Ukraine nicht ganz ungelegen. Ihr Stern war in den Monaten davor im Sinken begriffen, in der Sonntagsfrage lag die rechte Koalition bereits hinter der Opposition abgeschlagen.
Dieser Abwärtstrend scheint nun zumindest gestoppt. Bei einer für die Tageszeitung Rzeczpospolita durchgeführten Meinungsumfrage würden Anfang April knapp 33 Prozent der Polen ihre Stimme der PiS geben, das sind zwei Prozentpunkte mehr als noch vor zwei Monaten. Im Klima der kollektiven Angst und angesichts der Bedrohung aus dem Osten waren die Teilungslinien, die die polnische Gesellschaft spalten, kurz übertüncht, nun brechen sie wieder auf. Selbst ein so einschneidendes Ereignis wie der Krieg im Nachbarland vermag die tiefe gesellschaftliche Spaltung nicht zu überwinden.
Jedwede Kritik an den Regierenden und der Hinweis auf die Sünden der Vergangenheit erscheinen nun wie ein Sakrileg. Sie tragen eine Dosis von Verrat in sich. Dieses Narrativ vermitteln zumindest staatsnahe Medien. Nur weil sich die Regierung ausnahmsweise anständig verhält und das tut, was ihre Aufgabe ist, heißt das, dass ihre Missetaten der letzten sieben Jahre in Vergessenheit geraten sollten? Diese Frage stellt sich in der liberalen Zeitschrift Polityka Mariusz Janicki. 5
PiS hätte die Erwartungen an sich in den letzten Jahren massiv heruntergeschraubt, somit werde sie bei jedem "normalen Verhalten" mit dreimal größerer Anerkennung bedacht. Der Krieg in der Ukraine sei nicht mehr "politisches Gold", wie PiS-Politiker die Migrationskrise an der weißrussischen Grenze vom Herbst 2021 bezeichneten, nun seien geradezu "politische Diamanten". Janicki beobachtet, dass viele Menschen, die der PiS bislang kritisch gegenüberstanden, dieser speziellen Atmosphäre unterlegen sind. Es fallen Argumente wie; man solle nun mit diesem innerpolnischen Kleinkrieg aufhören, Kompromisse suchen, alte Schulden vergeben.
Und selbst die Oppositionspolitiker der Linkspartei Razem oder der Vorsitzende der Partei Polska 2050 Szymon Hołownia plädieren im Sinne eines nationalen Schulterschlusses nun dafür, in der Situation des Krieges die Regierung in ihrem Kampf um die Freigabe der EU-Coronagelder zu unterstützen.
Auf einmal wird unterschieden: die Guten, sprich Präsident Duda und Ministerpräsident Morawiecki auf der einen Seite und der böse Justizminister Ziobro auf der andren. Ganz so als ob die Ersteren am Demokratieabbau, an der Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit nicht mitbeteiligt gewesen wären, als hätten sie nicht wiederholt die EU angegriffen und dieser die Bedrohung der polnischen Souveränität unterstellt.
Kommentatoren liberaler Medien fordern, den Krieg und dessen Widerhall in Polen von der innerpolnischen Debatte um Rechtsstaatlichkeit, um bürgerliche Freiheiten, um Unabhängigkeit staatlicher Institutionen und Medien zu trennen. Es sei Polen und Europa nicht gedient, wenn die EU nun nachgäbe und unter dem Druck der polnischen Regierung halben Lösungen zustimme. Das würde die PiS stärken und sie darin bestärken, das Mandat zur Fortsetzung der Politik des "guten Wandels" verlängert bekommen zu haben. Eine unter dem Eindruck des Krieges beschlossene Entscheidung hätte verheerende Konsequenzen für Polen.
Dieses Verschieben der innerpolitischen Debatten und ein vorübergehender "Reset" der polnischen Politik gegen Null, welchen manche Politiker und Medien fordern, würden bei den Spindoktoren der PiS nur Lachkrämpfe auslösen, vermutet Mariusz Janicki in der Polityka.
PiS würde die durch den Krieg hervorgerufenen Emotionen kaltblütig ausnützen und in dessen Schatten ihre bisherige Politik fortsetzen. Er weist darauf hin, dass selbst Staatspräsident Andrzej Duda, der im Zuge des Krieges zu einem wichtigen internationalen Player avanciert ist, still und heimlich Nominierungen an neue Höchstrichter vergibt, also genau das tut, was den Konflikt mit der EU verursacht hat.
