Proteste in Frankreich: Rebels with a cause

Seite 2: Die Verlagerung des Terrains und Scheingefechte in deutschen Medien

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Dabei geht es darum, dass zwar das theoretisch geltende Mindestalter für den Renteneintritt von 62 (zwischen 1982 und der vorletzten "Reform" von 2010 waren es noch 60 Jahre) formal nicht angetastet werden soll, also eine Pensionierung mit 62 nicht gesetzlich untersagt wird - wohl aber vor 64 mit finanzielle Strafabzügen verbunden werden soll.

Die CFDT macht sich hier nun dafür stark, dass für jene eine Lösung gefunden werden soll, die die vollen 41,5 (künftig dann 43) Beitragsjahre zusammen haben, doch noch unter 64 sind. Aufgrund der Entwicklung der Erwerbsbiographien in den letzten Jahren wird dies allerdings immer weniger und weniger Menschen betreffen.

Während der kämpferische Teil der französischen Gewerkschaften (unter ihnen die CGT, die linken Basisgewerkschaften SUD bzw. ihr Zusammenschluss Solidaires sowie der Verband der Bildungsgewerkschaften, also die FSU) die gesamte Reform und vor allem ihre Auswirkungen auf die Rentenhöhe ablehnt, polarisiert die CFDT derzeit allein an der Frage des "Scharnieralters".

Dies hängt auch damit zusammen, dass sie längst ihren Ausstieg aus der gemeinsamen Streik- und Protestfront plant, jedoch unter Wahrung ihres Gesichts aus der Auseinandersetzung ausbrechen möchte.

Insofern ist in näherer Zukunft mit einem Bruch der gemeinsamen Streikfront durch einen möglichen Frontenwechsel der CFDT ähnlich wie bei früheren Sozialkonflikten in Frankreich (1995, 2003) zu rechnen. Jedenfalls wenn das Regierungslager in den derzeit vor und hinter den Kulissen laufenden Verhandlungen nicht in der Sache derart hart bleibt, dass selbst die CFDT-Spitze sich nicht auf einen "Kompromiss" einlassen kann, wie es noch am Mittwochabend der Fall war.

Die Mehrzahl der Streikenden, etwa in den Transportbetrieben und Schulen, zählen jedoch derzeit weit eher zur CGT, zu den SUD-Gewerkschaften, bei der Eisenbahn auch zur (ansonsten eher CFDT-nahen), sich als "unpolitisch" verstehenden Gewerkschaftsvereinigung UNSA.

Leserschaften in die Irre führen

Auch die deutschen Leitmedien führen ein Scheingefecht, wenn sie so tun, als sei das Renten-Eintrittsalter der springende Punkt. Der Spiegel etwa führt seine Leserschaft diesbezüglich in die Irre. Er berichtete jüngst unter dem Titel "Der kommende Aufstand" über die Sozialproteste in Frankreich. Dabei spielt die Überschrift natürlich auf die gleichnamige Schrift auf dem Jahr 2007 in Form eines kleinen Büchleins an - ein von scheinradikaler Romantik geprägtes Opus, das viel mit Revolutions-Lyrik, jedoch herzlich wenig mit materialistischer Gesellschaftsanalyse zu tun hat.

Foto: Bernard Schmid

Wie schon damals, kurz nach ihrem Erscheinen, im deutschen Feuilleton bis hin zur FAZ soll die Evozierung dieser Schrift beim Bürgertum ein wohliges Gruselgefühl erzeugen, ohne jedoch die Menschen mit irgendeiner Form kritischer Analyse oder gar realer Gesellschaftsveränderung zu behelligen. Vom Inhalt her beginnt der Spiegel-Artikel jedoch bereits ab der Unterüberschrift mit Unwahrheiten.

Dort steht nämlich zu lesen, es gehe bei den Arbeitskämpfen und Demonstrationen um folgende Problematik: " Bahnangestellte sollen nicht mehr mit 56 in den Ruhestand gehen." Das tun diese jedoch ohnehin nicht, jedenfalls nicht heutzutage. Historisch, aus den Zeiten von Dampflokomotiven, hat es tatsächlich einmal die Errungenschaft gegeben, dass Lokführer mit frühestens 50 und andere Bahnbeschäftigte mit frühestens 55 in Rente gehen konnten.

