Präzise Bomben - unkontrollierbare Schäden

Studie ermittelt akute Gesundheitsgefährdung und wachsende Umweltschäden durch NATO-Bomben auf Jugoslawien vor drei Jahren

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Mit der präzisen Bombardierungen ausgewählter Ziele wollte die NATO nach eigener Darstellung die zivilen Opfer unter der Bevölkerung Jugoslawiens bei den Luftangriffen im Frühsommer vor drei Jahren möglichst gering halten. Das ist nicht gelungen. Es sind nicht nur mehrere hundert Zivilisten als sogenannte Kollateralschäden durch Bombenangriffen getötet worden, eine detaillierte Analyse des Washingtoner Institute for Energy and Environmental Research (IEER) zeigt jetzt auch, wie gerade die punktgenaue Zerstörung von Industrieanlagen aus der Luft zu langfristigen und großflächigen Umweltweltschäden führte. Diese werden die Gesundheit der Bevölkerung in Jugoslawien noch jahrelang akut gefährden und auf Grund ausbleibender Entsorgungsarbeit in ihrer tödlichen Wirkung sogar noch zunehmen. Mit Blick auf einen möglichen Krieg gegen Irak warnt das IEER, dass eine "präzise Zielfindung" keineswegs bedeute, dass "der Schaden am Boden auch präzise und begrenzt" sei.

Die 103-seitige Studie untersucht neben den Schäden in der Industriestadt Kragujevac vor allem die Situation in der wenige Kilometer nordöstlich von Belgrad gelegenen Stadt Pancevo. Als die NATO dort Mitte April 1999 die Raffinerie NIS, die Kunststofffabrik HIP Petrohemija und die Düngemittelfabrik HIP Azotara bombardierte, kamen unmittelbar zwar kaum Zivilisten zu Schaden. Doch die Bomben zerstörten Fabrikationsanlagen, Lager und Treibstofftanks, die teilweise in Brand gerieten. Pancevo ist der bedeutendste Standort der petrochemischen Industrie in Jugoslawien und liegt direkt an der Donau, der wichtigsten Wasserstraße auf dem Balkan.

Nach den wiederholten Bombenangriffen stand tagelang eine dunkle Rauchwolke über der Stadt. Insgesamt wurden dem Bericht zufolge neben zahlreichen weiteren gefährlichen Substanzen 460 Tonnen des zur PVC Produktion benötigten hochgradig krebserregenden Vinylchlorids, 2100 Tonnen des hochtoxischen Lebergiftes 1,2-Dichloräthans, acht Tonnen hochgiftigen Quecksilbers, 250 Tonnen atemwegreizenden Ammoniaks und 85.000 Öl und Ölderivate freigesetzt. Bei der Verbrennung großer Mengen des Öls wurden ebenfalls krebserregenden Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK) frei.

In weiser Voraussicht und aus Angst vor den brennenden Chemikalien verließen kurz nach dem Beginn der Bombardierungen 40.000 Bewohner die Stadt. Am 18. April, auf dem Höhepunkt der Angriffe, evakuierten die jugoslawischen Behörden zusätzlich 80.000 Menschen aus Pancevo und den umliegenden Dörfern. Nach dem Ende der Bombardierungen kehrten die meisten aber zurück. Seither sind sie der Studie zufolge akuten Gefährdungen ausgesetzt, die weiter wachsen solange keine gründliche Entsorgung der vergifteten Böden stattfindet.

"As time passed and aggressive cleanup was delayed, the problems of environmental remediation became increasingly complex due to the spread of the contaminants. (...) Urgent steps need to be taken in order to ensure that the problems do not worsen."

Eines der zahlreichen drängenden Probleme sind die großen Mengen an 1,2-Dichloräthan, die in Folge der Bombenangriffe vom 15. und 18. April 1999 freigesetzt wurden. Als die Tanks der Plastikfabrik HIP Petrohemija getroffen wurden, liefen 2.100 Tonnen des giftigen Stoffes aus. Etwa die Hälfte davon landete auf einem Grundstück, dessen Abfluss in einen Abwasserkanal mündet. Messungen der Belastung des Grundwassers in Pancevo haben ergeben, dass die US-Grenzwerte für das Gift in einigen Fällen bereits jetzt um das mehrere tausendfache übertroffen werden. Da sich der Stoff im Grundwasser schnell verbreitet, wird sich das Problem voraussichtlich weiter verschärfen.

"The U.S. EPA regulations stipulate that concentrations of 1,2-dichloroethane in drinking water should not exceed 5 micrograms per liter (µg/L, or 5 parts per billion by weight). Concentrations in the groundwater around Pancevo are, in some cases, several thousand times above this limit. This problem will likely worsen because approximately half of the 2,100 metric tons that spilled was released onto the soil surface. Since 1,2- dichloroethane is very mobile in soil, it can be expected to migrate quickly through the vadose zone. Once 1,2-dichloroethane is in the groundwater, it can present a long-term threat."

