Polen und die EU – alles wieder gut?

Seite 2: Die EU-Skeptiker aus PiS-Reihen

Trotz aller Vorteile, die Polen aus der EU-Mitgliedschaft zog, hatte die rechtsnationale Koalition seit ihrem Wahlsieg 2015 das Verhältnis ihres Landes zur Europäischen Union bis zum Äußersten ausgereizt.

Die polnische Regierung distanzierte sich zunehmend von einigen Grundprinzipien des vereinten Europas, wie der Rechtstaatlichkeit oder Solidarität in Fragen der Migration und Sozialpolitik. Am Höhepunkt dieses Konfliktes berief sich der Europäische Rat auf den Artikel 7 und drohte Polen mit dem Entzug des Stimmrechts bzw. mit einem temporären Ausschluss Polens aus der Gemeinschaft.

Befeuert wurde diese Auseinandersetzung in erster Linie durch "Solidarisches Polen", allen voran durch ihren Vorsitzenden, den Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro. Für Jarosław Kaczyński, der in der Vergangenheit zu den Befürwortern des EU-Beitritts gehörte, war Ziobro aus politikstrategischen Gründen zwecks Abdeckung der rechtsnationalen, antieuropäischen Flanke unentbehrlich.

Ziobro beschaffte die hauchdünne Stimmenmehrheit im Parlament und galt deswegen trotz großen Unmuts auch innerhalb der PiS lange Zeit als unantastbar. Ziobro zeichnete für die umstrittene Justizreform verantwortlich. Urspünglich darauf ausgelegt, die Macht der PiS zu zementieren, erwuchs die Reform zum größten Zankapfel im Streit mit der EU.

Kaczyński nahm den Konflikt mit Brüssel bewusst in Kauf, um die Macht seiner Partei zu sichern. Für die gemäßigten PiS-Politiker wie Präsident Andrzej Duda und für Premierminister Morawiecki war Ziobro lange schon unhaltbar und galt als zentraler Konfliktpunkt mit der EU.

Die PiS-Regierung pflegte mit der Mitgliedschaft Polens in der EU einen durchaus selektiven Zugang. Auch wenn Ziobro gelegentlich mit einem "Polexit" liebäugelte, war ein Austritt Polens aus der EU für Kaczyński oder Morawiecki dennoch nie ein Thema. Dennoch hatte die PiS-Regierung eine andere Vorstellung von der europäischen Idee als die meisten Politiker im Westen des Kontinents.

Während sie offensichtlich kaum Interesse an einer gemeinsamen Verteidigungspolitik oder am Beitritt Polens zur Eurozone zeigte, nutzte sie die Vorteile des gemeinsamen Marktes, einschließlich der üppigen Finanztransfers, die den Ausbau der Infrastruktur mitfinanzierten.

Jarosław Kaczyński und seine Mitstreiter vertraten, ähnlich wie Ungarns Premierminister Viktor Orbán, die Ansicht, dass sich die Europäische Gemeinschaft mehr in Richtung einer Union souveräner und selbständiger Staaten als einer Wertegemeinschaft entwickeln solle.

Zudem erschien, zumindest für den rechtsnationalen Teil der PiS-Apologeten, das liberale "westliche Gesellschaftssystem" als nicht nachahmenswert. Sie warfen den liberalen Vorgängerregierungen vor, gegenüber dem Westen, allen voran Deutschland, unterwürfig und hörig gewesen zu sein, statt die eigenen nationalen Interessen zu verfolgen.

Tatsächlich wurde das Verhältnis Polens zu den alten EU-Mitgliedern durch eine starke Asymmetrie geprägt. Polens Wirtschaft wurde stark auf den deutschen Markt ausgerichtet. Unternehmen aus dem westlichen Nachbarland nutzten die niedrigen Löhne jenseits der Grenze für ihre Expansion, man sprach zunehmend von der "verlängerten Werkbank Deutschlands".

Für Premierminister Morawiecki war sein Land in zunehmenden Maß im "middle income trap" gefangen. Viele der EU-kofinanzierten, großangelegten Infrastrukturprojekte werden zudem von Firmen aus der "alten" EU realisiert, wodurch ein Teil der Strukturgelder wieder ins Ausland abfließt.

Das durchschnittliche jährliche Nettoeinkommen lag in Polen 2020 mit 7.143 Euro bei genau einem Drittel des deutschen, niedriger rangierten etwa Ungarn oder Rumänien, mit 5.611 Euro.2

Hinzu kommen ein subjektiv empfundenes Unverständnis des Westens für den Wunsch nach eigener nationaler Souveränität ebenso wie Erfahrungen vom eher symbolischen Charakter wie etwa Berichte über minderwertige Lebensmittel und Kosmetikartikel, die von westlichen Konzernen in östlichen EU-Ländern oft überteuert abgesetzt werden.

Diese Unterschiede wecken noch über 30 Jahre nach der politischen Wende in Osteuropa Frustrationen und ein Gefühl von Ungerechtigkeit und wirtschaftlicher Ungleichbehandlung sowie eine große und bis zur Corona-Krise anhaltende Auswanderungsbewegung von zumeist gut ausgebildeten jungen Menschen von Ost nach West.

Mit der Wahl rechtskonservativer Parteien in Ungarn und in Polen avancierten diese beiden Länder zu einer Art Anti-EU-Avantgarde. Für beide Völker sind die traumatischen historischen Erfahrungen des Souveränitätsverlustes Teil des nationalen Selbstverständnisses.

Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, mit dem Versuch einiger "alter" EU-Länder, Verteilungsquoten für einzelne Mitglieder festzulegen, zusammen mit dem Brexit-Referendum Großbritanniens, verstärkten diese Entwicklung zusätzlich. Doch der für die Fidesz und PiS zunächst günstige Wind drehte sich rasch.

EU-skeptische Kräfte konnten mit Ausnahme der kurzlebigen FPÖ- Regierungsbeteiligung in Österreich in den darauffolgenden Jahren in keinem weiteren Land des "alten" Europas richtig Fuß fassen und auch das Schmieden rechter EU-skeptischer europäischer Allianzen erwies sich angesichts unterschiedlicher Interessen, vor allem in Bezug auf Russland, als illusorisch.