Protokoll des ukrainischen Bürgerkriegs

Seite 2: Einblicke in das Denken und Handeln der Ostukrainer

Vor allem die Interviews in dem von Heyden vorgelegten Band geben Einblick in das Denken und Handeln der Menschen dort. So erklärt ein Gesprächspartner: "Es mag paradox klingen, aber in den Teilen des Donbass, in denen sich Lugansk und Donezk befinden, verteidigt man die sogenannten allgemein anerkannten, demokratischen, europäischen Werte. Das ist das Wahlrecht, das Recht über den verfassungsrechtlichen Weg, über Wahlen, Entscheidungen treffen zu können, nicht mit einem Militärputsch, verstehen Sie?"

Bezug genommen wurde dabei auf den Maidan-Putsch, bei dem Präsident Viktor Janukowitsch unter Bruch der ukrainischen Verfassung – die erforderliche Mehrheit zur Absetzung des Präsidenten wurde nicht erreicht – gestürzt und von einer rechtsradikalen Meute außer Landes gejagt wurde. In Teilen des Donbass fand daraufhin im Mai 2014 ein Referendum über die Ausrufung der beiden Volksrepubliken statt, das aber von der Ukraine, der EU sowie den USA nicht anerkannt wurde: "Die Beteiligung an dem Referendum lag nach Aussagen der Zentralen Wahlkommission im Gebiet Donezk bei 71 Prozent und im Gebiet Lugansk (…) bei 80 Prozent."

Die russische Führung hatte vergeblich für eine Verschiebung der Abstimmung plädiert, um Verhandlungen mit Kiew möglich zu machen. Die Ergebnisse der Referenden wurde von Moskau lediglich respektiert. Die völkerrechtliche Anerkennung von Donezk und Lugansk als eigenständige Staaten durch Russland erfolgte erst acht Jahre später im Februar 2022, nachdem man dort keine Möglichkeit mehr für eine Umsetzung der Abkommen von Minsk und damit für eine Verhandlungslösung gesehen hatte.

Nach Heyden waren die Separatisten alles andere als glücklich mit den über ihre Köpfe hinweg geschlossenen Vereinbarungen von Minsk zwischen Russland und der Ukraine: "Die Abkommen von Minsk nahmen den Aufständischen den Wind aus den Segeln. Denn Russland, das die Volksrepubliken propagandistisch und finanziell unterstützte, orientierte seit Minsk-2 auf die konsequente Umsetzung des Abkommens. Viele Freiwillige aus Russland, die im Donbass kämpften, kehrten in ihre Heimatorte zurück."

Die Verantwortung für das Scheitern der Abkommen sieht der Autor bei der Führung in Kiew: "Folgt man der deutschen Medienberichterstattung, dann liegt die Schuld dafür, dass Minsk-2 nicht umgesetzt wurde, vor allem auf russischer Seite. Immer wieder wird – ohne Belege – behauptet,

Russland verletze das Minsker Abkommen, weil es die Separatisten militärisch unterstütze und angeblich selbst mit Truppen im Donbass präsent sei. Dass die Ukraine das Abkommen von Minsk nicht einhält, dass sie Wahlen in den Volksrepubliken unter OSZE-Aufsicht nicht zulässt und das Kiew sogar eine Neufassung des Abkommens fordert, wird nur von Politikern der Partei DIE LINKE und der AfD angesprochen."

Der Autor weist nicht nur die westlichen Behauptungen von der Anwesenheit russischer Truppen im Donbass zurück, er stellt auch heraus, dass es keine Beweise für militärisches Gerät der russischen Armee auf dem Boden des Donbass gebe. Ein Großteil der Waffen der Aufständischen stamme vielmehr aus erbeuteten Ausrüstungen der ukrainischen Armee.

In seinem in Telepolis veröffentlichten Artikel vom 30. August 2014 schrieb Heyden: "Für eine offizielle Beteiligung der russischen Streitkräfte hat Kiew bisher keine Beweise vorgelegt. (…) Zudem wird in der Berichterstattung westlicher Medien häufig die Tatsache übergangen, dass die Aufständischen fast täglich Waffen der ukrainischen Seite erbeuteten."

Hilfe aus Südossetien und Abchasien

Die Feldkommandanten der Freiwilligenbataillone stammten meist aus dem Donbass selbst oder kamen als Freiwillige aus Südossetien bzw. Abchasien, Gebiete, die sich zuvor in Bürgerkriegen von Georgien losgesagt hatten.