Doch seit den vorletzten Renten"reformen" von 2003 in den öffentlichen Diensten sowie 2007 in den Transportbetrieben bleibt zwar eine relativ niedrige Altersangabe als Relikt stehen (das Mindestalter wird seitdem schrittweise auf 52,5 Jahre für Lokführer und 57,5 Jahre für andere Bahnbedienstete angehoben) - jedoch unter Anlegen derselben Anforderungen betreffend die Beitragsjahre wie in den anderen Berufsgruppen.

Welche Frau oder welcher Mann also heute als Bahnbeschäftigter mit 57 in Rente ginge, würde dies entweder mit sehr erheblichen finanziellen Einbußen tun und könnte von der Pension kaum leben, oder aber sie oder er tut dies nur, um für die letzten Arbeitsjahre ein zweites Berufsleben zu starten. In anderen Berufsgruppen besteht ohnehin keine Möglichkeit für einen Renteneintritt in diesem Alter. Der Spiegel schreibt folglich nicht die Wahrheit ("Sagen, was ist"?) - sei es durch Unterlassung und durch das Konstruieren von Pseudoproblemen.

Die Hauptverlierer der Reform

Zu den Hauptverliererinnen der "Reform" werden die weiblichen Beschäftigten zählen. Deswegen gibt es auch eine gemeinsame Kampagne von Frauenrechtsgruppen zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der regressiven "Reform". Aufgrund von größeren "Lücken" in den Erwerbsbiographien durch Kinderziehungs-, Aus- und Unterbrechungszeiten sowie schlechter entlohnter Teilzeitarbeit werden die Frauen besonders benachteiligt.

Bislang erhielten weibliche Beschäftigte zwei Beitragsjahre pro Kind angerechnet, eine Regelung, die mit der "Reform" verschwinden wird; ab drei Kindern wurde die Rente sowohl beim Vater als auch bei der Mutter um zehn Prozent angehoben. Diese Regeln werden nun voraussichtlich beseitigt. Stattdessen soll es eine neue Kompensationsregel geben, aufgrund derer die Regierung fälschlich behauptet, Frauen zählten zu den "Gewinnerinnen der Reform".

Künftig wird es den vorliegenden Plänen zufolge eine Erhöhung der zu erwartenden Rente pro Kind um 5 %, ab dem dritten Kind um je 7 % geben. Allerdings nur entweder beim Vater oder für die Mutter. Beide müssen sich bis zum vierten Lebensjahr des Kindes dafür entscheiden, wem die künftigen Rentenpunkte angerechnet werden. Viele Beobachter rechnen damit, dies könne häufiger dem Vater zugute kommen (jedenfalls bei gemeinsam lebenden Eltern), da in der sozialen Realität die Einkommen der Männer zwar nicht immer, doch oft höher ausfallen.

Und was, wenn später eine Trennung der Eltern oder ihre Scheidung erfolgt und also keine gemeinsame Einkommensverwaltung mehr besteht? Pech für die Mütter?

Die Proteste: Spürbar stärkere Präsenz von Demonstranten aus der Privatwirtschaft

Und noch zu den Protesten selbst: Diese gehen unterdessen weiter. Am Dienstag, den 17. Dezember, dem dritten zentralen Aktionstag, gingen wiederum zahlreiche Menschen zum Massenprotest auf die Straßen. Am Abend sprach das Innenministerium von "615.000" Teilnehmenden in ganz Frankreich; das wären mehr als am zweiten Aktionstag (10. Dezember) mit damals laut Regierungsangaben "339.000" Teilnehmerinnen und Teilnehmern, jedoch weniger als am ersten Aktionstag (05. Dezember) mit "806.000".

Die Union syndicale Solidaires ihrerseits gab die Teilnehmerzahl in ganz Frankreich mit "1,6 Millionen" an, die CGT ihrerseits mit "1,8 Millionen". Dies entspricht wiederum einem Zuwachs auch gegenüber dem ersten und bis dato stärksten Aktionstag am 05. Dezember, mit damals 1,5 Millionen Teilnehmenden laut CGT.

Wie es nun genau quantitativ aussieht, lässt sich freilich objektiv nur schwer einschätzen. Bezogen auf Paris sprach ein Medienkollektiv (Occurrence) von "72.500" Teilnehmenden, die Polizeiführung am Abend von "76.000", die CGT von "350.000".

