Politisches Erdbeben in Tunesien
Tunesiens Wählerschaft verpasst politischen Eliten und etablierten Parteien einen beispiellosen Denkzettel. Zwei "Outsider", ein Medienmogul und ein Ultrakonservativer, sind in der Stichwahl um das Präsidentenamt
Schon die erste Runde der richtungsweisenden Präsidentschaftswahl in Tunesien endete am Sonntag mit einem Paukenschlag. Wie im Vorfeld des Urnengang gemeinhin erwartet worden war (Ausufernde Machtkämpfe und Schlammschlachten - Tunesien in der Sackgasse?), strafte die Wählerschaft die traditionellen politischen Eliten und die als etabliert geltenden Parteien, die seit der Revolution 2011 Tunesiens politisches System im Parlament und der Exekutive dominiert hatten, in beispielloser Manier ab.
Das Ausmaß dieses Denkzettels, der jedoch keinesfalls oder zumindest nicht ausschließlich mit einer Protestwahl gleichzusetzen ist, überrascht dennoch. Während Präsidentschaftskandidaten aus den Reihen ebenjener Parteien erwartungsgemäß schwach abschnitten, hätte kaum jemand erwartet, dass die noch nicht endgültig terminierte Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen gleich zwei Neulingen auf Tunesiens politischer Bühne ausgetragen werden würde.
Denn in der zweiten Runde des Urnengangs stehen sich nun der vor allem für seine ultrakonservativen Positionen bekannte parteilose Jurist und Verfassungsrechtler Kaïs Saïed und der umstrittene und schillernde Mehrheitseigner des im Land äußerst populären Fernsehsenders Nessma TV, Nabil Karoui, gegenüber. Völlig überraschend erzielte Saïed im ersten Durchgang mit 18,4 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis, während Karoui mit 15,6 Prozent als Zweitplatzierter in die Stichwahl einzog.
Die Verlierer: Die Ennahda-Partei und die Linken
Der betont moderat auftretende Kandidat der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei, Abdelfattah Mourou, kam als Drittplatzierter auf 12,9 Prozent der Stimmen und der als Vertreter des Establishments geltende parteilose Exverteidigungsminister Abdelkrim Zbidi auf 10,7 Prozent. Premierminister Youssef Chahed landete mit 7,4 Prozent abgeschlagen auf Platz fünf. Tunesiens ehemaliger Interimspräsident Moncef Marzouki - im Amt zwischen 2011 und 2014 - erzielte mit weniger als drei Prozent ein mehr als enttäuschendes Ergebnis.
Die Kandidaten kleinerer etablierter, aber weitgehend einflussloser Linksparteien fuhren derweil mit ihren klassischen Linksdiskursen krachend gegen die Wand. Mongi Rahoui und Hamma Hammami erreichten mit nur 0,8 und 0,7 Prozent der Stimmen desolate Resultate. Mit 3,6 Prozent gelang dem Menschenrechtler und Anwalt Mohamed Abbou, der ebenfalls dem linken Lager zugerechnet wird, immerhin ein Achtungserfolg.
Abbou hatte nach seinem überzeugenden Auftritt bei einer TV-Debatte eine Woche vor der Wahl, in deren Rahmen in drei Runden 24 der insgesamt 26 Präsidentschaftsanwärter ihre Wahlprogramme vorgestellt hatten, nicht nur tagelang für Gesprächsstoff im Land gesorgt, sondern in urbanen linken und liberalen Wählerschichten sogar verhaltende Hoffnungen auf ein gutes Abschneiden eines als progressiv geltenden Kandidaten geweckt. Allerdings vergeblich.
Laut und schrill: Karoui setzt auf mediale Inszenierung
Stattdessen zog der seit Mitte August auf Grundlage einer schon 2016 von der tunesischen NGO I-Watch eingereichten Klage wegen angeblicher Geldwäsche und Steuerhinterziehung inhaftierte Populist Nabil Karoui mit einem komfortablen Vorsprung vor dem Drittplatzierten Mourou in die Stichwahl ein. Der 56-Jährige sorgt dabei schon seit Monaten für eine beispiellose Fülle an Schlagzeilen und medialen Inszenierungen in Verbindung mit seiner Internierung, die Wasser auf den Mühlen seiner schrillen und mit viel Tamtam geführten Kampagne war.
