Protopia statt Utopie: Kleine Schritte zur besseren Gesellschaft

Ein Bild aus dem Comic: Mehrere Gestalten, etwa mit Gesetzbuch und Fakel, eine fliegende Eule, an der Biegung eines Baches mit einem Aufbau voller gestapelter Bücher

Westend Verlag

Was passiert, wenn aktuelle Wissenschaft auf surreale Comics trifft – und die "Natur des Menschen" auf die Probe gestellt wird? Ein Interview.

Ein Buch, das sich mit der Natur des Menschen befasst, nimmt sich viel vor. Gerade in diesen Zeiten, in denen Fragen nach der Identität mörderische Konsequenzen haben können. Das Unterfangen ist hochpolitisch.

Das Buch "Hilfe. Ich bin ein Mensch", soeben erschienen, gehört obendrein nicht zu einem Genre, das in klassischer Sicht für solche essenziellen, schwerwiegenden Fragen zuständig ist: Es ist ein Comic.

Verfasst ist es von Andreas von Westphalen, einem Autor, der Telepolis-Lesern bekannt ist, und seinem Co-Autor Georg von Westphalen, der die Zeichnungen gemacht hat. Sie bieten ihren Leserinnen und Lesern an, anhand ihres Comics die "faszinierenden Geheimnisse des Menschseins zu erforschen". Grund genug, ihnen ein paar Fragen zu stellen.

Eine "Graphic Science Expedition"

▶ Wie seid Ihr auf die Idee für euer Buch gekommen und an wen richtet sich das Buch?

Andreas von Westphalen: Im Winter 2020/21 habe ich mit einem Buchprojekt begonnen, bei dem ich der Frage nachgehen wollte, wie eigentlich eine Gesellschaft und eine Wirtschaft aussehen könnte, wenn man sich an den neuesten Erkenntnissen über die Natur des Menschen orientiert, die belegen, dass wir eher altruistisch und kooperativ sind als egoistisch und auf Konkurrenz ausgerichtet, wie man so oft unhinterfragt voraussetzt.

Im ersten Teil wollte ich dann anhand von einigen Fragen zur Natur des Menschen für die Leser die Ergebnisse meines ersten Buches "Die Wiederentdeckung des Menschen" zusammenfassen. Und weil mein Cousin ein begnadeter Zeichner ist, der nicht nur "Bernd das Brot" gezeichnet hat, habe ich einfach aus einem Impuls heraus die fünf Fragen an Georg geschickt und ihn gefragt, ob er vielleicht Lust hat, die Fragen zu bebildern.

Am nächsten Tag fahre ich meinen Computer hoch und finde fünf Comic-Strips, die mich begeistert haben, die hatte Georg über Nacht gezeichnet. Da habe ich nicht lange gebraucht, mich von der alten Buchidee zu verabschieden und bei Georg anzuklopfen, ob wir nicht ein ganzes Buch über Fragen zur Natur des Menschen machen wollen ...

Westend Verlag

Georg von Westphalen: Was ursprünglich als kurze Erklär-Comics und Kapiteltrenner geplant war, entwickelte sich über drei Jahre zu einer "Graphic Science Expedition" mit seitenfüllenden Collagen. Dabei habe ich Konzeptskizzen und Moodboards mit KI-generierten Motiven und handgezeichneten Figuren kombiniert.

Durch das Eintauchen in die Themenwelten von Andreas' Texten entstanden surreale Szenerien, die als zusätzliche visuelle Ebene fungieren und den Inhalt auf emotional ansprechende Weise interpretieren.

Diese Collagen bieten eine tiefere Reflexion über die wissenschaftlichen und philosophischen Fragen und fügen den Cartoon-Figuren und ihren Kommentaren eine weitere Dimension hinzu.

Andreas von Westphalen

Andreas von Westphalen: Das Buch richtet sich an alle neugierigen Menschen ab 16 Jahren, die die Geheimnisse des Menschseins erforschen möchten. An alle, die in einem optisch sehr ansprechenden Buch schmökern wollen (Ich darf das sagen, weil ich habe ja nur die Textbleiwüste gebastelt), aber auch alle, die Sachbuchfans sind und möglichst fundierte und abgesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über die Natur des Menschen lesen wollen, dürften bei 850 Fußnoten auf ihre Kosten kommen.

Georg von Westphalen: Um den unterschiedlichen Wünschen gerecht zu werden und das Buch nicht zu überfrachten, haben wir eine begleitende Webseite eingerichtet.

