Politischer Missbrauch von Auschwitz
Der 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee wird politisch überschattet durch die Abwesenheit Wladimir Putins
Aus politischen Gründen habe Polen den russischen Präsidenten nicht eingeladen, heißt es in Stellungnahmen aus Moskau. Doch wenn man sich die Organisation genau anschaut, muss man feststellen, dass es Putin ist, der den Jahrestag politisch missbraucht.
Ulrich Schneider ist außer sich. Richtig außer sich. Zahlreiche Staats- und Regierungschefs werden am 27. Januar bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee anwesend sein. Ja selbst Bundespräsident Joachim Gauck, das Staatsoberhaupt jenes Landes, aus dem die Täter einst stammten, die das industrielle Morden perfektioniert haben, wird vor Ort sein. Der einzige, der fehlen wird, ist ausgerechnet Russlands Präsident Wladimir Putin. Für den Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer ein Skandal, weshalb er zur Feder griff und einen Protestbrief an den polnischen Botschafter in Berlin verfasste:
Nach den uns vorliegenden Berichten habe die polnische Regierung es abgelehnt, Wladimir Putin, den Präsidenten des Staates, von dem die militärische Befreiung dieses Vernichtungslagers ermöglicht wurde, nämlich Russlands in der Nachfolge der Sowjetunion, zu den offiziellen Gedenkfeierlichkeiten einzuladen. Das wäre ein politischer Affront, der nicht hinzunehmen wäre.
In dem Schreiben wirft Schneider der polnischen Regierung Geschichtsverfälschung: "Wir bitten um zeitnahe Rückantwort, wie dieser Vorgang zu erklären ist. Dabei sehen wir es als unverzichtbar an, dass der russische Präsident Wladimir Putin offiziell von der polnischen Regierung eingeladen wird", heißt es in dem letzten Absatz des Briefes.
Ähnlich wie Ulrich Schneider haben viele Menschen gedacht, als die Medien vor zwei Wochen vermeldeten, dass Wladimir Putin aufgrund einer fehlenden Einladung nicht nach Polen zu den Gedenkfeierlichkeiten reisen werde. Eine nicht verschickte Einladung, die nicht nur bei den Lesern, sondern zum Teil auch bei einigen Journalisten auf Unverständnis traf, die wie Christof Münger vom schweizerischen Tages-Anzeiger darin auch eine verpasste Chance zu einer Wiederannäherung zwischen dem Westen und Russland sehen.
Gleichzeitig schien das eingetroffen zu sein, was der Internationale Rat des Museums Auschwitz bereits vor einem halben Jahr befürchtet hat: die Politisierung der Gedenkveranstaltung. Um dies zu vermeiden, entschloss man sich, keine Reden von Politikern zuzulassen (Kein Rederecht für Putin in Auschwitz). Die Entscheidung ist durchaus verständlich, wenn man sich die aktuelle Situation anschaut. Der Westen und Russland waren sich in den letzten zwei Jahrzehnten noch nie so fremd wie seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise. Nicht wenige sprechen gar von einem neuen Kalten Krieg. Und dass das Verhältnis zwischen Polen und Russland traditionell nicht gut ist, ist auch kein Geheimnis. Doch mit dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine wird dieses fast nur noch vom Misstrauen und Vorwürfen bestimmt. Beiderseits.
Streit über die gemeinsame Geschichte vor und nach 1945
Zum Vorschein kommen dabei auch seit Jahren bestehende Differenzen bezüglich der jüngsten gemeinsamen Geschichte. So wird der Hitler-Stalin-Pakt in beiden Ländern unterschiedlich gedeutet. Während in Polen vor allem der geheime Zusatzvertrag im Mittelpunkt steht, mit dem das nationalsozialistische Deutschland und Stalins Sowjetunion Polen sowie die anderen Staaten Ostmitteleuropas wie einen Kuchen untereinander aufgeteilt haben, ist es in Russland der Nichtangriffspakt. Oder wie es Wladimir Putin im August formulierte: "Aber was ist so schlecht an der Tatsache, dass die Sowjetunion damals nicht kämpfen wollte."
