"Power to Gas" – statt Erdgas
Die EU-Taxonomie und das Erdgas: Brauchen wir wirklich mehr von diesem Brennstoff für den Klimaschutz? Eine Analyse des Marktes in Deutschland
Wir schreiben das Jahr 2030 und die bundesdeutsche Regierung hat ausnahmsweise wirklich einmal erreicht, was sie sich 2021 als Ziel vorgegeben hat: 80 Prozent des Stroms werden in Deutschland aus Erneuerbaren Energieträgern produziert. Und angenommen, die Bundesrepublik ist dann tatsächlich aus der Kohleverstromung ausgestiegen, wie 2021 im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung avisiert: Brauchen wir dann mehr oder weniger Erdgas in Deutschland als heute?
Oder anders gefragt: Ist es wirklich sinnvoll, jetzt über die "Taxonomie" der EU Investitionsanreize für eine neue Erdgas-Infrastruktur zu setzen? Es geht um milliardenschwere Fördertöpfe, mit deren Hilfe die EU ihre Klimapolitik neu organisieren will: Mit Hilfe des Pakets "Fit for 55" sollen die 27 Mitgliedsstaaten ihre Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent reduzieren.
Es geht mit der Taxonomie aber auch um Investitionen der Privatwirtschaft oder um Orientierung für Anleger auf dem Kapitalmarkt: Wenn Erdgas jetzt als "klimafreundlich" oder "nachhaltig" eingestuft wird, können neu gebaute Kraftwerke mindestens 30 Jahre laufen. Spätestens 2050 will die EU aber klimaneutral sein.
Vorteil: Gaskraftwerke sind schnell hochgefahren
Für die Stromversorgung bieten Gaskraftwerke einen wesentlichen Vorteil, sie sind binnen weniger Minuten voll leistungsfähig, liefern bereits nach einem kurzen Augenblick, in dem die Anlagen hochgefahren werden, für die Netzbetreiber verlässlich planbar Strom. Beim Hochfahren von Kohlekraftwerken ist das erst nach Stunden der Fall, Atomkraftwerke, ans Netz zu bringen, kann sogar mehrere Tage dauern.
Deshalb eignen sich Gaskraftwerke perfekt als Brückentechnologie für die Energiewende: Immer dann, wenn die Sonne nicht genügend scheint, zu wenig Wind bläst und die Biomassekraftwerke nicht hinter der Stromnachfrage herkommen, können Gaskraftwerke einspringen.
Expert:innen prognostizieren deshalb, dass wir mehr Gaskraftwerke brauchen, um auf Flauten oder Tage ohne Sonnenschein reagieren zu könne. Die staatliche Deutsche Energieagentur der derzeitigen Kraftwerkskapazität von knapp 27 Gigawatt für notwendig, 2030 müsse eine Leistung von 47 Gigawatt zur Verfügung stehen, 2045 dann sogar 59 Gigawatt. Die Studie "Klimaneutrales Deutschland 2045" hält im Jahr 2030 sogar Gaskraftwerke mit einer Leistung von 43 Gigawatt für notwendig, bis 2045 sind es dann 71 Gigawatt.
Emissionszahlen sind nur die halbe Wahrheit
Allerdings haben Gaskraftwerke für den Klimaschutz einen wesentlichen Nachteil: Sie werden mit einem fossilen Brennstoff betrieben, dessen Abfallprodukte die Atmosphäre aufheizen und uns so in Katastrophe treiben. Hauptbestandteil von Erdgas ist Methan, das kurzfristig eine 82-mal so schädliche Treibhauswirkung entfaltet wie CO2.
Bei der Verbrennung erzeugt Erdgas zwar weniger Kohlendioxidäquivalete als Braun- oder Steinkohle, pro Kilowattstunde Strom verursacht die Braunkohle mehr als ein Kilogramm Kohlendioxid, bei Steinkohle ist es ungefähr ein Kilo, bei Erdgas je nach Technik zwischen 410 und 640 Gramm. Das bedeutet eben auch: Wer Klimaschutz will, der muss mittelfristig dringend auch aus der Verbrennung von Erdgas aussteigen.
Zumal die Emissionszahlen nur die halbe Wahrheit widerspiegeln. Bezieht man nämlich Förderung und Transport mit in die Bilanz ein, ist Erdgas fast so klimaschädlich wie die Kohle. Das Phänomen nennt sich Vorketten-Emissionen: Leckagen bei der Förderung, Lecks in den Pipelines, hunderte Tonnen Methan, die aus stillgelegten Bohrlöchern entweichen oder Erdgas, das bei der Erdölförderung als Nebenprodukt immer noch größtenteils abgefackelt wird.
"In der Öffentlichkeit ist es gelungen, Erdgas als 'klimafreundlich' darzustellen", urteilt Claudia Kemfert, die zum Thema geforscht hat. Die Energie-Expertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): "Auch einige Umweltverbände haben in der Vergangenheit oftmals zu wenig auf die schlechte Klimabilanz insbesondere bei Förderung und Transport verwiesen." Es sei schlichtweg "falsch", Erdgas via EU-Taxonomie als nachhaltig einzustufen.
