Putsch oder Volksaufstand? Georgien vor dem Zusammenbruch
Georgien steht am Scheideweg. Tausende protestieren täglich vor dem Parlament in Tiflis gegen die Regierung. Doch was als friedlicher Protest begann, droht nun außer Kontrolle zu geraten.
Entlang der Rustaweli-Allee, einer Hauptstraße in der georgischen Hauptstadt Tiflis, herrscht ein reges Treiben mit dem Verkauf von Feuerwerk. Doch das ist keine Vorbereitung auf den bevorstehenden Jahreswechsel. Seit einigen Tagen versammeln sich in der Metropole jeden Abend vor dem Parlamentsgebäude Tausende Menschen und fordern den Rücktritt der Regierung.
Die Eingänge zum Parlament sind mit einem massiven Metallzaun umgeben und die Demonstranten versuchen, diesen zu durchbrechen. Teils mit bloßen Händen, teils aber auch durch den Einsatz von Pyrotechnik.
Polizisten öffnen immer wieder kurz die Barriere, jedoch nur, um einzelne Demonstranten abzuführen. Die Rede ist davon, dass diese im Parlamentsgebäude körperlich misshandelt werden.
Nachts geht die Polizei auch in die Offensive und drängt die Demonstranten mit Wasserwerfern und Blendgranaten aus der Umgebung des Parlamentsgebäudes heraus. Am frühen Morgen werden die Reste der Demonstration aufgelöst, besonders aktive Protestierer festgenommen.
Doch am folgenden Abend ist alles wie am Tag zuvor. "Wir werden hier nicht weggehen, bis wir den Sieg errungen haben. Hier wird über das Schicksal Georgiens entschieden. Das ist ein Wendepunkt in unserer Geschichte", meint der 21-jährige Student Giwi, der sich an den Protesten beteiligt.
Die Regierung reklamiert, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihr stünde. Die Regierungspartei Georgischer Traum hat bei den Parlamentswahlen Ende Oktober nach dem amtlichen Ergebnis 54 Prozent der Stimmen geholt.
Im Wahlkampf setzte sie aktiv auf Transparente, die Bezug auf die Kriegsangst der Georgier nehmen, falls die Opposition an die Macht gelangt. Die Wähler wurden aufgefordert, zwischen Wohlstand, der durch den Georgischen Traum erreicht würde, und einer Wiederholung des "ukrainischen Szenarios", repräsentiert durch die Opposition, zu wählen.
Diese Rhetorik funktionierte insbesondere auf dem Land, wo viele Georgier der Partei tatsächlich ihre Stimme gaben. "Sie sehen selbst, was in der Welt passiert. Überall herrscht Krieg. Wenn die Opposition an der Macht ist, wird Georgien zu einer zweiten Ukraine", meint der 51-jährige Georgi, der die Regierungspartei gewählt hat und ein kleines Restaurant in Kutassi, der zweitgrößten Stadt des Landes betreibt.
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Vier Oppositionsparteien, die zusammen nur 61 von 150 Sitzen im Parlament errangen, erklärten die Wahl derweil für Betrug und forderten Neuwahlen. Sie werden dabei auch von der georgischen Präsidentin Salome Surabischwili unterstützt.
Nach den Wahlen brachte die Opposition ihre Anhänger auf die Straße, zunächst noch zu weniger massiven Protesten. Sie schienen zunächst abzuebben und die Opposition die Niederlage zähneknirschend hinzunehmen.
Doch nach der konstituierenden Sitzung den neuen Parlaments am 25. November bezeichnete die Präsidentin die Sitzung als verfassungswidrig und betonte, die Legitimität des Gremiums sei durch massive Fälschungen untergraben worden.
Die Spannungen nahmen wieder zu und führten zu einer regelrechten Explosion, als am 28. November Premierminister Irakli Kobachidse vom Georgischen Traum bekannt gab, das seine Partei die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union bis 2028 unterbrechen wolle und alle Haushaltszuschüsse der EU ablehne.
"Das war eine bewusste Provokation. Sie glaubten, sie kommen einfach mit der öffentlichen Unzufriedenheit zurecht oder sie wollte gezielt Gewalt eskalieren, um dann die Opposition und die Bürgerrechte zu unterdrücken" meint der georgische Politologe Gela Wasadse.
