Prophezeiungen im ausgehenden 20. Jahrhundert und 'New Economy'
New Rules for the New Economy - re-wired...
Das Gesetz exponentiellen Wachstums: Erfolg ist non-linear
Wert steigt exponentiell mit der Anzahl der Mitgliedschaft.
Kevin Kelly
Die goldenen Zeiten sind für die meisten vor längerer Zeit ausgeklungen...
Dennis Claxton
Kevin Kelly schreibt Rhapsodien von Spekulationen über die Wunder einer durch digitale Technologien transformierten Welt und "massive connectionism" (massive Vernetzung). Es ist verführerisch bei so viel Enthusiasmus eine kritische Distanz aufzugeben, besonders wenn Kelly davor warnt, daß die neue Welt auf wirtschaftlichen Regeln beruht, die zu verlassen auf unser eigenes Risiko geht.
In seinem Essay New Rules for the New Economy beschreibt er zwölf sich bedingende Regeln, mit deren Hilfe man in dieser turbulenten Welt die Nase vorne behalten kann.
Sollten Sie diese Regeln überzeugen, dann handeln Sie schnell. Kelly macht deutlich, daß sich Zustände sehr schnell ändern: "diese wirtschaftliche Konfiguration wird nicht länger als ein oder zwei Generationen vorherrschen." Das gibt uns nicht viel Zeit.
Generationssprünge und schnelle Zyklen sind wiederkehrende Motive in Kellys Essay und der aufmerksame Leser kann daraus ableiten, für wie (ir)relevant Kelly die Geschichte jenseits der letzten zwei oder drei Dekaden hält. Kelly ist davon überzeugt, daß Geschichte entrümpelt gehört - besonders das industrielle Zeitalter, das wir nun hinter uns lassen (aber ist das so? Wo kommen dann die ganzen Autos her?). Wir befinden uns angeblich an der Schwelle einer neuen, umwerfenden Zukunft. Dieses selektive Geschichtsgedächtnis ist Gegenstand meiner Überlegungen zur dritten der zwölf Regeln, auf die ich weiter unten zu sprechen komme. Zuvor ein paar grundsätzliche Gedanken.
Kellys Vision der "Neuen Wirtschaft" kommt ziemlich kopflastig und mit dem Beigeschmack sozialwissenschaftlicher Theorien daher, mittels derer momentan versucht wird, den internen Konflikt kapitalistischer Theorien, der seit Mitte der 70er zu beobachten ist, zu beschreiben. Extreme Wandlungen in der Wirtschaft, die der ersten und tiefgreifenden Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg folgten - und von der alle fortschrittlichen, kapitalistischen Länder gleichermaßen betroffen waren - sind drastisch genug, um Theoretiker viel Zeit zu kosten, die Ausmaße einer solchen Entwicklung zu beschreiben.
Im selben Moment in dem uns Mainstream-Wirtschaftswissenschaftler erklärten, daß die Zyklen von Konjunktur und Bankrott sich ausbalanciert hätten, brach das Kartenhaus zusammen. Zwanzig Jahre später befindet sich ein Großteil immer noch im freien Fall, während zehn von hundert Amerikanern (und einer von diesen zehn ganz besonders) eine drastische Zunahme an Gewinn aus Investitionen einfahren. Das sind die Früchte einer zusammengeflickten Wirtschaft und der Alchemie von Finanzmärkten.
Obwohl Konsens wächst, daß es sich hier um eine epochale Transformation handelt, die Einzelheiten sind in keiner Weise geklärt, und in dieser 'Wild World' gibt es viele mögliche Szenarios, von denen man wählen kann. Dies ist eine Liste von 8 Möglichkeiten :
1) Informationszeitalter - Wohlstand beruht auf Wissensaustausch und Informationstechnologien
2) Postmoderne - die Kommodifizierung aller Dinge, zu Hause und überall.