Gesichert ist, dass die Demonstration extrem kompakt ausfiel, zeitweilig gingen über fünfzig Personen auf dem breiten Boulevard - zwischen der Place de la République und der Place de la Bastille - plus den angrenzenden Trottoirs gleichzeitig nebeneinander. Um 14 Uhr war die Spitze, vorne liefen die Eisenbahner vom Pariser Ostbahnhof (der Gare de l'Est) sowie streikende Métrobeschäftigte, bereits auf der Place de la Bastille angekommen.

Unterdessen standen die Menschen auf der 1,7 bis 1,8 Kilometer Luftlinie entfernten Place de la République und auf den angrenzenden Boulevards dicht gedrängt. Um 15.30 Uhr war die CGT, als stärkste teilnehmende Organisation, vom Ausgangsort noch nicht losgelaufen, zu dem Zeitpunkt waren erst der Spitzenblock (Unorganisierte & Linksradikale), die Bildungsgewerkschaften-Vereinigung FSU sowie der Dachverband FO losgelaufen. Noch nach 16 Uhr waren die zeitlich Letzten noch nicht in Bewegung gekommen.

Anfänglich dominierte vor allem die Farbe Weiß, da Tausende von Krankenpflegern und -schwestern mobilisiert hatten. Aus den Krankenhäusern, wo bereits seit März d.J. Wiederholt gegen schreienden Personalmangel und unzureichende Mittelausstattung mobilisiert wird, war bereits Mitte November d.J. (in Antwort auf den damaligen, als völlig ungenügend betrachteten "Notplan" der Regierung für das Krankenhauswesen) zu einem Aktionstag für diesen 17. Dezember aufgerufen worden, noch bevor die intersyndicale dieses Datum zu ihrem zentralen Aktionstag erhob.

Später kamen, aus der Menge vielfach applaudierte, streikende Feuerwehrleute sowie, natürlich, die Beschäftigten der Eisenbahn und Transportbetriebe an prominenter Stelle hinzu. Aus dem öffentlichen Bildungswesen liefen zahllose Delegationen unter dem Transparent ihrer jeweiligen Schule oder Universität.

Vor allem in den Reihen der CGT war aber auch eine, im Vergleich zu früheren Bewegungen ähnlicher Natur, spürbar stärkere Präsenz der Privatwirtschaft zu verzeichnen: Chemiewerker aus den Raffinerien des Erdölgiganten TOTAL, eine Abordnung von Alstom aus dem Pariser Vorort Saint-Ouen oder von Safran in Villaroche (Safran ist ein Großunternehmen der Metallindustrie, Flugzeug-, Raumfahrt- und auch Rüstungsproduktion).

Foto: Bernard Schmid

Derzeit geht es in Paris in manchen Stadtteilen und auf manchen Kreuzungen ein bisschen zu wie in der VR China in den 1970er Jahren. Nein, nicht im Hinblick auf die dort verfolgte Gesellschaftspolitik, wie immer man diese nun bewertet. Aber im Hinblick auf die Anzahl der Fahrräder. Halb Paris scheint sich nunmehr ans Fahrrad-, Tretroller- und Mofafahren gewöhnt zu haben. Auch ungewöhnlich viele Fußgänger/innen sind unterwegs. Klar, die Ursache ist bekannt: Die öffentlichen Transportmittel verkehren nicht in der üblichen Art und Weise.

Die Regierung scheint zum jetzigen Zeitpunkt bereit, den Massenprotest auszusitzen, um auf die Weihnachtspause zu warten. Nachdem mehrere Gewerkschafter wie etwa die Eisenbahner-Branche der CGT klar zu erkennen gaben, dass sie notfalls "keinen Weihnachtsfrieden einhalten" würde, versucht nun die Regierung, daran zu appellieren, dass relevante Teile der Gesellschaft mit einem Ausfall des Familienreiseverkehrs über die Feiertage unzufrieden sein könnten.

In dieser Perspektive riefen etwa Premierminister Edouard Philippe und Transportministerin Elisabeth Borne, taktisch nicht ungeschickt zu einer Streikpause auf - im Januar 2020 könnten die Beteiligten ja weiterstreiken, fügten sie in vertrauenseinflößendem Tonfall hinzu. Wohl darauf bauend, dass die Dynamik eines einmal unterbrochenen Streiks in sich zusammenfallen könnte.