Ein zweites im wahrsten Sinne schwerwiegendes Problem stellen die acht Tonnen Quecksilber dar, die in der HIP Petrohemija an die Umwelt freigesetzt wurden. Die größte Menge konnte zwar mittlerweile eingefangen werden, aber 200 Kilogramm des sich in Bioorganismen anreichernden Giftes landeten ebenfalls im Abwasserkanal. Um den US-Grenzwert für Trinkwasser zu erreichen, müssten sie mit 100 Milliarden Liter Wasser verdünnt werden.

Auch die Verbrennung von 80.000 Tonnen Ölprodukten hinterließen mehr als eine bedrohliche Rauchwolke, die der Regen, welcher während der Brände einsetzte, rein wusch. Etwa zehn Hektar Land (100.000 Quadratmeter) wurden schwer verseucht. Nicht nur Arbeiter, die mit dem verseuchten Boden in Berührung kommen, sind gefährdet, sondern auch Menschen, die das Grundwasser für die Landwirtschaft und als Trinkwasser nutzen. Das IEER warnt vor möglichen Atemwegserkrankungen, Leberschäden und Krebs.

"The oil spills in Pancevo present a threat to the public in two ways. First, the threat to workers who might inhale the vapors of the spilled oil products. Second, the oil products are moving through the vadose zone into the groundwater. This threatens agricultural land and people downstream that use groundwater for irrigation and drinking water. Chronic exposure to these petroleum products could lead to a variety of health problems, including respiratory disorders, liver disorders, kidney disorders, and cancer depending upon the specific compounds a person is exposed to and the length of exposure. Cleanup must be done quickly if these unnecessary consequences are to be minimized, or prevented."

Das IEER hat sich bei seinen Recherchen auf Pancevo und Kragujevac beschränkt. Insgesamt wurden vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP nach Ende der Bombardierungen aber acht Städte als ökologisch zerstörte "hot spots" klassifiziert, in denen insgesamt mehrere hunderttausend Menschen wohnen. Sie leben weitgehend in Unkenntnis über die Gefährdungen, die sie umgeben. Das IEER stellt fest, dass neben dem schleppenden Entsorgungsprozess auch der Informationsfluss stockt.

"Monitoring data was either not made available or does not exist. It is impossible to conclude definitively what are the major risks and how many of these risks exist today due to the bombings."

Dennoch reichen die vorhandenen Informationen aus, um nicht nur eine schwere Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung feststellen zu können, sondern auch die Frage aufzuwerfen, ob die Bombardierungen der NATO als Kriegsverbrechen zu betrachten sind. Nach den Genfer Konventionen von 1949/1950 und den Zusatzprotokollen von 1977/1978 liegt dieser Verdacht nahe, meint das IEER. Der Artikel 35 des ersten Zusatzprotokolls verbietet bei der Kriegführung unter anderem den Einsatz von Waffen und Methoden, die weiträumige, langfristige und ernsthafte Umweltschäden zur Folge haben. Abgesehen davon ist die Kriegführung gegen zivile Ziele, und dabei handelte es sich in Pancevo, ohnehin verboten.

Um der Frage nachzugehen, warum die NATO-Zielplaner die Industrieanlagen von Pancevo auf die Liste gesetzt haben, forderte das IEER unter Berufung auf den Freedom of Information Act die entsprechenden Dokumente aus dem Pentagon an. Doch als Antwort gab es nur leeres Papier, da die Informationen der Geheimhaltung unterliegen.

"In order to obtain an official rationale for the bombings of the facilities presented in this report, a request was made by IEER in January 2001 under the Freedom of Information Act to the United States Department of Defense for documents outlining the strategic value of these plants. The request was denied in a rather odd way. A document was sent to IEER that contained nothing but blank pages showing classification marks that had been cancelled."

Wer für die Zielauswahl verantwortlich war, ist dagegen nicht weiter schwer zu ermitteln. Der deutsche Generalleutnant Walter Jertz, während des Kriegs einer der NATO Sprecher, erklärte freimütig, wie der Mechanismus bei der Bombardierung Jugoslawiens verlief:

(Die NATO) besteht aus 19 Staaten, und die Führungsebene setzt sich aus 19 Nationen zusammen. Ihre militärischen Vorstellungen und Wünsche mussten die einzelnen Nationen vor einer Militäroperation einbringen und mit den Partnern abstimmen. Auch in der Zielauswahl und der Frage, welche Ziele überhaupt angegriffen werden durften, mussten die Beteiligten vorher übereinstimmen. Wenn eine Nation mit einem Ziel nicht einverstanden war, wurde es von der Liste gestrichen.

Interview mit Generalleutnant Jertz, Focus, Heft 41/2000

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