Janicki ist überzeugt, dass die Politiker der PiS nun einen Grund zum Triumphieren hätten. Sie präsentieren sich als jene Kraft, die die irrgeleitete "alte" EU auf den "richtigen Weg", also jenen der französischen, italienischen, ungarischen oder slowenischen Nationalisten. Diese hätten immer schon Recht gehabt, als sie den moralischen Verfall des Westens anprangerten und das Modell des militanten Patriotismus und eines starken Staates verfolgten.
Selbst das leidige Thema des Absturzes der Präsidentenmaschine über Smolensk vor zwölf Jahren, bei dem Jarosław Kaczyńskis Zwillingbruder Lech und ein bedeutender Teil der konservativen Politelite des Landes ums Leben kamen, wird nun wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt und instrumentalisiert.
Dem Narrativ der PiS-Granden zufolge handelte es sich dabei um einen von Putin herbeigeführten Anschlag, auch wenn alle ernstgemeinten Untersuchungen die Absturzursache auf einen Pilotenfehler im dichten Nebel mit einer Teilschuld des russischen Bodenpersonals zurückführen. So heißt es neulich: Seht her, Putin ist zu allem fähig.
Während die Opposition von einem "Daueraprilscherz" und einem "zynischen politischen Tanz auf den Särgen" spricht, zeigte sich Jarosław Kaczyński in einem Interview am 1. April 2022 wieder "von einem Anschlag überzeugt".
Janicki fürchtet, dass der Ukrainekrieg zum größten "Nachbrenner" für die PiS werden könnte. PiS wird unter dem Deckmantel des Krieges keine Versöhnung mit der EU anstreben, ganz im Gegenteil, sie wird versuchen zu beweisen, dass sie schon immer im Recht war und ihre "Reformen" noch schneller vorantreiben. Der Kompromiss, den sie mit der EU suchen würde, diene einzig und allein der Freigabe der Corona-Hilfsgelder. Die Naiven, die nun einen "Reset der polnischen Politik" fordern, werden wie üblich auf die alten Tricks der PiS reinfallen, schließt Janicki pessimistisch.
Knapp vor dem Krieg sah es angesichts der verfahrenen Situation zwischen Polen und der EU so aus, als schiene sich Kaczyński seines radikalen und EU-skeptischen Justizministers Ziobro entledigen zu wollen um mit neuen Koalitionspartnern aus der gemäßigt konservativen Bauernpartei PSL eine Neuausrichtung seiner Politik zu wagen.
Seitens der PSL war die Voraussetzung für eine solche Zusammenarbeit einerseits der Rausschmiss Ziobros, samt Rücknahme aller Elemente der Justizreform und andererseits ein Personalwechsel in der Leitung des staatlichen Propagandasenders TVP. Doch dieser Neustart scheint zumindest vorerst verschoben zu sein. Sowohl Kaczyński als auch Ziobro nutzen den Krieg dazu, neue schwere Geschütze gegen die "alte" EU, allen voran gegen Deutschland, aufzufahren um damit politisches Kleingeld zu gewinnen.
Wie auch immer die Auseinandersetzung Polens mit der EU ausgehen mag, die rechtsnationalen Regierungen Ungarns und Polens haben eine Grundsatzdiskussion ausgelöst, die das Denken der Brüsseler Bürokraten nachhaltig verändern wird. Paradoxerweise wird die Europäische Union ihren beiden widerspenstigen Mitgliedern womöglich sogar zu Dankbarkeit verpflichtet sein. Denn durch diesen Konflikt hat Brüssel neue Instrumente in die Hand bekommen, um EU-Staaten, die sich an gemeinsame Regeln nicht halten, zu disziplinieren. Die Frage ist, ob sie von diesen effektiv Gebrauch machen wird.
Gleichzeitig werden die sieben Jahre der von der PiS dominierten Innenpolitik auch eine Neuausrichtung der polnischen EU-Mitgliedschaft zur Folge haben. Die sture Haltung Polens ist Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, von dem es auch nach einem möglichen Machtwechsel in Polen keine Abkehr mehr geben wird.
Mittlerweile übernehmen selbst Politiker der Opposition die Rhetorik der PiS von der nationalen Souveränität. Dieser Interessenkonflikt zwischen den östlichen und westlichen EU-Partnern wird die Union in den kommenden Jahren prägen und verändern.