Quetzalcoatl lebt

Die Realität der Geopolitik

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"Massaker in Mexiko! Der aztekische Gott Quetzalcoatl tötet Hunderttausende!" Wir würden dieser Schlagzeile nicht glauben, denn Quetzalcoatl gibt es nicht. Dennoch kommt dieser alten Gottheit eine Realität zu, jene Realität nämlich, die ihr von den Gläubigen verliehen wurde. Mit Quetzalcoatl verband sich ein Mythos seines Verschwindens in Richtung Osten und seiner künftigen Rückkehr. Der Konquistador Cortés kannte dieser Mythos und förderte den Glauben der Indianer, er, Cortés, sei der zurückgekehrte Gott, womit der Mythos bestätigt und der Glaube an gerade diesen Gott populärer wurde. Als Gott raubte Cortés Moctezumas Reich und unzähligen Azteken ihr Leben. Tzvetan Toorov hat in seiner großartigen Analyse "Die Eroberung Amerikas" gezeigt, dass die Spanier in Mexiko vor allem einen Infowar der Zeichen und der Kommunikation gewonnen hatten, anders hätten sie die tausendfach überlegene Militärmacht der Azteken nicht so schnell brechen können.

Selbst wenn man nun glaubt, es gebe nur einen Gott und eine Kirche, verfehlt der Einwand, es gebe keinen Quetzalcoatl, die ganz handfeste Lage im Mittelamerika der Conquista. Wie steht es mit der vergleichbaren Aussage Andreas Krügers in seinem Essay "Politische Maschinerie Online" (de:bug März 2001, S. 26), das geopolitische Denken verfehle die faktische Komplexität der internationalen Vernetzung der politischen Institutionen? Krügers Realität ist eine Realität ohne Geopolitik: "Die rasant voranschreitende Verflechtung der europäischen Politik entzieht sich geopolitischen Kategorien."

Geopolitik: also das politische Denken in Einflusszonen, Interessensphären, Hegemonien, Bruchlinienkonflikten und Großraumordnungen entspräche mithin dem aztekischen Götzen, den es nicht gibt. Was dagegen realexistiert, ist die "Europäische Union, mit ihrem Kuddelmuddel regionaler, nationaler und supranationaler Verwaltungen und ihren oft undeutlichen Hierarchien", in deren Vernetzung, Dichte und Tiefe Krüger Indizien für eine "dem Zeitalter des Internet durchaus gemäße Ordnung" sieht. Das mag sogar zutreffen, obwohl man einwenden könnte, der medientechnisch altmodische Völkerbund sei ähnlich undurchschaubar und komplex gewesen, was allerdings keine der beteiligten Nationen im Ernstfall an einer aggressiven Hegemonial- und Kolonialpolitik gehindert hat, im Gegenteil...

Die Frage wäre also, ob die Realitäten der Geopolitik und der komplex vernetzten Institutionen sich ausschließen. Folgt aus dem Brüsseler "Kuddelmuddel", das Zeitalter der Geopolitik sei vorbei, so wie man aus der christlichen Überzeugung, es gebe allein einen Gott, mit Gewissheit schließen konnte, Quetzalcoatl habe keine Realität?

Cortés, der ein überzeugter Katholik war, hat immerhin die Realität Quetzalcoatls genau analysiert und für die Conquista genutzt. Ausgerechnet als neuer Quetzalcoatl ist er für die Dreifaltigkeit in den Krieg gezogen. Könnte nicht die Realität der regionalen, nationalen und internationalen Vernetzungen politischer Institutionen sich nicht ähnlich zu der Realität geostrategischer Interessenpolitik und "altmodischer" Freund-Feind-Unterscheidungen verhalten wie Quetzalcoatl zum Gott der Christen? Beiden Göttern kommt ja aus der Sicht Dritter keine "reale Realität" zu, sondern nur jene Wirklichkeit, die in der Kommunikation erzeugt wird. Allein der Glaube an die Geopolitik könnte also ähnlich handfeste Wirkungen zeitigen wie der an Quetzalcoatl.

Auch wenn man es tausendfach als Aberglaube bezeichnen könnte: die amerikanische Gemeinde Carl Schmitts hat einen Glauben, der Schutzschilder errichtet. Die New Missile Defence, das New Missile Theatre oder - ganz cyberspacig - das Federal Intrusion Detection Network zur Verteidigung der US Information Infrastructure (sprich: weltweites Internet) vor Cyberterroristen und Infowar-Attacken wären Beispiele für eine Realität der Geopolitik, die bereits im Netz der internationalen Institutionen erhebliche Folgen zeitigt. Das ganze Brüsseler "Kuddelmuddel" und alle Unübersichtlichkeit des Internet (woraus dann Unbeherrschbarkeit und Demokratienähe abgeleitet werden) hilft bislang wenig gegen die Entschlossenheit der US-amerikanischen militärisch-politischen Führung, den Cyberspace mit einer einfachen Unterscheidung in einen geopolitischen Raum zu verwandeln.

Das Netz der Netze wird ganz einfach in zweigeteilt in alle Rechner, Kabel und Satelliten, die für die Infrastruktur der amerikanischen Wirtschaft und der nationalen Sicherheit der USA von Interesse sind, und den Rest. Ähnlich wie im Falle der NMD soll die eine Seite kontrolliert und geschützt werden, während von der anderen Seite der Angriff erwartet wird. Auch wenn hier nicht von "Freund" und "Feind" gesprochen wird und der Raketenabwehrschirm auf das Niveau von Anti-Terror-Maßnahmen runtergeredet wird, obwohl er das geostrategische Gleichgewicht zwischen Russland, China, Indien und den USA erheblich verändert und entsprechende Rüstungsanstrengungen motivieren wird, eröffnen die USA damit das geopolitische Spiel neu und reanimieren die dazu passende Begleitsemantik (rogue states etc.).

Die USA, die im letzten Jahrhundert von der Verletzlichkeit ihres eigenen amerikanischen Großraums geradezu traumatisiert worden sind (Pearl Harbour) und denen die Möglichkeit eines Angriffs im Herzen des Reiches ein Gräuel ist, investieren nun also ihre Energien in die Wiederherstellung der guten, alten Zeiten der Monroe-Doktrin, die sich jede Operation einer auswärtigen Macht auf dem amerikanischen Kontinent verbat, den USA selbst aber jede beliebige Operation außerhalb des amerikanischen Kontinents gestattete. Wenn das nicht "Geopolitik im Cyberspace" (und außerhalb) ist! Sie mag unterkomplex sein, nicht auf der Höhe dynamischer Netze und postsouveräner Modelle der global governance, aber sie hat genau die Realität, die ihr als wirkungsmächtiges Selbstbeschreibungsmuster zukommt.

Quetzalcoatl hat eine große Gemeinde, und manche Ethnologen vermuten gar, dass er es ist, der in Mittelamerika noch heute hinter der Maske von Dornenkrone und Kreuz verehrt wird. "Draußen ist eine neue Welt", schließt Andreas Krüger zurecht - aber auch die alten Dämonen sind in ihr nicht ohne Macht. Und viele der alten Götter im Cyberspace tragen Uniformen. Niels Werber