Über QR-Codes im Buch kann man natürlich die ganzen Fußnoten finden, aber auch Vorschläge, wie man das Gelernte im Alltag erlebbar kann und besonders: Viele weitere Kapitel finden sich dort, die man nach dem Buch noch entdecken kann. Insgesamt sind online 250 Seiten zu finden. Es gibt auch einen unregelmäßigen Newsletter, beispielsweise mit kleinen Hoffnungsgeschichten und "Protopischen News".

Veränderungen Richtung Fortschritt

▶ Was versteht ihr denn unter Protopia? Wie verhält sich Protopia zu Utopie oder Dystopie?

Georg von Westphalen

Georg von Westphalen: Protopia ist ein Konzept des Zukunftsforschers Kevin Kelly, das wir als Leitmotiv für unser Buch gewählt haben. Anders als die Utopie, die einen perfekten, aber oft unerreichbaren Zustand beschreibt, oder die Dystopie, die eine negative Zukunftsvision zeichnet, steht Protopia für kontinuierlichen, schrittweisen Fortschritt.

Es ist die Vorstellung, dass die Zukunft nicht perfekt sein muss, um besser zu werden – wir können sie in kleinen, aber stetigen Schritten für uns selbst und unser Umfeld positiv gestalten. Im Buch geht es auch darum zu zeigen, dass wir das Potenzial haben, uns individuell und als Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Protopia betont nicht ein starres ideologisches Endziel, sondern den agilen Prozess und das "Real-Life"-Feedback, das uns dabei hilft, uns ständig anzupassen.

Jeder kleine Schritt in Richtung mehr Authentizität und Empathie trägt zu einem besseren Miteinander bei – unabhängig von den aktuellen Ideologien oder -ismen des Zeitgeists. Dieser – im Grunde anarchistische – Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch "Hilfe, ich bin ein Mensch!": Das Buch lädt dazu ein, das eigene Menschenbild zu hinterfragen und medial vermittelte Narrative über unsere "artgerechte Haltung" zu überdenken.

Es zeigt dabei, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, das eigene Erleben, das dialogische Miteinander – und vielleicht auch die massive gesellschaftliche Spaltung – durch kleine, aber bedeutsame Veränderungen zu verbessern. Dies betrifft am Ende natürlich auch Fragen der Macht und des freien Willens.

"Wir wissen mehr über die Natur unserer Haustiere als über uns"

▶Weshalb ist euch das Menschenbild so wichtig? Welche Konsequenzen des Menschenbilds sind euch wichtig?

Andreas von Westphalen: Ich glaube, unser Menschenbild, unsere Vorstellung von der Natur des Menschen, unser Wesen ist absolut grundlegend und deswegen fundamental für unser Zusammenleben.

Michael Zichy hat das in seinem Buch "Menschenbilder" sehr prägnant auf den Punkt gebracht: "Jede und jeder von uns hat ein Menschenbild, und dieses prägt die Art und Weise, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen, unsere Gesellschaft und die Welt insgesamt wahrnehmen und beurteilen, ganz maßgeblich."

Unser Menschenbild ist nicht nur die Grundlage vieler persönlicher Entscheidungen, sondern auch fast aller gesellschaftlichen: Wenn wir glauben, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, gestalten wir Systeme, die auf Konkurrenz und Misstrauen bauen. Glauben wir hingegen an die Fähigkeit des Menschen zur Kooperation und Empathie, schaffen wir Strukturen, die Vertrauen und Unterstützung fördern.

Und obwohl das Menschenbild so fundamental ist, wissen wir – etwas überspitzt gesagt – mehr über die Natur unserer Haustiere und der richtigen Art und Weise, wie diese leben sollen, als über unsere eigene. Dabei gibt es zahlreiche wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse, welche Rolle Altruismus und Kooperation in der Natur des Menschen und in der menschlichen Entwicklungsgeschichte spielen.

Georg von Westphalen: In "Hilfe, ich bin ein Mensch!" möchten wir dieses positive Menschenbild wissenschaftlich und unterhaltsam erkunden. Dabei wollen wir die Leserinnen und Leser dazu anregen, über die täglichen Auswirkungen ihrer Menschen- und Weltbilder nachzudenken. So eröffnen sich vielleicht neue Perspektiven, um auch in dunklen Zeiten den menschlichen Kompass nicht zu verlieren.

Fehlannahmen im Zeitalter des Kapitalismus

Andreas von Westphalen: Über ein kleines Beispiel unserer Fehleinschätzung der Natur des Menschen und dessen Konsequenzen habe ich schon an anderer Stelle auf Telepolis geschrieben.