Heyden geht auch auf Konflikte zwischen den Separatisten und der russischen Führung ein. Die hatte es immer wieder gegeben. Moskau ging es dabei vor allem darum, Hitzköpfe in der politischen und militärischen Führung der Separatisten abzukühlen, die nach den Erfolgen gegen die ukrainische Armee gleich bis Kiew weiterziehen wollten.

Es ging Moskau aber auch darum, sozialrevolutionären Bestrebungen entgegenzutreten, die darauf zielten, Kohleschächte und Stahlwerke auf Kosten der Oligarchen zu nationalisieren. So vermutet der Autor, dass hinter dem erzwungenen Rücktritt des beliebten Militärchefs von Donezk, Igor Strelkow, konservative Kreise in Moskau mit Verbindungen zu Oligarchen standen.

Heyden berichtet über die Folgen des nicht endenden Beschusses von Städten und Dörfern in Lugansk und Donezk durch ukrainisches Militär, das seine Attacken vor der Weltöffentlichkeit als "antiterroristische Maßnahmen" tarnte. In Interviews schildern die Menschen all ihr Leid, die Zerstörungen, den Tod und die Verletzungen so vieler Menschen, darunter auch viele Kinder.

In Lugansk wurde den von der ukrainischen Armee getöteten Kindern sogar ein eigenes Denkmal errichtet. Es zeigt Kinder, die in den Himmel fliegen. Anschaulich gemacht wird dieses Leid durch Bilder von zerstörten Schulen, notdürftig eingerichteten Bunkern, zerbombten Häusern und ausgebrannten Wohnungen.

Und auch in diesen Tagen hält der Beschuss der Separatistengebiete durch ukrainische Truppen an. So meldete die ARD-Tagesschau am 13. Juni 2022: "Bei einem ukrainischen Artillerie-Angriff auf einen Markt in der von prorussischen Separatisten gehaltenen Region Donezk sind nach einem Bericht der dortigen Nachrichtenagentur mindestens drei Menschen getötet und vier weitere verletzt worden." Und wieder war ein Kind unter den Opfern.

Es muss erstaunen, wie wenig Interesse und Empathie den Opfern dieses Bürgerkriegs in Deutschland in all den Jahren entgegengebracht wurde – im Unterschied zu den unzähligen Initiativen, die gegenwärtig ukrainischen Kriegsopfern Hilfe anbieten. Eine Ausnahme stellt das in Thüringen ansässige "Aktionsbündnis Zukunft Donbass" dar, das über all die Jahre vor allem in Krankenhäusern dringend benötigtes Material lieferte.

Beschämend ist, dass die Linkspartei bis auf wenige Ausnahmen zu dem Bürgerkrieg schwieg. Zu diesen Ausnahmen zählen Andrej Hunko und Diether Dehm, die jeweils Vorworte zu dem Buch von Heyden schrieben. Zu nennen sind auch Wolfgang Gehrcke und Andreas Maurer, die ihre Partei immer wieder mahnten, den Konflikt im Donbass nicht zu vergessen.

Als Zusammenfassung von den seit 2014 veröffentlichten Reportagen, Interviews und Kommentaren kann das Buch keine geschlossene Analyse der Vorgänge liefern. Es ist eine Dokumentation von Augenzeugenberichten. Angefügt ist eine informative Chronologie der wichtigsten Daten der Geschichte der Ukraine zwischen 1917 und 2022.

Das Buch ließe sich sehr viel leichter zu lesen, hätte der Autor darauf verzichtet, die Beiträge jeweils Kapiteln zuzuordnen, deren thematische Abgrenzung oft schwer nachvollziehbar ist. Eine strikt chronologische Abfolge hätte sich hier angeboten.

Bei vielen Artikeln fehlen zudem Angaben, wann und wo diese erschienen sind. Auch finden sich in dem im Selbstverlag herausgegebenen Band zahlreiche Satzfehler. Für eine genaue Durchsicht fehlten offensichtlich die Mittel bzw. die Zeit.

Das Buch ist dennoch eine unentbehrliche Quelle für alle, die sich darüber informieren wollen, was im Donbass seit 2014 passiert ist. Ulrich Heyden hat die Eskalation des Bürgerkriegs vorausgesehen: "Seit dem Frühjahr 2021 hat sich der Konflikt im Donbass gefährlich zugespitzt. Die ukrainische Armee verstärkte die Beschießungen an der Kontaktlinie." Man hätte daher wissen können, dass der große Krieg schon lange vor seinem Ausbruch in der Luft lag.