Pop-Marxismus

Seite 2: Verantwortung

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»Das Gewissen, mein Lieber, ist ein Stock, mit dem man seinen Nachbarn verprügelt, aber nie sich selbst. Ach zum Teufel, was wollen Sie eigentlich? [...] Sie, der Sie Geist zu haben scheinen, der Sie zur Unabhängigkeit des Denkens gelangen werden, die in unserer Welt die intellektuellen Abenteurer haben müssen, Sie baden sich in den Skrupeln einer Nonne, die sich vorwirft, ihr Ei in fleischlicher Begierde gegessen zu haben?«

(Honoré de Balzac, Verlorene Illusionen, Berlin und Weimar 1985, S. 304f.)

Blöde Argumente werden von den Mächtigen selten dazu benutzt, um auf ihren darin nicht enthaltenen rationalen Kern hinzuweisen, sondern eher, um das Falsche mit den für die Bevölkerung scheinbar richtigen Mitteln zu tun. Dabei ist es in diesem Sinne tatsächlich nicht schön, sich tagaus tagein sein Hirn von fremden Idioten bumsen zu lassen, denn selbst wenn man über Abwehrmittel im Geiste verfügt, sind die Nebenwirkungen unangenehm und bisweilen fatal. Man kann zwar den gröbsten Blödsinn abwehren, schließlich stellt sich jedoch Ermüdung ein und Wiederholung tritt an die Stelle von Erkenntnis. Kaum hat man fünftausendmal vernommen, »wir« wären aus den und den Gründen verpflichtet, »Verantwortung« zu übernehmen, schon glaubt man selber dran.

Philosophisch bestimmt man Verantwortung als eine vernünftige Wahl von Handlungen auf der Grundlage der adäquaten Erkenntnis der Wirklichkeit sowie der rationellen Kalkulation der Zwecke, Mittel und ihrer Konsequenzen. Da haben wir schon das erste Problem: Setzt Verantwortung nicht eine Gesellschaft voraus, in welcher die Individuen gemäß ihren Absichten agieren können? Dies ist im Kapitalismus empirisch nicht der Fall, denn hier kommt es zu einer Verselbständigung der von den Menschen selbst produzierten Strukturen, denen sie sich mit ihren Bedürfnissen, Zwecken und Tätigkeiten unterzuordnen haben. Was also bedeutet Verantwortung für eine Gesellschaft, in der die Zwänge des Wirtschaftswachstums herrschen und in der es zunehmend unmöglich wird, die Folgen des Handelns zu überblicken?

Nach Aristoteles (Nikomachische Ethik III, 3. Kap., 1111a) können ausschließlich Individuen Verantwortung haben, da nur sie mit Selbstbewusstsein und Willen ausgerüstet sind und für ihr Handeln sind sie auch nur dann verantwortlich, wenn sie wissen, was sie wollen und es auch versuchen, weil sie das Vermögen dazu besitzen. Nicht verantwortlich sind die Menschen für die Voraussetzungen ihres Handelns und schon gar nicht für die Zwänge des verselbständigten Wirtschaftswachstums, die es eben nicht gibt, weil sie irgendjemand will, sondern weil sie sich hinterrücks einstellen. »Verantwortung« bedeutet somit zweierlei: Die Menschen sollen sich für die äußeren Zwänge, die sie nicht zu verantworten haben, subjektiv zuständig fühlen und dann auch noch danach handeln. Gosh!

Und: Das Gerede von der »Verantwortung« Deutschlands für so feine Sachen wie den Weltfrieden ist absoluter Mummpitz, weil überindividuelle Entitäten gar keine haben können. Aus gutem Grund also waren die edlen Parolen der Ökologie- und Friedensbewegung noch nie so wertvoll wie heute, wo man sie zur Rechtfertigung stinknormaler Out-of-area-Einsätze gebrauchen kann. Man beginnt zu ahnen, warum hierzulande Aristoteles nicht gerne begriffen wird. Denn hier hat einer die Mittel zu einem Denken bereit gestellt, das einen zu mehr ermächtigen würde, als Eis der Sorten »Selbstmitleid« und »Erhabene Empörung« aus der eigenen Hirnschale zu löffeln.

Andererseits: Warum nicht? Wie die WM und die Loveparade bewiesen haben, sind wir mental bereits ein fröhliches Dritte-Welt-Land, jetzt fehlen nur noch die passenden südamerikanischen Umstände zur Frisur von Thorsten Frings und dem Stahlbad-Samba à la Dr. Motte, aber das werden wir in Deutschland mit vereinten Kräften auch noch hinbekommen!

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