Der Medienmogul inszeniert sich dabei durchaus erfolgreich als Opfer eines angeblich von Premierminister Chahed eingefädelten Komplotts, dessen Ziel es gewesen sein soll, im Vorfeld des Urnengangs einen aussichtsreichen Kontrahenten loszuwerden. Ob Chahed jedoch wirklich in der Lage gewesen war, die Justiz zu instrumentalisieren oder ob diese schlichtweg ihre Arbeit gemacht hat - unbeeindruckt und unabhängig vom Wahldatum - ist jedoch bis heute unklar. Dass Karouis Verhaftung ihm im Wahlkampf sogar hätten nützen können, dürfte auch Chahed klar gewesen sein.
Für Karouis Partei Qalb Tounes war dessen Verhaftung derweil zweifellos ein gefundenes Fressen, passte sie doch nahezu perfekt in die Anti-Establishment-Rhetorik seines Wahlkampfes. Karoui sei ein "politischer Gefangener", er sei "unschuldig", erklärte sein politischer Berater Osama Khalifi am Wahlabend gegenüber Telepolis. Nur vier Tage vor der Abstimmung war der ehemalige Topfunktionär der früheren Regierungspartei Nidaa Tounes zudem öffentlichkeitswirksam in einen Hungerstreik getreten.
Trotz seiner vormals aktiven Rolle in der bis Ende 2018 regierenden Nidaa Tounes präsentiert sich Karoui mit seiner Anti-Establishment-Haltung als Außenseiter und Anwalt der verarmten Massen im marginalisierten Süden und Westen des Landes. Während er seinen TV-Sender unverhohlen vor den Karren seiner Wahlkampagne spannte, poliert er seinen Ruf mit der wohltätigen Arbeit seiner Stiftung Khalil Tounes weiter auf und präsentiert sich geschickt als volksnah.
Selbst seine Wahlplakate stachen heraus. Im Gegensatz zu den meist emotionslos und steril daherkommenden Postern seiner Konkurrenten grenzte sich Karoui auf farbenfrohen Bilder von den langweiligen Kampagnen seiner Gegner ab und nahm ein Bad in der Menge oder unterhielt sich mit der einfachen Bevölkerung auf dem Land.
Aufgrund Karouis Inhaftierung sei die Wahlkampagne derweil zwar "schwierig", aber dennoch "außergewöhnlich", "voller Emotionen" und "voller Botschaften" gewesen, so Khelifi gegenüber Telepolis. Man habe keine "Rachsucht" und wolle Versöhnung, doch Karoui müsse freigelassen werden. Für die Stichwahl könne man keine Wahlkampagne machen, wenn der Kandidat weiter im Gefängnis sitze.
Dessen oberste Priorität sei es derweil, die Armut im Land zu bekämpfen. "Der Weg ist die Bekämpfung der Armut und die Öffnung der Märkte", so Khelifi. Wie genau Karoui das machen wolle, konnte Khelifi allerdings nicht ausführen. Das Ausarbeiten technischer Formalitäten der Strategie zur Armutsbekämpfung sei Aufgabe der "Techniker". Ein handfestes politisches Programm sieht anders aus.
Kaïs Saïed: Die Antithese zu Karoui und Mediengesellschaft
Die Positionen seines Gegenkandidaten in der Stichwahl sind derweil deutlich klarer und vor allem konsistenter, zieht Kaïs Saïed doch schon seit Jahren mit ein und denselben, teils hochkomplizierten Forderungen durchs Land. Das Gros der in Tunesien arbeitenden politischen Beobachter, Analysten und Journalisten - aus dem In- und Ausland - wurde jedoch auf dem falschen Fuß erwischt, war Saïeds gutes Abschneiden bei der Wahl doch für die meisten eine faustdicke Überraschung.
Kaum jemand hatte den 61-jährigen Verfassungsrechtler auf dem Zettel. Saïeds gute Umfragewerte, die sich seit seiner Ankündigung im Herbst 2018, für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen, konstant im zweistelligen Bereich bewegten, wurden von fast sämtlichen politischen Experten und Journalisten, inklusive dem Autor dieser Zeilen, massiv unterschätzt. Nur einige wenige verwiesen in den letzten Monaten immer wieder auf die - wie sich nun herausstellt durchaus ernstzunehmenden - Umfragewerte.