3) Globale Abhängigkeiten - geringe Kapazitäten der Nationen die eigene Haushaltsplanung vorzunehmen.
4) Neuer Merkantilismus - Nationale Koalitionen von Industrie, Regierung und Arbeitskräften versuchen einen orthodoxen Wettbewerb durch technologische Innovationen aufzubauen.
5) Unternehmenskontrolle - eine globale Schicht an Vorständen und Fachmännern regiert die Welt.
6) Flexible Spezialisierung - veränderliche Produktionsmächte, die sich einer ständig verändernden Nachfrage anpassen.
7) Neue Soziale Bewegungen - humaner Kapitalismus und Sozialfürsorge.
8) Fundamentalismus - Hegemonie ethnischer und religiöser Identitäten und Zurückweisung von Technokratie und Konsumgesellschaft
Kellys Essay ist eine Art verwässerte Popversion dieser Theorien. Gleichzeitig hat er sich auch nicht zurückhalten können, seine halb ausgegorenen Entwürfe (und die von Wired) mit in den Topf zu schmeißen. Im September kamen Kellys 'Rules' heraus und im Juli die 'Future History', eine Welt, die sich der Deregulation, ausländischer Investition und beschleunigter, globaler Integration öffnet. (siehe dazu The Long Boom.)
Wenn man dann noch den Sozialabbau und organisierte Arbeitskräfte dazurechnet, erhält man das, was das 'Amerikanische Modell' genannt wird, was ältere Modelle wie 'Reagan Revolution' und 'Thatcherism' abgelöst hat und jetzt - wo es seine eigene Geschichte vorzuweisen hat - sich als bi-partisan entpuppt.
Das 'American Model' hat an Anhängern gewonnen, jedoch nimmt die Anzahl der Gegner zu. Es ist eigentlich schon typisch, daß ein Modell globaler Integration als 'amerikanisch' bezeichnet wird, und alleine schon deshalb wird es nicht einfach sein so ein Modell bei internationalen Gipfeltagungen über Wasser zu halten. Doug Henwood betont in seinem letzten Left Business Observer(#79) das internationale Einvernehmen darüber, daß globale Integration darauf beruht, Handel und Investitionen in explizite Politika umzuwandeln und oppositionellen Kräften die Institutionalisierung als Bulldozer des Kapitals zu gestatten.
Kelly nickt gleichgültig, wenn er in die Richtung der sich formierenden Opposition bemerkt, daß es 'winners' und 'losers' in der vernetzen Wirtschaft geben wird. Diejenigen, die sich an seine Regeln halten, werden gewinnen, die anderen verlieren. Und er hat wenig über die Verlierer zu sagen, interessiert er sich doch mehr für den Erfolg.
Die dritte von Kellys Regeln, das Gesetz exponentiellen Wachstums beschreibt: "in der Netzwerkwirtschaft ist Erfolg non-linear"; und er zieht einen Kuddelmuddel an Beispielen heran, um dies zu belegen. Die ersten beiden, Microsoft und Federal Express, illustrieren einen explosiven ökonomischen Zuwachs, das dritte, Faxmaschinen, demonstriert die Verbreitung einer technischen Neuerung und das vierte, Internet, ist Kellys "archetypische Illustration für den explosiven Erfolg in einer Netzwerkwirtschaft."
Über die statistische Unbedeutsamkeit vier zufälliger Beispiele sehen wir hier mal hinweg. Wenn wir annehmen, daß diese Beispiele irgendeine Aussagekraft hätten, was wäre diese? Und was verbindet diese Beispiele und würde so die Illustration zu einem Argument verdichten? Kelly sieht die Gemeinsamkeit im exponentiellen Wachstum, das sich in der non-linearen Kurve erkennen läßt.