Ein weiterer großer Streitpunkt sind die Jahre ab 1945. Dass die Sowjetunion einen nicht unerheblichen Beitrag zum Sieg über das III. Reich beigetragen hat, wird in Polen nicht bestritten. Doch die Befreiung von Nazi-Deutschland wird gleichzeitig auch als der Beginn einer neuen Okkupation und Schreckensherrschaft interpretiert. Verständlich, wenn man sich das Schicksal vieler Widerstandskämpfer nach 1945 anschaut. Nachdem sie jahrelang gegen die deutschen Besatzer gekämpft haben, wurden viele von ihnen als Faschisten und Spione gebrandmarkt und zuerst vom sowjetischen Geheimdienst NKWD verfolgt, verhaftet und ermordet, später dann von den von Moskau eingesetzten und abhängigen Kommunisten. Mit dem Ergebnis, dass seit der politischen Wende 1989 immer mehr Denkmäler, die ab 1945 als Symbole der polnischen-sowjetischen Freundschaft errichtet wurden, aus den polnischen Innenstädten verschwanden. Für viele Polen sind diese nichts anderes als ein Symbol der Unterdrückung. In Russland jedoch wird jedes abgetragene Denkmal als ein historischer Affront verstanden.
Unnötig verstärkt wurde dieser Streit durch die jüngsten Aussagen des polnischen Außenministers Grzegorz Schetyna, der seit September vergangenen Jahres im Amt ist. In einem Interview mit dem polnischen Radio sagte er, dass es die "Ukrainische Front und Ukrainer waren, die das Lager befreiten. Ukrainische Soldaten waren an dem Januartag dort und öffneten die Tore des Lagers." Wie zu erwarten, ließen die russischen Reaktionen nicht lange auf sich warten. Während das Außenministerium in Moskau von einer "Verhöhnung der Geschichte" sprach, sparten russische Politiker und Medien nicht mit kritischen Kommentaren.
Heftige Kritik musste Schetyna jedoch nicht nur aus Russland erfahren, sondern auch aus Polen. Politiker aus fast allen Parlamentsfraktionen gingen mit dem Außenminister hart ins Gericht. Staatspräsident Bronislaw Komorowski wiederum warnte in einem Fernsehinterview, trotz der historischen und aktuell politischen Differenzen, vor einer Politisierung der diesjährigen Gedenkfeier und erinnerte daran, dass bei den Feierlichkeiten allein die letzten Auschwitz-Überlebenden im Mittelpunkt stehen sollen. Zudem stellte er klar: "Wir wissen und wir erinnern uns daran, dass die meisten Soldaten, die in dieser Region Polens kämpften und das Lager Auschwitz befreiten, Russen waren."
Verletzte Eitelkeit oder politisches Kalkül?
Es ist ein versöhnlicher Appell, der die dunklen Schatten wohl leider nicht mehr über den 70. Jahrestag vertreiben wird. Die unnötigen und dummen Aussagen von Grzegorz Schetyna, noch mehr aber die Nichteinladung von Wladimir Putin haben dafür schon zu viele negative Schlagzeilen gesorgt. Nur wurde der russische Präsident wirklich missachtet, weil er anscheinend als einziger von der polnischen Regierung keine Einladung zu dem 70. Jahrestag erhielt, wie der Kreml in seinen Stellungnahmen suggerierte?
Diese Frage kann man nur mit einem klaren Nein beantworten. Für die Organisation der Gedenkfeier ist das Museum Auschwitz verantwortlich. Warschau verschickte lediglich diplomatische Noten, in denen es über die Feierlichkeiten informierte und anfragte, ob Vertreter eventuell anreisen würden. Keiner erhielt jedoch eine gesonderte Einladung. Weder Bundespräsident Gauck oder gar Ukraines Petro Poroschenko, wie von russischen Auslandsmedien behauptet wurde. Doch während 40 Staatsoberhäuptern und Regeierungschefs die diplomatische Note ausreichte, um ihre Anwesenheit anzukündigen, war diese Wladimir Putin offenbar zu wenig. Ob aus politischem Kalkül oder verletzter Eitelkeit, das weiß der russische Präsident nur allein.
Falls man jedoch gerne Protestbriefe schreibt, sind beide ausreichende Gründe für solche Schreiben. Diese jedoch nicht an den polnischen Botschafter in Berlin, so wie es Ulrich Schneider getan hat, sondern an dessen russischen Kollegen. Denn eins muss man klar feststellen: Putins Abwesenheit bei den morgigen Feierlichkeiten in Auschwitz ist nicht ein Affront der polnischen Regierung, sondern des russischen Präsidenten gegen die letzten Überlebenden des Naziterrors sowie dessen sowjetischen Befreier.
Und dass Putin keiner speziellen Einladung bedarf, um dieser vor Ort zu gedenken, zeigte er vor 10 Jahren. Damals reiste er nach Polen, um an dem 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz teilzunehmen, obwohl er ebenfalls nur eine diplomatische Note aus Warschau erhielten hatte.