Querdenker: Von Guten und Bösen

Ich soll mich, um ein "Guter Querdenker" bleiben zu können, von den "bösen" abgrenzen. Warum denn, und mit welcher Begründung? Ein Zwischenruf.

Ich bin Querdenker. So hatte ich mich hier vor kurzem explizit geoutet1 – und schon allein damit in manchen Wassergläsern einen Sturm entfacht. Auch in den Gläsern von manchen meiner engeren und so auch gleich um mich besorgten Freundinnen und Freunde.2

Ich hätte das "doch sicher nur als ein weiteres philosophisches Plädoyer für den Skeptizismus gemeint und dabei gewiss nicht auch an die Querulanten gedacht, die sich in den Corona-Protesten derzeit selber das altehrwürdige Label "Querdenker" umgehängt hätten. Drum: Grenz Dich jetzt – um Gottes willen! – ganz schnell von diesen üblen Leuten ab!"

Aufruf zur Abgrenzung

Warum sollte ich? Etwa, weil diese Abgrenzungsforderung nicht nur der Tenor einiger Freunde ist, vielmehr auch der des derzeit vorherrschenden medialen Narrativs?

Weil ich sonst Gefahr laufen würde, mit Gruppen in Verbindung gebracht zu werden, mit denen ich in der Tat möglichst wenig zu tun haben möchte?

Weil auch ich andernfalls zum Objekt nachrichtendienstlicher Beobachtungen werden könnte?

Oder – was, wie viele von uns selber bereits leidvoll haben erfahren müssen – wirklich noch viel schlimmer wäre: Weil ich sonst befürchten müsste, dass ohne diese Distanzierung sogar einige meiner engsten Freunde nicht länger meine Freunde bleiben würden?

Klar, all dies wären verdammt starke Gründe dafür, dem Drängen nachzugeben und mich als "guter" Quer- beziehungsweise Selbstdenker von den "bösen" abzugrenzen.

Welche Abgrenzungsgründe gibt es?

Was macht mich zögern? Dreierlei: Zum einen, dass ich, wenn ich denn wirklich selbst ein echter Selbstdenker sein und bleiben möchte, auch noch so starken Außenappellen nicht einfach reflexhaft folgen darf.

Zweitens, dass sich einige meiner besten Freunde – und somit letztlich auch ich selbst – auf beiden Seiten finden. Keinen davon will ich als Freund verlieren und mich so auch nicht selbst verleugnen müssen.

Und drittens: Weil mir, sobald ich etwas genauer hinschaue, schlicht und einfach nicht klar genug ist, was einen angeblich guten Querdenker von dem für bös gehaltenen unterscheidet. Und sollte ich genau dies nicht schon wissen, ehe ich, wie auf allen Kanälen derzeit lauthals gefordert und vorexerziert, schließlich gar auch noch selber dazu beitrage, die letzteren – "die Bösen" – blanko zum öffentlichen Abschuss freizugeben? In diesem Beitrag geht es nur um diesen dritten Grund.

Teil I: Begriffsdiagnose

I.1 Querdenker ist, wer ...

Wen wollen bzw. sollten wir als einen echten Querdenker bezeichnen? Mein Vorschlag, wie das Wort schon sagt: Nur einen Denker, dessen Denken quer zum offiziellen bzw. dominierenden Denken (seiner Zeit) liegt; und auch nur einen Denker, der ein Selbstdenker ist, also einer, der etwas nicht schon deshalb für wahr bzw. für richtig hält, weil das auch irgendwelche Anderen tun. Mein Musterbeispiel für einen echten Querdenker: Sokrates.

Damit es auch ja klar ist: Mir geht es im Folgenden nur um echte Querdenker, also um die, die wirklich welche sind, also die genannten zwei Bedingungen erfüllen; nicht um die, die von irgendjemandem, gar auch von sich selbst, einfach so genannt werden. Das ist ein großer Unterschied.

I.2 Kampfbegriffe

Diesen Unterschied zwischen Sein und So-Bezeichnet-Werden gibt es bei vielen Begriffen. Er ist je wichtiger, desto umstrittener ein Begriff ist. Und bei den so genannten Kampfbegriffen, zu denen offensichtlich nunmehr auch die Querdenker-Bezeichnung gehört, entscheidet diese Differenz im Extremfall sogar über Leben und Tod.

Darum noch mal: Es geht im Folgenden nur darum, wer ein Querdenker ist (also zurecht so benannt wird), nicht darum, wer von irgendjemandem einfach so – und somit eventuell letztlich zu Unrecht so – bezeichnet wird.