Das kommt schon irgendwie überzeugend, wenn man sich nicht die Mühe macht, weiter als 25 Jahre in die Vergangenheit zu blicken - und wenn man sich darauf einigt, daß diese zufälligen Beispiele wirklich etwas darstellen können. Geht man noch ein bißchen weiter zurück, bis zum Boom der Nachkriegszeit im Industriezeitalter (was Kelly zu umgehen sucht), so verliert sein Argument schnell an Durschlagkraft. In jener Zeit finden sich unzählige Beispiele exponentiellen Wachstums, eng verbunden mit technologische Entwicklungstrends, die sich bis in Kellys kleine Sammlung verfolgen lassen.
Der Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten und Europa war eindrucksvoll genug, jedoch gering, verglichen mit dem historisch einmaligen Wachstum Japans. Wir werden mit Sicherheit nie mehr eine solche Expansion sehen. Momentan stellen die reichen Nationen etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung, konsumieren allerdings 70 bis 80 Prozent des Outputs, ein Verhältnis, das sich deutlich gegen die Möglichkeit des grenzenlosen Wachstums auf globaler Ebene ausspricht. Allerdings läßt sich dann doch immer noch ein unbesetztes Plätzchen finden - oder ein Krieg.
Eine kurze Zusammenfassung der Expansion der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten: Im Anschluß an eine Phase der Depression, die in den späten 1930ern endete, fanden sich U.S. Firmen mitten in der traumhaften Kombination niedriger Löhnen und fortschrittlicher Fertigungstechnologie, die zwei Jahrzehnte anhielt. Der durchschnittliche Profit in dieser Zeit ist nach wie vor der höchste im 20. Jahrhundert. Diese Profite wiederum wurden in Investitionen umgeleitet und sorgten dafür, daß dieser Markt boomte. Für etwa 10 Jahre lag der durschnittliche Wirtschaftswachstum der U.S. um etwa 50 Prozent über vergleichbar expansiven Zeiten. Im Anschluß an eine tiefgreifende Depression - mit minimalem Wachstum und Expansion - läßt sich dieser Abschnitt der amerikanischen Geschichte ohne weiteres in Kellys Bild des "non-linearen" Erfolgs einfügen.
In diesem Umfeld finden sich eine Reihe an Wachstumskurven, die denen von Microsoft und FedEx sehr ähneln - wie Kelly sie zur Veranschaulichung seiner Regel Nummer drei anführt. Lebensmittelproduktion und Wohnungsbau steigen, sowie Haushaltsgeräte (für die Wohnungen), Lastwagen (um die Haushaltsgeräte zu transportieren), Autobahnen werden gebaut (um die Lastwagen mobil zu halten), Berufe entstehen und vergehen, Menschen ziehen in die Stadt, zu den neuen Jobs - zusammengefaßt und graphisch dargestellt zeigen diese Kurven ein minimales, aber konstantes, lineares Wachstum in den ersten Dekaden dieses Jahrhunderts und steigen deutlich stärker zwischen 1935 und 1970.
Das waren die goldenen Zeiten, zumindest für die Mehrheit der weißen Amerikaner. Aber diese Phase endete für die meisten schon vor einiger Zeit, für viele der zuvor Ausgeklammerten genau an einem Zeitpunkt, an dem sie die hart verdiente Eintrittskarte in der Hand zu halten schienen. Stetiges Wachstum in der realen Wirtschaft, ungeachtet Microsoft und FedEx, wurde ersetzt durch exponentielles und symbiotisches Wachstum von Schulden und gleichzeitiger Konzentration von Wohlstand - und verschleiernde Terminologien wie 'post-industrielles Zeitalter' entstehen, um diesen Wandel zu beschreiben.
Aber vielleicht geht es ja um etwas völlig anderes? Kelly benutzt Microsoft und FedEx als Beispiele konstanten Gewinnzuwachses. Die Fax- und Internetbeispiele zeigen jedoch etwas anderes. Damit möchte er darstellen, wie das 'prime law of networks' dafür sorgt, daß Wert explosiv und exponentiell mit der Anzahl an Teilnehmern steigt. Kaufe eine Faxmaschine und kaufe gleichzeitig "das gesamte Netzwerk aller Faxmaschinen und der Verbindungen dazwischen". Ich stimme zu - möchte jedoch eine persönliche Anekdote anfügen (manchmal ist der Einzelfall hinreichend).
