Putin vor der Niederlage?
Ein Gastkommentar zu einem gefährlichen Spiel.
Atomare Eskalation. Ein Schreckenswort? Zurzeit offenbar nicht, denn alles, was militärisch und nicht-militärisch gegen Putin eingesetzt werden kann, ohne direkt in den ganz großen Krieg zu stolpern, wird gegen ihn nach vorn gebracht: Waffen, Sanktionen, Logistik, Ausbildung von Soldaten und mehr. Gar keine Frage, dass Putin eine Lehre erteilt werden sollte. Niemand, der die Grundsätze des Völkerrechts ernst nimmt, wünscht sich dies anders.
Trotzdem bleiben zwei offene Fragen: Mit welchen Mitteln ist der Rechtsstandpunkt durchsetzbar und welche Risiken sind jeweils damit verbunden? Die Gesetze der militärischen Eskalation haben nämlich auch völlig andere Szenarien im Gepäck als die gegenwärtigen. Jedenfalls, wenn es nicht recht bald auf einen Abschluss des Kriegsszenarios durch Verhandlungen hinausläuft
Putin, so hört man überall, gehe es um seine Macht. Eine Niederlage, so muss das verstanden werden, wäre möglicherweise sein Ende. Sofern das zutrifft, ist die daraus folgende Logik eindeutig: Um zumindest einen Teilerfolg seiner Operation vorweisen zu können, würde er schließlich zu einer Steigerung der eingesetzten Mittel greifen. Zu konventionellen Kriegsmitteln, wenn es gut geht, aber eben auch – und wer könnte das ausschließen – zu atomaren.
Jedenfalls ist die Erstschlagsdoktrin Russlands darauf ausgelegt. Im Falle einer existentiellen Bedrohung Russlands sei der atomare Ersteinsatz gerechtfertigt. Doch ab wann wäre Russland existentiell bedroht? Bei einer Niederlage gegen die Ukraine? Nur Putin bzw. seine Berater werden definieren, wie das zu verstehen ist. Denn Putin kämpft aus seiner Sicht nicht alleine gegen die Ukraine, sondern gegen "den Westen", und ganz verkehrt ist das ja nicht.
Eine Arbeitsgruppe von Informatikern und Friedensforschern untersucht seit einiger Zeit jene Schwachpunkte, die zum Überschreiten der atomaren Schwelle führen könnten. Der Informatiker und Spezialist für Künstliche Intelligenz Karl Bläsius verweist auf die Unkontrollierbarkeit einer möglichen Eskalation.
Zerstörungsradien bei der Explosion einer SS-25 in deutschen Hauptstädten (16 Bilder)
Jeder kleine Einsatz von Mitteln – Waffenlieferungen, Unterstützung mit Überwachungsdaten, Sanktionen – könne eine Schwelle erreichen, die zum Einsatz von Atomwaffen führt. "Für jede einzelne, noch so kleine Aktion kann gelten, dass sie Auslöser eines Einsatzes von Atomwaffen sein kann. Jeder weitere Schritt könnte einer zu viel sein."
Die Büchse der Pandora
Und machen wir uns nichts vor, das wäre eine Katastrophe. 2019 veröffentlichten Forscher um den Klimawissenschaftler Owen Brian Toon an der Universität von Colorado/USA eine Studie über die möglichen Folgen eines eher "kleinen", regional begrenzten nuklearen Schlagabtauschs zischen Indien und Pakistan. Ihre Ergebnisse sind für alle jene desillusionierend, die hoffen, dass ein solches Ereignis zwar schlimm, aber letztlich zu verschmerzen wäre.
Zunächst würden die meisten Menschen "nicht an den Explosionen selbst sterben, sondern an den unkontrollierten Bränden, die folgen würden," so die Forscher. Anschließend käme es aufgrund der riesigen Massen aufgewirbelten Staubs zu einer gravierenden Störung des Weltklimas und in dessen Gefolge zu einer beispiellosen globalen Hungerkatastrophe.
Es bedarf nur geringer Fantasie, um sich vorzustellen, dass eine Zivilisation, wie wir sie kennen, nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre. Verteilungskämpfe wären unvermeidlich, Epidemien und die medizinischen Folgen des Desasters würden die Menschheit ruinieren.
Putin könnte also zum Ersteinsatz von taktischen Nuklearwaffen greifen, vielleicht sich auch zu eine Demonstrations-Detonation entschließen, um zu zeigen, dass er zu allem entschlossen ist. Wie würde die Nato reagieren? Niemand weiß das, weil es von einer Vielzahl von Umständen abhängt.
Jedenfalls wäre zum ersten Mal seit 1945 die atomare Schwelle überschritten worden. Die Büchse der Pandora wäre offen. Auch dieser Schritt könnte noch soeben glimpflich abgehen, doch eine Riesenkatastrophe wäre auch nicht ausgeschlossen.
Die daraus entstandene Situation heilloser Verunsicherung trüge noch eine weitere Bedrohung im Schlepptau: eine finale Eskalation aus Versehen. Natürlich hat niemand Interesse an einem nuklearen Schlagabtausch, der über die taktische Ebene auf dem Gefechtsfeld hinausgeht.
Die vernetzten Frühwarnsysteme sollen gegnerische Angriffe größeren Kalibers melden – aber sie können versagen und haben das schon mehrfach getan. Die Entscheidung über den Einsatz von strategischen Nuklearwaffen kann daher an das Verfahren launch on warning delegiert werden. Melden die Systeme einen Angriff, ist es die Technik, die innerhalb von Sekunden vorschlägt, dass ein augenblicklicher Gegenschlag erfolgen sollte, noch bevor der Angriff seine Ziele erreicht hat.
"Solche Alarmmeldungen sind dann besonders gefährlich", – so Bläsius – "wenn politische Krisensituationen vorliegen, eventuell mit gegenseitigen Drohungen, oder wenn in zeitlichem Zusammenhang mit einem Fehlalarm weitere Ereignisse eintreten, die zur Alarmmeldung in Zusammenhang gesetzt werden können."
Ein böses Spiel
Man könnte sich die Endphase des Ukrainekriegs also wie eine Prügelei in stockdunkler Nacht vorstellen. Der Mangel an Informationen bei allgemeinem Durcheinander veranlasst jeden der Schläger, einigermaßen blind, aber desto härter zuzuschlagen. So auch Atommächte, die vor der Niederlage stehen oder einen massiven atomaren Angriff der Gegenseite für möglich halten. Dies wäre genau der Punkt, an dem der seit dem Beginn des Kalten Krieges befürchtete große Nuklearkrieg nicht mehr auszuschließen wäre.
Nun könnte es auch die Bevölkerungszentren treffen und die Überlebenden würden die Toten beneiden. Gewiss ein Worst-Case-Szenario. Doch alle diese Möglichkeiten sind schon lange in die strategischen Planungen eingespeist. Davon auszugehen, dass Schlimmes deshalb niemals passieren kann, weil wir es uns einfach nicht vorstellen können, wäre reichlich naiv. Immer noch haben wir die Möglichkeit, zu verhandeln. Jede nur möglich Initiative dazu sollte ergriffen werden.