Der wesentliche Grund dafür dürfte Saïeds bemerkenswerte Abwesenheit in den Medien gewesen sein. Zwar kommentierte der Jurist in seiner Funktion als Verfassungsexperte in den letzten Jahren regelmäßig Fragen rund um Tunesiens Verfassung und wurde dabei von Zeitungen und TV-Sendern interviewt, doch im Wahlkampf präsentiert er sich als Antithese zu seinem Herausforderer in der Stichwahl.
Weder berief er einen richtigen Wahlkampfstab noch einen Pressesprecher ein oder flutete soziale Netzwerke mit Wahlkampfwerbung (Kampagne der Stille). Hinter ihm steht keine Partei und keine Wirtschafts- oder Staatslobby. Einer Partei werde er niemals beitreten, er versprach als Unabhängiger zu sterben.
Geldmittel standen ihm im Wahlkampf praktisch keine zur Verfügung. Selbst die staatlichen Wahlkampfbeihilfen lehnte er ab. Während Karouis Team nach Verkündung der ersten Hochrechnungen am Wahlabend am Sitz der Kampagne in einem schicken Vorort von Tunis eine regelrechte Party schmiss, fielen Saïeds Reaktionen auf die vorläufigen Ergebnisse eher verhalten aus.
Auch in der tunesischen Presse kam Saïeds Kandidatur nicht gut weg. Sein monotones öffentliches Auftreten und seine stakkatoartige und dröge Rhetorik brachten ihm Spitznamen wie "Roboter" und "Robocop" ein. Tunesiens liberale Eliten und auch ein wesentlicher Teil der Medienbranche hat zudem offenbar Probleme ihn zu verstehen, spricht Saïed doch meist auf Hocharabisch und nicht im tunesischen Dialekt.
Umso bemerkenswerter ist es demnach, dass der Jurist trotz seiner medialen Abwesenheit und seines unaufgeregten, intellektuell daherkommenden universitären Diskurses ein solches Ergebnis eingefahren hat.
Ultrakonservativ und politisch "radikal"
Seit Bekanntgabe der vorläufigen amtlichen Endergebnisse mäandern sowohl die lokale als auch die internationale Öffentlichkeit irgendwo zwischen Schnappatmung und Schockstarre hin und her. Wesentlicher Grund dafür sind Saïeds ultrakonservative gesellschaftspolitische Positionen, die schon im Wahlkampf massiv kritisiert wurden und seit Wochenbeginn abermals heiß diskutiert werden.
Der Todesstrafe steht er positiv gegenüber, während er ein gleichgestelltes Erbrecht für Frauen und Männer kategorisch ablehnt und mehrfach mit seinen Äußerungen zu Homosexualität für Aufsehen und Stürme der Entrüstung sorgte. Ausländische Finanzhilfen für Tunesiens Zivilgesellschaft brandmarkt er als Einmischung in innere Angelegenheiten.
Damit steht er für einen gesellschaftspolitischen Realismus, den man in der traditionellen Linken und dem liberalen Lager im Land vergeblich sucht. Tunesien gilt zwar als weltoffen, tolerant und liberal, doch die küstenfernen Regionen sind fest in konservativer Hand. Saïeds ultrakonservative Einstellungen dürften für seinen Einzug in die Stichwahl durchaus wichtig gewesen sein, konnte er damit doch auch in Ennahdas traditioneller Wählerbasis erfolgreich wildern.
Immer mehr Menschen sind von deren Politik enttäuscht, entfernt sich die Partei doch weiter sukzessive von ihrer sozial-konservativen Ideologie und schwenkte konsequent auf eine auf politischen Konsens setzende pragmatische Machtpolitik um, die allerdings im Rahmen der aktuellen Verfassung, des daraus resultierenden zersplitterten Parlaments und damit einhergehender schwieriger Mehrheitsfindungen in der Kammer auch bisher der einzige Weg war, eine Regierung einzusetzen.
Zentral in Saïeds Wahlprogramm sind jedoch offenbar nicht seine ultrakonservativen Ansichten, sondern seine Forderungen nach einer tiefgreifenden politischen Reform des Landes. Saïed will das politische System radikal dezentralisieren, damit die politische Macht in die Provinzen transferieren und Elemente der direkten Demokratie stärken.