Bei Katastrophen wie Hurrikanes, Flugzeugabstürzen und Erdbeben ist nicht nur Hollywood davon überzeugt, dass alle Menschen nur an das eigene Überleben denken und dafür auch über Leichen gehen, aber Studie um Studie überlegt das Gegenteil: Bei Katastrophen offenbaren Menschen in der Regel eine außerordentliche Hilfsbereitschaft.

Aber leider sind wir Menschen im Zeitalter des Kapitalismus mehrheitlich zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch von Natur aus egoistisch und konkurrenzorientiert ist und sich am besten mit Geld motivieren lässt. Wir sind alle Maximierer unseres Eigennutzens. Wir sind alle ein Homo oeconomicus.

Dabei lässt sich genau das Gegenteil dieses, nennen wir es "kapitalistisches Menschenbild", sehr gut belegen.

Und weil wir so überzeugt sind, dass wir alle Egoisten und nur auf den eigenen Vorteil aus sind, ist "gesundes" Misstrauen unser Default Setting und um ja nicht als Ehrlicher der Dumme zu sein und über den Tisch gezogen zu werden, verhalten wir uns quasi präventiv selbst egoistisch und werden so als lebender Beweis für alle Umstehenden, dass Menschen halt Egoisten sind.

Diese unhinterfragten falschen Annahmen und Überzeugungen haben deshalb viele gravierenden Konsequenzen. Egoismus wird in der scheinbar so kalten Gesellschaft zum notwendigen Überlebensmechanismus.

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Georg von Westphalen: Ich finde hier besonders das Beispiel alltäglicher Begegnungen so anschaulich, weil wir das alle kennen.

Andreas von Westphalen: Vielleicht sollten wir an dieser Stelle einfach mal ein Kapitel aus unserem Buch für sich sprechen lassen. Die Frage nach der Bedeutung von flüchtigen, alltäglichen Begegnungen ist tatsächlich sehr beeindruckend.

Gerade auch weil sich hier so viele weitverbreitete Fehlannahmen zeigen und wie sehr diese Fehlannahmen ein anderen mitmenschliches Zusammenleben verhindern, obwohl wir uns das eigentlich zutiefst wünschen (siehe im Buch das Kapitel Begegnungen).

Was wirklich ist, hat Konsequenzen

▶Eine eurer Hauptthesen ist, dass das Menschenbild so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist. Könnt Ihr das ein wenig ausführen?

Andreas von Westphalen: Ja, das ist in der Tat der springende Punkt! Ich hatte hierüber ausführlich vor einigen Jahren auf Telepolis geschrieben.

Vielleicht daher an dieser Stelle nur etwas verkürzt. "Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich."

So das sogenannte "Thomas-Theorem". Wir reagieren also auf die Realität nicht so, wie sie ist, sondern so, wie wir sie konstruieren. Dieser Erkenntnis ist von zentraler Bedeutung.

Unser Menschenbild beschreibt also nicht nur einfach harmlos, wie Menschen vermutlich sind, sondern unser Menschenbild wirkt auch als eine soziale Norm. Es wird erwartet, dass die Menschen sich entsprechend diesem Menschenbild verhalten, weil es "normal" ist.

Die vermutete Erwartungshaltung unserer Mitmenschen kann sogar solch einen intensiven Einfluss haben, dass wir uns genau entgegen unserer eigenen Ansicht verhalten, nur um bitte schön der vermeintlichen Gruppenerwartung zu entsprechen. Daher kann es vorkommen, dass sich Menschen für ein egoistisches Verhalten entscheiden, obwohl sie lieber altruistisch sein möchten.

Es gibt aber eine andere Art, wie das Menschenbild als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken kann. Auf eine fast schon perfide Weise. Dazu muss ich allerdings kurz ein Experiment etwas beschreiben: Bei der Untersuchung der Hilfsbereitschaft von Kleinkindern im Alter von 20 Monaten stellten die Wissenschaftler in der ersten Runde stellen sie fest, dass die Kinder sehr häufig spontan helfen und zum Beispiel von sich aus einen heruntergefallenen Gegenstand aufheben. Soweit so erfreulich.

Danach wurden die Kinder in drei Gruppen aufgeteilt. Während die erste Gruppe auf ihre Hilfe nun keine Reaktion bekommt, wird den Kindern aus der zweiten Gruppe gedankt und die Kinder der dritten Gruppe dürfen sich über ein kleines Geschenk freuen, wenn sie helfen.

Nach mehrfacher Wiederholung des Tests wird dann eine letzte Runde durchgeführt. Genau wie zu Beginn wird jetzt bei allen Kindern ihre Hilfsbereitschaft getestet, aber diesmal gibt es kein Lob und auch kein Geschenk.