Bisher verliefen die Proteste in Tiflis und mehreren anderen großen Städten des Landes friedlich, was der Regierungspartei Hoffnung gibt, dass es zu einem Nachlassen der Proteste kommt. Die Position der Regierenden wird jedoch aktuell auch durch Rücktritte gehobener Führungskräfte erschwert.
Mehr als drei Jahrzehnte im diplomatischen Dienst Georgiens waren Fragen der europäischen Integration Georgiens gewidmet (…) Ich habe meine Amtspflichten treu erfüllt, so lange ich das Gefühl hatte, den Lauf der Dinge irgendwie beeinflussen zu können. Diese Hoffnung habe ich verloren.
David Solomonija
Mit diesen Worten trat etwa der Botschafter Georgiens in den Niederlanden, David Solomonija, von seinem Amt zurück. Fünf weitere hochrangige Diplomaten haben es ihm inzwischen gleich getan – wegen der Abkehr der Regierung vom europäischen Weg.
Ferner erklärten mehrere Beamte verschiedener Ministerien und sogar ein Mitarbeiter des Generalstabs ihren Rücktritt. Mehrere Universitäten und Schulen des Landes kündigten die Einstellung ihrer Arbeit an, bis Georgien "auf den Pfad der europäischen Entwicklung zurückkehrt".
Die Aussagen aus dem Bildungsbereich sind sehr hart. "Heute am Arbeitsplatz zu bleiben, bedeutet, eine illegitime Macht zu unterstützen. Wir wollen eine europäische Zukunft für unsere Kinder" meint etwa ein Mitarbeiter der Kaukasus-Universität in Georgien, der anonym bleiben will.
Das einzige zweifelsfrei legitime Machtzentrum im Land bleibt dabei die Präsidentin. Sie erklärte jedoch, dass sie beim Ablauf ihres Mandats nicht zurücktreten will, weil nach ihrer Meinung das Parlament nun nicht legitim ist.
Der Premier wiederum besteht darauf, dass die Präsidentin am 29. Dezember "ihren Wohnsitz verlassen und das Gebäude dem rechtmäßig gewählten neuen Präsidenten überlassen muss" Eine solche Wahl im Parlament ist für den 14. Dezember geplant.
Der "Georgische Traum" wird gerne als "prorussisch" bezeichnet. Ursache ist etwa ein "Gesetz über ausländische Agenten", das im Frühjahr vom Parlament verabschiedet wurde. Es gilt als Kopie einer russischen Norm. Im August beschuldigte der "Georgische Traum" Ex-Präsident Saakaschwili, dass er den Krieg mit Russland 2008 "auf Befehl von außen" begonnen habe.
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Fällt Georgien jetzt wirklich an Moskau?
Der ehemalige Vorsitzende des "Georgischen Traums" Bidsina Iwanischwili verfügt über enge Geschäftskontakte nach Russland und wird gerne als "graue Eminenz" der georgischen Politik bezeichnet, die Befehle vom Kreml erhalten würde.
Dafür gibt es keinerlei Beweise, aber russische Funktionäre bekräftigen öffentlich ihre Unterstützung für die Partei.
"Die Marionettenpräsidentin von Georgien weigert sich, Wahlergebnisse anzuerkennen und verstößt gegen die Verfassung, indem sie zum Putsch aufruft. Die gängige Praxis in solchen Fällen wäre eine Amtsenthebung und Verhaftung", tönte etwa der frühere russische Präsident Medwedew zum Streit in Georgien aus Moskau Ende Oktober.
Eine direkte Einmischung in die Ereignisse in Georgien gab es aus Russland bisher nicht. Sollten die Demonstranten jedoch Erfolg haben, werde Russland versuchen, Provokationen in Georgien zu organisieren, meint der Politologe Gela Wasadse.
Georgien kann nur die europäische Entwicklungsrichtung auf Russland umstellen. Das löst tatsächlich Proteste in einem großen Teil der Bevölkerung aus. Wenn in Georgien Blut vergossen wird, dann auf jeden Fall durch die Hand Moskaus.
Gela Wasadse
Eine angestrebte Klage der Opposition gegen die Gültigkeit der Wahlen wurde vom Verfassungsgericht nicht zur Behandlung angenommen. Es wollte sich nicht in der offenen Konfrontation im Land auf eine Seite schlagen. Deshalb wird die Situation im Land nun nicht juristisch, sondern auf der Straße entschieden. Die kommenden Tage werden entscheidend für Georgien sein, dass sich in einem Zwiespalt zwischen Russland und der Europäischen Union befindet.