Präsident auf Distanz zum "Diktat der Wissenschaftler"
Corona: Macron ist nun "Chefepidemiologe". Sein Modell steckt in der Krise
Emmanuel Macron sperrte sich seit Jahresanfang 2021 Monate hindurch, den im Januar von ärztlicher Seite und vom Gesundheitspersonal immer wieder eingeforderten neuerlichen Lockdown zu verhängen. Als am 29. Januar die Situation diesbezüglich auf der Kippe zu stehen schien - im Zusammenhang mit der Ausbreitung der britischen Virus-Variante -, hätte laut Umfragen in bürgerlichen Leitmedien zu dem Zeitpunkt auch eine Mehrheit von rund 60 % der Französinnen und Franzosen eine solche Entscheidung unterstützt.
Teil 1 des Lageberichts zu Frankreich: "Härter als Le Pen"
Dies war für die (mehrheitliche) Öffentlichkeit auch mit der Hoffnung verbunden, ein zeitig kommender und relativ konsequent umgesetzter Lockdown könne auch eine relativ frühzeitige Beendigung der Maßnahme mit sich bringen - wie es im Vereinigten Königreich derzeit tatsächlich der Fall zu sein scheint.
Daraus wurde in Frankreich nichts, derzeit ist das Land mit 84.999 bestätigten Neuinfektion von 07. auf 08. April eher ein besonderes Negativbeispiel in Europa. Eventuell hätte ein früherer und konsequenterer Lockdown als der derzeit geltende, seit dem 31. März von den anfänglich betroffenen Krisenzonen (Nordostfrankreich, Raum Nizza, dann ab dem 18.03.21 der Großraum Paris) nun auf ganz Frankreich ausgedehnte Regelwerk dies verhindern können.
Macron entschied sich jedoch Ende Januar und nochmals im März dagegen und für stärker abgestufte, aber auch weniger durchschaubare und weniger wirksame Maßnahmen. Diese beruhen im Wesentlichen darauf, im Bereich der privaten Kontakte die Zügel angezogen zu halten, unter anderem mit einer Ausgangssperre ab 18 Uhr - Mitte März wurde sie im Vorgriff auf die Sommerzeit auf 19 Uhr hinausgeschoben - und Alkoholverboten an privaten Sammelpunkten wie am Seineufer in Paris. Jedoch geht es Macron auch darum, bewusst weite Teile der Produktion und des Arbeitslebens weitgehend unbeeinträchtigt weiter laufen zu lassen.
Im März 2020 waren, im Unterschied zu Deutschland, weite Teile der nicht kurzfristig gesellschaftlichen erforderlichen Produktion (also Wirtschaftszweige, die nicht bspw. die Nahrungsmittel-, Arzneimittel- oder Energieproduktion und -verteilung betreffen) in Frankreich vorübergehend eingefroren worden. Noch im Laufe des ersten Lockdown, er dauerte bis zum 10. Mai 2020, wurde das Wirtschaftsleben sektorenweise wieder aufgenommen.
Allerdings (jedenfalls in Konfliktfällen) unter gerichtlicher Kontrolle, die auf eine Einhaltung sanitärer Standards, aber auch eine gesellschaftliche Bedarfsprüfung achtete. Amazon wurde etwa im April 2020 in Frankreich verurteilt und musste darauf verzichten, Sex-Toys und DVDs auszuliefern, durfte jedoch medizinische Produkte, Waren für tägliche Körperhygiene und Tiernahrung transportieren. So weit die Situation vor einem Jahr.
Überfüllte öffentliche Transportmittel
Die heutige Situation im Land unterscheidet sich erheblich von der damaligen. Das Wirtschaftsleben läuft, aus Sicht der Arbeitgeber, weitgehend "ungestört" weiter - abgesehen vom Gastronomiesektor und den ebenfalls geschlossenen Kultureinrichtungen. (Abgesehen ferner auch vom Tourismus- und Hotelsektor und den Fluggesellschaften, die zwar keinen Öffnungsverboten, jedoch einem Nachfragemangel unterliegen.)
Anders als im Frühjahr 2020 in Frankreich betreffen die jetzigen Einschränkungen fast ausschließlich die private und zwischenmenschliche Geselligkeit und nur sehr wenig die Produktion. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass öffentliche Transportmittel vor allem zu Stoßzeiten mitunter überfüllt sind, vielleicht sogar stärker als in Nicht-Pandemie-Zeiten, da das Herannahen der Sperrstunden für den gleichzeitige Einstieg sehr vieler Nutzer sorgt.
Seit dem neuesten Maßnahmenbündel vom 31. März kommen nun noch konzentrische Kreise von zehn Kilometer, dreißig Kilometern und darüber hinaus hinzu: In dem jeweiligen Radius herrscht für jeweils bestimmte Zwecke Bewegungsfreiheit. Innerhalb von zehn Kilometern Reichweite auch für private Zwecke (im Frühjahr 2020 war es nur ein Kilometer), innerhalb von dreißig für das Arbeitsleben und Behördengänge, darüber hinaus "aus wichtigem Grund".
Gespaltene Bevölkerung
Diese Widersprüchlichkeit und relative Undurchschaubarkeit des neuen Maßnahmenpakets, vielleicht auch größere Zweifel an seiner Wirksamkeit sorgen für geringere Akzeptanz. Durch sein Hinausschieben von Entscheidungen im Januar dieses Jahres und durch die dann im März verhängten Beschlüsse hat Emmanuel Macron sogar möglicherweise offen die Chance vertan, diese mit Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit durchzuziehen - dort, wo die Öffentlichkeit in deutlicher Mehrheit zu einem einmonatigen Lockdown bereit schien, zeigt sie sich heute erheblich gespaltener als damals.