Anfang der 90er lebte ich für zwei Jahre in Los Angeles ohne jeglichen Zugang zu der archetypischen Illustration einer erfolgreichen Explosion industrieller Wirtschaft (um einen Ausdruck Kellys zu benutzen). In anderen Worten: ich hatte kein Auto. Als ich schließlich ein Auto erwarb, hatte ich Zugang zu Tausenden von Kilometern von Straßen und den dazwischenliegenden Verbindungen - von denen ich ausgeschlossen war, solange ich mich auf vernachlässigte und unzeitgemäße Massentransportmittel verlassen hatte. Sind die Straßen die ich nun benutze - in großer Eile im Boom der Nachkriegszeit gebaut - und die Autos nicht ebenso ein Beispiel exponentiellen Wachstums eines technologischen Netzwerks?
All das soll nicht heißen, daß wir uns momentan nicht mit etwas Neuem konfrontiert sehen. Digitale Technologie hat revolutionäre Züge und der potentielle und reale Einfluß im täglichen Leben ist enorm und sehr aufregend. Man könnte den Standpunkt einnehmen, die Entwicklung sei irrelevant oder neue Technologien sollten abgeschaffen werden, aber das hätte mit der Realität wenig zu tun. Dennoch, Technologie als solche kann Wirtschaft oder soziale Entwicklungen nicht in der Art verändern, wie Kelly es vorschlägt.
Wie sehr man sich auch bemüht, man kann Wirtschaft, Technologie und andere soziale Prozesse nicht von der variablen, menschlichen Matrix trennen in der sie eingebettet sind. In der selben Weise, wie politische Entscheidungen entscheidend Einfluß auf den Bau von Autobahnen in größeren U.S. Städten (und die Auslassung marginaler Gemeinden) ausüben, werden kommende Technologien und Veränderungen in der Wirtschaft von politischen Entscheidungen beeinflußt.
Aus diesem Grund sollten visionäre Projekte wie Kellys nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Unter dem Strich ist er ein konservativer Protagonist, der Einfluß auf den politischen Diskurs um die digitale Revolution nimmt - und das mit einigem Gewicht. Wie jeder Protagonist glaubt er zutiefst an das, was er zu sagen hat - ebenso wie Siedler im 19. Jahrhundert glaubten, daß der Regen dem Pflug folge.
Deshalb ist er so unwiderstehlich und zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich. Er geht nicht von Tür zu Tür hausieren, sondern ist ein gewitzter Demagoge - und seine Strategie ist schlüssig. Die Wirtschaft vor Microsoft einzubringen, würde das verführerische Gefühl alles hinter uns zu lassen und zu neuen Horizonten aufzubrechen, verwirren.
Desweiteren war die zentralisierte Wirtschaft der Kriegszeit grundlegend am Wachstum der Nachkriegszeit beteiligt, ebenso wie an der Entwicklung vieler Wunder, die Kelly anführt, wie auch dem Internet... Nun, das kann es einem wirklich versauern, techno-liberitäre Zukunftsvisionen zu privilegieren. Es gibt jedoch eine einfache Lösung. Sollte die Vergangenheit der Zukunft in den Weg kommen: einfach vernachlässigen. Es ist so gut wie sicher, daß man damit durchkommt - in einer Zeit, die nicht mehr historisch denkt.
Die englische Fassung dieses Artikels auf Rewired
Intro, zur "Neuen Ökonomie" von David Hudson.
Regel 1, "Gesetz der Verschaltung: Vereinnahme 'dumb power'"
Regel 2, "Das Gesetz der Reichhaltigkeit"
Aus dem Englischen übersetzt von Micz Flor