RKI-Files: Die unersättliche Schule des Verdachts

Öffentlichkeit, etablierte und alternative Medien: Warum die Diskussion über die heraus geklagten Dokumente so wichtig ist. Ein Kommentar.

Die RKI-Files sind zu einem Brennpunkt einer Debatte geworden, die aufflammen musste.

Das liegt daran, dass der Zorn über die Corona-Maßnahmen, wie in der Diskussion deutlich zu sehen, längst nicht ad acta gelegt ist. Was politisch zur Pandemiebekämpfung durchgesetzt wurde, griff so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik in grundgesetzliche Freiheitsrechte der Bürger ein. Das ist ein Schock, der bisher nicht überwunden ist.

Das ist schon mal das erste starke Signal aus den Nachrichten der letzten Tage zu den RKI-Files.

Der Schock

In den Köpfen nicht weniger sitzt der Gedanke, dass sich der Ausnahmezustand der Corona-Krise wiederholen könnte. Und, das macht die Sache des unverarbeiteten Kollektiv-Traumas der Republik nicht gerade einfacher: Mit der Corona-Krise verbunden ist eine Unersättlichkeit der Schule des Verdachts, die nicht überwunden ist, sondern sich fortsetzt.

Das ist das zweite Signal.

Der Verdacht war allseitig, multipolar, wenn man so will. Er richtete sich gegen die Regierung wie auch gegen Kritiker der Notstands-Politik – und gegen Medien. Entweder waren sie verdächtig einsichtig und zu nah an der Macht oder verdächtig uneinsichtig, zu weit weg vom demokratischen Konsens, der nötig war, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Politik der Platzanweisungen

Platzanweisungen, nicht nur in den Medien, machten Schule: "Ihr seid manipulierte Schafe" wurde den einen zugerufen und "Ihr seid nur an eigenen Interessen orientierte, verantwortungslose Zerstörer der Gemeinschaft, Bestattungsunternehmer der Demokratie" den anderen.

Das ist, zugegeben, ein sehr grobkörnige Plakatierung. In der Realität verliefen die Fronten nicht immer so eindeutig markiert, differenzierter. Zu beobachten ist aber eine gegenseitige Tendenz der Ausgrenzung, eine Neigung, Gegenpositionen nicht an sich herankommen zu lassen.

Gründe für die Neigung finden sich leicht: im Manipulationsvorwurf, der von der Gegenöffentlichkeit als stetige Arbeitsprämisse gegen Machtpolitik und etablierte Medien eingesetzt wird - und im Hang zu Spekulationen und Einseitigkeiten, die Alternativmedien entgegengehalten werden.

Ein Vorwurf, der ins Leere geht

Das Echo dieser zwei, in sich ziemlich verschlossenen Kammern ist in der gegenwärtigen Diskussion über die RKI-Files laut herauszuhören. Ein Telepolis-Artikel am Wochenende fasste den Vorwurf, den Multipolar mit der herausgeklagten (!) Veröffentlichung der RKI-Dokumente verbindet, so zusammen:

Im Zentrum steht der von multipolar selbst vorgebrachte Vorwurf, wonach die Risikobewertung der Atemwegserkrankung Covid-19 nicht auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgt ist. Sondern mutmaßlich auf politischer Anweisung, womöglich des weisungsbefugten und übergeordneten Bundesgesundheitsministeriums.

RKI-Files: Schweigen, Spekulation und ein erhärteter Verdacht

Mittlerweile berichten Auskünfte, die der Spiegel und die Tagesschau erfragt haben, davon, dass das Hochfahren der Risikobewertung nicht auf eine "politische Anweisung" erfolgt ist.

Die mutmaßliche Person im Hintergrund, auf dessen Placet man wartete, war kein Politiker und es ging auch nicht darum, ob entsprechende politische Maßnahmen getroffen werden, die entsprechende Bewertung dafür war schon getroffen, sondern um die Veröffentlichung der Risikobewertung.