Wichtige gesellschaftspolitische Fragen wolle er in Form öffentlicher Referenden zur Disposition stellen, während er eine Verfassungsreform anstrebt, in deren Rahmen die Parlamentswahl abgeschafft werden soll. Seinen Vorstellungen zufolge solle das Parlament nicht in einer landesweiten Abstimmung gewählt werden. Er will die Kammer mit Abgeordneten besetzten, die auf lokaler und regionaler Ebene von dort demokratisch berufenen Volksvertretern gewählt werden. Damit würden in der Tat die machtpolitischen Dynamiken im Land von Grund auf reformiert werden.
Soziale und wirtschaftliche Probleme könnten nach Einführung eines solchen Systems deutlich effektiver und vor allem im Interesse einzelner Provinzen angepackt werden, glaubt er. Die konfliktreiche Beziehung zwischen den im Parlament und in der Regierung in Tunis sitzenden Eliten und der strukturell vernachlässigten Bevölkerung im Hinterland würde damit auf den Kopf gestellt werden.
Vor dem Hintergrund möglicher Implikationen eines solchen Reformkonzeptes beschrieb Karim Marzouki Saïed daher schon in einem Artikel im Mai (in Arabisch) auch nicht als "populistischen", sondern als "radikalen" Präsidentschaftskandidaten, da er für einen radikalen Wandel der politischen Realität im Land stehe.
Neue Phase für Tunesiens Demokratie
Saïeds Einzug in die Stichwahl kann daher durchaus als Absage der Wählerschaft an die seit Jahren vorherrschende konsensorientierte pragmatische Politik etablierter Parteien verstanden werden. Vor allem in Tunesiens Hinterland, dessen soziale und wirtschaftliche Lage sich seit der Revolution von 2011 kaum bis gar nicht verbessert hat, scheinen Forderungen nach einem radikalen Systemwandel wieder Hochkonjunktur zu haben.
Gewiss dürfte Saïed auch aufgrund seiner ultrakonservativen Positionen Zuspruch erhalten haben. Doch dass sich viele für ihn und gegen Ennahdas Kandidaten Mourou entschieden haben, zeigt ebenfalls, dass als etabliert geltende politische Parteien auch im islamistisch-konservativen Spektrum zunehmend an Einfluss und Zugkraft verlieren. Mit seiner Mischung aus gesellschaftspolitischem Realismus und Forderungen nach radikalen politischen Reformen hat Saïed den Nerv zahlreicher von der politischen Klasse und der sozioökonomischen Misere frustrierter Wähler getroffen.
Ob er für eine solche Reform - sollte er die Stichwahl gegen Karoui tatsächlich gewinnen - jedoch eine Mehrheit in dem im Oktober neu zu wählenden Parlament finden würde, ist ungewiss und zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher unwahrscheinlich, doch bei einem überraschend großen Anteil der tunesischen Bevölkerung kam Saïeds zentrale Botschaft nach einem Machttransfer in die Provinz an.
Auch bei der Parlamentswahl dürften etablierte politische Parteien abgestraft werden. Schon bei den Kommunalwahlen 2018 verloren diese massiv an Zustimmung, während unabhängige Listen überraschend stark abschnitten. Dieser Trend dürfte sich im Oktober fortsetzen.
Seit Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse überwiegen derweil warnende Stimmen über die Akzeptanz des demokratischen Systems im Land, denn die Wahlbeteiligung bei der erste Runde dieser Präsidentschaftswahl lag bei nur 45 Prozent. 2014 war die Quote im ersten Wahlgang noch deutlich besser und lag bei fast 63 Prozent - allerdings nur in relativen Zahlen gemessen.
Denn seither haben sich mehr als 1,5 Millionen Menschen zusätzlich in die Wählerregister eintragen lassen - und das in einem Land mit nur rund elf Millionen Einwohnern. In absoluten Zahlen gerechnet sind die Unterschiede in Sachen Wahlbeteiligung zwischen 2014 und 2019 folglich nur marginal. Einen Abgesang auf die Akzeptanz des demokratischen Systems in Tunesien anzustimmen ist demnach mehr als verfrüht. Tunesiens Demokratie lebt - und wie.