Im vergangenen Jahr produzierten die Gaskraftwerke in Deutschland 89 Milliarden Kilowattstunden Strom, 15,3 Prozent der Gesamtstrommenge Deutschlands. Allerdings hätten sie technisch auch deutlich mehr produzieren können: 2020 lieferten die Gaskraftwerke beispielsweise 16,7 Prozent und selbst da waren sie nicht ausgelastet. "Aber das ist ihr Wesen, Gaskraftwerke sind sehr wenig ausgelastet", erläutert Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin.
Trotzdem sei ein weiterer Ausbau zwingend. Quaschning illustriert das an aktuellen Zahlen zur Stromproduktion: "Am 1. Januar hatten wir zu fast 100 Prozent Windstrom-Versorgung, am 10. Januar waren es nur zehn Prozent". Wenn künftig die Kohlekraftwerke abgeschaltet sind, müssen in solchen Fällen Gaskraftwerke einspringen und die Lücke füllen. "Allerdings nicht mit Erdgas, sondern mit grünem Wasserstoff", wie Quaschning erläutert: Immer dann, wenn viel Wind- und Solarstrom im Netz ist, müssten künftig Elektrolyseure anspringen, um aus Wasser Sauerstoff und Wasserstoff zu machen.
"Der perfekte Speicher grüner Energie", urteilt Quaschning: Wasserstoff kann als Gas nämlich ins Erdgasnetz eingespeist werden und immer dann, wenn Flaute herrscht, zurück in Strom verwandelt werden. Noch sind solche "Power to Gas" genannte Verfahren in der Entwicklung, aber sie sind notwendig, wie Quaschning erläutert: "Mit fossilem Erdgas kann man keine Klimaneutralität erreichen".
Nur "Argument, sich beim Umstieg auf Wasserstoff Zeit zu lassen"
Deshalb sei es Unsinn, wenn die Europäische Kommission Erdgas für ihre Klimapolitik jetzt via Taxonomie als "klimafreundlich" empfiehlt und diese dem Kapitalmarkt als Steuerungsinstrument an die Hand gibt. Zwar sieht der Kommissionsentwurf vor, dass in neuen Gaskraftwerken ab 2026 mindestens 30 Prozent und ab 2030 mindestens 55 Prozent "CO2-arme"-Gase eingesetzt werden müssen – Biomethan beispielsweise oder eben Wasserstoff.
Quaschning fordert aber von der EU, die Erdgastechnologie zu überspringen und an ihre Stelle die Wasserstofftechnik zu setzen: "Wenn Erdgas jetzt 'nachhaltig' gelabelt wird, gibt das der Erdgaslobby ein gutes Argument, sich bei dem Umstieg auf Wasserstoff Zeit zu lassen".
Zum Beispiel bei der Erdgaspipeline Nord Stream 2: "Wenn die Pariser Klimaziele ernsthaft umgesetzt werden, wird sich der heutige Gasverbrauch bis 2030 halbiert haben müssen", sagt Claudia Kemfert. Deshalb braucht Deutschland weder eine neue Pipeline aus Russland noch einen Hafen für flüssiges Erdgas: Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch Finanzminister unter Angela Merkel (CDU) war, stellte er eine Milliarde Euro an Fördermitteln in Aussicht, um an der deutschen Küste ein Terminal für dieses LNG genannte Erdgas zu bauen.
Der gasförmige Energieträger wird bei diesem Verfahren so weit nach unten gekühlt, dass er den Aggregatszustand ändert und flüssig wird: LNG weist nur etwa ein Sechshundertstel des Volumens von gasförmigem Erdgas auf und kann deshalb wirtschaftlich per Schiff transportiert werden.
Warnung vor der "Carbon Bad Bank"
Mittlerweile hat sich der Hauptinvestor aus dem deutschen Projekt zurückgezogen. Flüssigerdgas, etwa aus den USA, wie deren Ex-Präsident Donald Trump es gern wollte, wird es in Deutschland nicht geben. Denn wer heute in neue Erdgas-Pipelines oder Kraftwerke, in Erdgas-Verteilstationen oder -Speicher, oder in neue Erdgas-Infrastrukturen wie Pipelines investiert, der will aus diesem Investment schließlich auch in mindestens 30 Jahren noch Rendite sehen – dann, wenn die EU längst klimaneutral sein will. Klimaneutral bedeutet, nicht mehr Treibhausgase zu produzieren, als von der natürlichen Umwelt wieder abgebaut werden.
"Wir müssen jetzt in die Wasserstofftechnologie einsteigen", sagt Volker Quaschning. Weil es Dinge wie "Essen", "Wohnen" oder "Mobilität" gibt – Fleisch ist ähnlich klimaschädlich wie das Bauen mit Beton oder unsere Mobilität – gilt Erdgas als "low hanging fruit": Es ist relativ einfach, darauf zu verzichten, schon in wenigen Jahren können wir das.
Claudia Kemfert warnt die EU aber nicht nur wegen der Klimawende, jetzt mit der Taxonomie ein falsches Signal zu geben: "Fossiles Kapital erfährt aufgrund des Klimaschutzes eine zunehmende Abwertung". Wer dafür nicht rechtzeitig die notwendige Transparenz schafft, der riskiere eine Finanzkrise – in der diesmal eine Art "Carbon Bad Bank" toxisches fossiles Kapital mit Steuergeldern aufkaufen muss, um umzusteuern.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.