Mir selbst ist dieser Unterschied und dessen Relevanz erstmals beim Terrorismus-Begriff wirklich deutlich geworden: Nicht jeder, der als "Terrorist" bezeichnet wird, ist auch ein solcher; und nicht jeder, der einer ist, wird auch so bezeichnet. Die mächtigsten und die schlimmsten meist am allerwenigsten.

Notabene Terrorismus: Meine folgenden Ausführungen sind stark von den Erfahrungen geprägt, die ich im Kontext meiner Untersuchungen zur Logik des Terrorismus-Begriffs gemacht habe.3 Vielleicht sehe ich gewisse Parallelen deshalb etwas anders – und mitunter vielleicht auch etwas schärfer – als andere.

Kampfbegriffe sind stark wertende Begriffe. Die mit ihnen verbundenen Wertungen können positive wie negative sein. Beispiele für erstere: Demokratie, Freiheit, Humanität, Menschenrechte, Menschenwürde, Sicherheit, Gesundheit, Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Einheit, Identität und Solidarität. Beispiele für letztere: Diktatur, Knechtschaft, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Apartheidregime, Fake News, Verschwörungstheoretiker, XYZ-Leugner, Unwissenschaftlich, Staatsfeind, Schwurbler, Spalter und Sektierer.

Die deskriptive Bedeutung dieser Begriffe – ihr jeweiliger kognitiver Kern – ist jeweils verschieden4; ihr Wertungsaspekt hingegen ist in jeder dieser beiden Klassen jeweils derselbe: entweder stark positiv oder stark negativ. Neutrale Begriffe wären als Kampfbegriffe untauglich.

Der Unterschied zwischen ein X sein und ein "X" genannt werden, ist auch für die positiv konnotierten Kampfbegriffe relevant. Nicht jeder, der sich einen Demokraten nennt, ist auch ein solcher. Dito ist nicht jeder, der sich selber als einen Querdenker bezeichnet, wirklich ein solcher.

Und für beide (positive wie negative) Sorten von (Kampf-)Begriffen gilt natürlich auch: Man fällt nicht schon allein deshalb nicht unter ihn, nur weil jemand sagt, dass dem nicht so sei. Aus der Verwischung und Ignorierung dieser kleinen Unterschiede resultiert ein Großteil der extremen Macht politischer Propaganda.

I.3 Das Kampfbegriff-Gesetz

Für einen effektiven Einsatz dieser Begriffe als Kampfbegriffe kommt es fast nur auf deren Wertungsaspekt an. Dann gilt nämlich das Gesetz:

[Gesetz 1] Bei Kampfbegriffen ist der Impact des Wertungs-Aspekts zu ihrem kognitiven Kern umgekehrt proportional.

Je unklarer der kognitive Kern eines Kampfbegriffs ist, desto stärker ist seine (positive bzw. negative) wertende Kraft auf der kulturellen und politischen Bühne – und umgekehrt. Ihre größte Wirkung entfalten diese Begriffe daher genau dann, wenn das Gewicht ihres kognitiven Kerns gegen null geht. Bzw., wie die Emotivisten richtig gesehen hatten: Genau dann, wenn sich ihre Bedeutung auf den Unterschied zwischen "Bravo!" ("Hossianah!") und "Pfui!" ("Kreuzige ihn!") reduziert.

Dieses Gesetz erklärt ziemlich viel. Wo es primär nur auf das Ausdrücken von Wertungen ankommt, ist es nicht verwunderlich, wenn allein schon jede Wortmeldung, die auf den kognitiven Kern abzuheben versucht, nicht nur nicht erwünscht ist, vielmehr bereits als eine feindliche Operation angesehen und entsprechend negativ sanktioniert wird.

Und damit dies so ist und bleiben kann, wird die Entscheidung darüber, auf wen die betreffenden Begriffe zutreffen (sollen) oder nicht, dem öffentlichen Streit möglichst entzogen und an spezielle Institutionen delegiert; früher an kirchliche (Inquisition), heute an staatliche bzw. staatlich geförderte (Staatspräsident, eine Regierungskommission oder irgendwelche eigens zu diesem Zweck bestellte "XYZ"-Beauftragte bzw. so genannte Faktenchecker.)

Und insofern das Ziel primär die Verstärkung eines "Hossianah" oder eines "Kreuzige ihn!" ist, spielen auch alle Unterschiede zwischen den diversen kognitiven Begriffskernen keinerlei Rolle mehr.