Das Ergebnis ist erschreckend: Die erste Gruppe zeigt wieder eine sehr hohe Hilfsbereitschaft. Die zweite Gruppe hilft fast ebenso häufig. Die dritte Gruppe aber, die für ihre Hilfe jedes Mal mit einem Geschenk belohnt worden waren, zeigen jetzt fast keine Hilfsbereitschaft mehr! Die ursprüngliche und der Natur des Menschen entsprechende Hilfsbereitschaft, die keine Motivation von außen braucht, wurde fast komplett zerstört, indem man das Kind jedesmal belohnt hat.

Man nennt dieses Phänomen in der Fachsprache: Korrumpierungseffekt.

An diesem Punkt sollte man kurz einhalten: Wie oft geschieht es in der Erziehung, dass wir Kinder belohnen, weil wir glauben, das gewünschte Verhalten müsse auf diese Art und Weise zu einem dauerhaften Verhalten antrainiert werden und sei eben leider nicht in der Natur des Menschen. Unser Unwissen über die Natur des Menschen verändert unser Verhalten und tatsächlich werden Kinder zu Kindern, die nur noch helfen, wenn sie etwas dafür bekommen.

Die Vorstellung des herrschenden Egoismus hat sich selbst erfüllt. Und wie viele vergleichbare Beispiele finden wir in Gesellschaft und Wirtschaft.

"Unser Verhalten ist ansteckend"

Ein letzter Punkt: Unser Verhalten ist ansteckend. Nicht nur Gähnen und Lachen. Auch Egoismus. Aber auch Altruismus und Hilfsbereitschaft. Wenn Menschen die Hilfsbereitschaft anderer erleben, erhöht sich ihre eigene Bereitschaft zu helfen um sage und schreibe 50 Prozent.

Die Theorie der sozialen Netzwerke Nicholas Christakis und von James Fowler erklärt eine weitere Facette, warum unser Menschenbild schnell wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken kann, denn sie haben festgestellt, dass sich altruistisches und kooperatives Verhalten über drei Stufen ausbreitet.

Der Altruismus eines Menschen hat deshalb nicht nur Auswirkungen auf die direkt erreichte Person, sondern auch auf die Freundin dieser Person. Und dann auf den Freund der Freundin dieser Person, der geholfen wurde!

Handlungen ziehen also verdammt weite Kreise und private Handlungen sind in dem Sinne vielleicht etwas weniger privat, als wir denken.

Georg von Westphalen: Und wenn man berücksichtigt, dass sich in unserem globalen Dorf alle Menschen auf der Welt über nur sechs Stufen kennen, dann kann man das protopische Potenzial von gelebter Menschlichkeit ermessen! Das ergibt einen wunderbaren Raum an Möglichkeiten für viele, viele protopische Kettenreaktionen!

Deswegen hat das Menschenbild und die Forschung über die Natur des Menschen auch eine wirklich politische Dimension!

Es gibt ein protopisches Zitat von Rutger Bregman aus "Im Grund gut", das hier passt:

"Es ist eine Idee, die Machthabern seit Jahrhunderten Angst einjagt, gegen die sich unzählige Religionen und Ideologien gewandt haben. Über die die Medien eher selten berichten, deren Geschichte durch eine unaufhörliche Verneinung geprägt zu sein scheint.
Gleichzeitig ist es eine Idee, die von nahezu allen Wissenschaftsbereichen untermauert, die von der Evolution erhärtet und im Alltag bestätigt wird. Eine Idee, die so eng mit der menschlichen Natur verknüpft ist, dass sie kaum auffällt.
Wenn wir den Mut hätten, sie ernst zu nehmen, würde sich herausstellen: Diese Idee könnte eine Revolution entfesseln. Die Gesellschaft auf den Kopf stellen. Wenn sie tatsächlich in unsere Köpfe vordränge, wäre sie vergleichbar mit einer lebensverändernden Medizin, nach deren Einnahme man nie mehr in der gleichen Art und Weise auf die Welt blickt.
Worin besteht diese Idee?
Dass die meisten Menschen im Grunde gut sind."

▶Eine letzte Frage: Ist "Hilfe, ich bin ein Mensch!" eigentlich nun ein Sachbuch mit extrem vielen Bildern oder ein Comic mit extrem viel Text?

Andreas von Westphalen: Es gibt Fragen, die sich leichter beantworten lassen …

Georg von Westphalen: Am besten einfach einen Blick ins Buch werfen und protopisch selbst entscheiden …

Bild Westend Verlag

Leseprobe: hier.

"Hilfe, ich bin ein Mensch!", Westend Verlag, 248 Seiten, 24 Euro