Über fünfzig Prozent finden die jetzigen Maßnahmen laut Umfragen richtig, doch ebenfalls über fünfzig Prozent wollen sich demzufolge privat über dieselben hinwegsetzen.
Macron hatte im Januar dieses Jahres großen Wert darauf gelegt, über die Medien systematisch verbreiten zu lassen, er habe sich tage- und nächtelang in die Materie (Seuchenmedizin) eingelesen und wolle sich vom "Diktat der Wissenschaftler" emanzipieren emanzipieren - um, mit anderen Worten, nur nicht länger auf diese hören zu müssen.
Darin gefolgt etwa durch den tagaus, tagein weitgehend die extreme Rechte hofierenden TV-Sender CNews, Privateigentum des Milliardärs Vincent Bolloré, wo in diesem Zusammenhang auch schon mal von "ärztlichem Terrorismus" schwadroniert wurde.
Entsprechend schlägt ihm nun höchst ironisch und spöttisch aus vielen Medien die Bezeichnung und vor allem aus dem Internet als "oberster Staats-" oder "Chefepidemiologe" entgegen.
Hätten nicht prominente Mediziner:innen im Laufe der zweiten Märzhälfte des Jahres die Alarmglocke geschlagen und in der Sonntagszeitung JDD angekündigt, es werde bei ausbleibendem Gegensteuern in allernächster Zukunft unausweichlich, "Katastrophenmedizin" und "Triage" zu praktizieren - man könne also bestimmte Patient:innen nicht mehr behandeln -, wäre es vielleicht mit Macrons Durchwurschteln noch Wochen hindurch weitergangen.
Mobilisieren von Personalreserven
In Reaktion auf den entsprechenden Druck hielt Macron dann am 31. März seine bisher jüngste TV-Ansprache zur Pandemiebekämpfung. In ihr verkündete er aber im Kern auch nur eine Ausweitung des bereits in den Wochen zuvor in Krisenzonen (von Dunkerque über Nizza bis Paris) geltenden, oben beschriebenen Corona-Regimes auf das übrige Frankreich.
Hinzu kamen die drei- bis vierwöchigen Schulschließungen - über die Bildungsgewerkschafter jedoch bereits erklären, sie fürchteten, diese würden nicht ausreichen, falls nun nicht dieser Monat dazu genutzt werde, in anderweitige Maßnahmen zu investieren. Vielleicht in die durch Teile der Opposition geforderten Luftfilter…?
Ebenfalls hinzu kommt der Aufbau der Intensivbettenkapazität von 5.000 vor der Pandemiekrise auf in Kürze geplante 10.000, was einige Notfallmediziner nur vorläufig beruhigte. Eine Untersuchung der Qualitätszeitung Le Monde kommt allerdings zu dem Schluss, dieses Ziel sei kurzfristig "wenig realistisch", in Anbetracht dessen, in welchem Ausmaß man das Gesundheitspersonal sich schon bislang verausgaben lassen.
Von Regierungsseite versucht man nun durch das Mobilisieren von Personalreserven, etwa aus dem bislang nicht im Pflegebereich eingesetzten Verwaltungspersonal von Gesundheitseinrichtungen oder unter verrenteten Fachkräften, kurzfristig gegenzusteuern.
Der Aufbau der Intensivbettenkapazität wird jedoch auch damit einhergehen, dass in anderen (nicht mit Covid-19 zusammenhängenden) medizinischen Bereichen Operationen abgesagt oder aufgeschoben werden, was etwa im Bereich der Krebsvorsorge allerdings Leben zu kosten droht.
Die politische Wette
Alles in allem zieht Macron durch sein Auftreten als "Chefepidemiologe" eine enorme politische Verantwortung auf sich. Sein Vorgehen in der Pandemie wird nun vielfach, in Qualitäts- wie in Boulevardmedien, als politische "Wette" (pari) bezeichnet. Seine Wette beruht darauf, dass der Effekt der Impfkampagne rechtzeitig greifen wird, bevor seine Maßnahmen sich als nicht ausreichend wirksam herausstellen.
Geht seine Wette schief, dürfte es Emmanuel Macron anzuraten sein, sich tatsächlich nicht zur nächsten Wahl zu stellen. Abgesehen von dem politischen Effekt, welcher droht, falls sich herausstellt, dass es tatsächlich stimmt, was am Osterwochenende als Nachricht über alle Medienkanäle lief - dass also angeblich Minister der amtierenden Regierung an Gelagen in "klandestinen Restaurants", also illegal geöffneten Gaststätten, in denen sich Mitglieder der so genannten Eliten für 200 Euro das Gedeck und ohne Mund-und-Nasen-Schutz treffen, teilnahmen.
Diese Behauptung oder dieses Gerücht wurde zunächst durch den mutmaßlichen Organisator, den exzentrischen Geschäftsmann und Sammler von Napoléon-Devotionalien, Pierre-Jean Chalençon, in die Welt gesetzt. Nur ließ dieser es mittlerweile über seinen Anwalt wieder dementieren. Innenminister Darmanin kündigte strafrechtliche Ermittlungen zum Thema an.
Bleibt es diesbezüglich bei einem Gerücht, dann dürfte es in einigen Wochen wieder vergessen zu sein. Stellt sich die Sache jedoch als fundiert heraus, dann dürfte die Auswirkung auf Präsident Macron und seine Umgebung so verheerend sein, wie seine Krisenpolitik selbst möglicherweise ausfällt. Ein möglicher Kollateralschaden daraus könnte darin bestehen, dass die Chancen für Marine Le Pen auf einen Einzug in den Elysée-Palast wachsen.