Und so kommt im semantischen Krieg denn auch keiner dieser Rufe für sich allein: Wer sozial gekreuzigt werden soll, wird zudem mit einem ganzen Bündel negativer Kampfbegriffe gesteinigt. Sowohl das "Bravo!" als auch das "Pfui!" lassen sich durch den multiplen und möglichst breit gestreuten Einsatz von Munition aus dem Wertebegriffarsenal beliebig verstärken. Auch der Einsatz der schärfsten Munition, der Antisemitismus-Vorwurf, fehlt daher – verständlicherweise vor allem in Deutschland und Österreich – so gut wie nie.

I.4 Das Abgrenzung-Gesetz

Ein zweites Gesetz ist mir ebenfalls erst beim "Terrorismus" wirklich evident geworden. Inzwischen bin ich überzeugt, dass man ohne das Wissen um dieses Gesetz von unserer ganzen Weltgeschichte so gut wie gar nichts versteht:

[Gesetz 2] Die "Bösen", das sind nur (bzw. zumindest primär) die anderen.

Teilt man die Menschen, wie üblich, dichotomisch in "die Guten" und "die Bösen" ein, so folgt aus diesem Gesetz unmittelbar: "Die Guten", das sind (primär) wir.

Eine weitere Variante dieses Gesetzes spricht nicht von "den Bösen", sondern "nur" von "den Blöden, den Irrationalen, den Idioten". Die entsprechende Folgerung wäre: "Die Klugen, die Intelligenten, die Rationalen", das sind (primär) wir.

Dieses offenbar universell gültige Gesetz ist so einfach, dass es kaum einer weiteren Erklärung bedarf. Trotzdem – oder gar deshalb: Es dürfte eines der von den Menschen in der Praxis am meisten befolgten und zugleich beim eigenen Nachdenken, so es überhaupt zu einem solchen kommt, am meisten ignorierten Gesetze sein.

Es gilt übrigens nicht nur für die großen kultur- und geopolitischen Außenbezirke, auch für alle Innen-Bereiche. Ein Musterbeispiel: unsere Querdenkerdebatten.

I.5 "Querdenker" im Corona-Zeitalter – ein Kampfbegriff

Meine Behauptung im vorigen Telepolis-Artikel war: Dank Corona ist der Querdenker-Begriff im Kampf um die richtige Corona-Einstellung zum "ultimativen Schimpfwort mutiert". So ist es.5 Wobei "Dank Corona" in einem doppelten – eng verknüpften – Sinne zu lesen ist:

(a) Infolge des Protests der Corona-Skeptiker gegen die dominante Corona-Politik, und

(b) im Gefolge der sozialen Ausgrenzung dieser Skeptiker durch die Befürworter dieser Politik.

Bei der Ausgrenzung der Anderen fungiert dieser Begriff derzeit als der zentrale Kampfbegriff. Konkurrieren kann mit ihm allenfalls noch der Begriff Corona-Leugner. Die beiden Gesetze eins und zwei entfalten auch in diesem Kontext ihre volle synergetische Kraft.

Für den vernichtenden Einsatz des Querdenker-Begriffs gibt es im Kontext von Corona-Debatten "keine rote Linie". Auch keine kognitiv semantische. Überprüfen Sie bitte doch einfach mal selbst, inwieweit die im letzten Absatz von I.3 noch ganz allgemein beschriebenen Folgen solcher Kampfbegriff-Einsätze auch bei dem speziellen Totschlag-Begriff "Querdenker" zutreffen. (Meines Erachtens: rundum. Für mich korrigierende Rückmeldungen über das Telepolis-Forum wäre ich dankbar.)

I.6 Ich prognostiziere

Nachdem die Querdenker-Szene von einigen ‚Vordenkern‘ bereits blanko zu Staatsfeinden erklärt worden ist und en bloc als "Extremisten", "Rassisten", "Faschisten" etc. beschimpft wird, dürfte es nicht mehr lange dauern, bis auch für sie der übliche nächste Schritt folgt: Auch die Querdenker werden, wenn es so weitergeht, in Kürze (wie die kanadischen Trucker) zu "Terroristen" erklärt werden und schließlich auch als solche behandelt. Sie werden – dämonisiert und selbst von ihren bislang lieben Nachbarn denunziert – mehr und mehr zu Outlaws.

Dies ist, wie die Geschichte des (seinerseits maximal terroristischen) Krieges gegen den Terror nun schon mehrfach gezeigt hat, der sicherste Weg, aus Dissidenten auch wirklich Terroristen zu machen.

Warnung: Diese Entwicklung ist das Ende jeder Debatte. Aus einem semantischen Bürgerkrieg wird schnell auch ein realer. (Ein echter Selbstdenker könnte jetzt fragen: Soll er das gar?)