Im Protokoll vom 16. März 2020 steht, dass am Wochenende eine neue Risikobewertung vorbereitet wurde. "Es soll diese Woche hochskaliert werden", heißt es. Die Risikobewertung werde veröffentlicht, sobald eine in den Dokumenten geschwärzte Person ein Signal dafür gebe. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums steht hinter der Schwärzung "ein interner Mitarbeiter des RKI".

Das RKI hatte somit bereits eine neue Risikobewertung vorgenommen, die jedoch noch nicht veröffentlicht wurde. Die Behauptung, dass diese Entscheidung nicht auf fachlicher Einschätzung passiert sei, ist somit irreführend. Es fehlte lediglich die Zustimmung einer bestimmten Person, um diese Risikobewertung zu veröffentlichen.

Tagesschau

[Nachtrag: Der Autor des Telepolis-Beitrags zur Sache: RKI-Files: Schweigen, Spekulation und ein erhärteter Verdacht, Philipp Fess, richtete eine Anfrage an das RKI:

"Aus welchen Gründen ist im März (speziell am 16. bzw. am 17. des Monats) die Anpassung der Risikoeinschätzung von Covid-19 (von zunächst "mäßig" auf "hoch") erfolgt und welche Entität/Instanz/Akteur hatte diese aus welchen Gründen zu verantworten? Falls es sich dabei nicht um das RKI selbst handelt, um wen dann?"

Die Antwort des Instituts lautete:

"Die Entscheidung wurde von der Institutsleitung des RKI unter Einbindung des Krisenstabs des RKI getroffen. Die Einschätzung ergab sich aus der damaligen epidemiologischen Gesamtlage und der u.g. "Covid-19: Grundlagen für die Risikoeinschätzung des RKI."

Laut E-Mail ist das genannte Dokument hier zu finden.

Demnach geschah die Entscheidung innerhalb des Instituts.]

Nun kann man über die Grundlagen der Risikobewertung trefflich diskutieren. Es geht im Großen darum, auf welcher wissenschaftlichen Basis die Grundrechte stark beschneidenden Maßnahmen getroffen wurden.

Im Nachhinein sehen sich Kritiker, die schon frühzeitig, während der Krise, ein unwissenschaftliches Vorgehen bemängelten, bestätigt. Das muss aufgearbeitet werden und dafür geben die herausgeklagten Files einen neuen, wichtigen Anlass.

Doch zeigt sich auch, dass der Vorwurf von Mulitipolar, die Hochskalierung sei auf direkte politische Anweisung erfolgt, ins Leere geht.

Reaktionen

Zumindest in diesem Punkt und auch der Umgang damit ist wichtig. Das Magazin hat in den vergangenen Tagen eine mediale Aufmerksamkeit wie nie zuvor erhalten. Weil man Fakten auftischen konnte, Dokumente. Daran konnte die mediale Öffentlichkeit nicht vorbeisehen.

Es zeigte sich eine Fülle von geschwärzten Stellen, die viele Fragen aufwerfen. Aber der mit der Veröffentlichung verbundene brisante Vorwurf wurde dadurch nicht bestätigt und dem wird von Amtsvertretern wie Lauterbach auch als nicht richtig in der Sache widersprochen.

Paul Schreyer kontert nun mit einer Darlegung, wie unkorrekt die Medien mit Berichten über die Files umgegangen sind. Da wurde nachträglich korrigiert, so sein Vorwurf. Es wurde nach seiner Darlegung unsauber gearbeitet.

Der Verdacht der Manipulation hat seine triftigen Gründe, heißt das. Das müssen nun Spiegel und ZDF aufarbeiten. Man darf gespannt sein, wie sie es tun. (Nachtrag: Wichtig zu sehen ist auch, wie sich Multipolar mit der neuen Sachlage auseinandersetzt).

Aufarbeiten tut not: Was traut man der Leserschaft zu?

In der Berichterstattung über die von Multipolar eingeklagten RKI-Files, ein Ausweis guter journalistischer Arbeit, die es sich nicht leichtmacht und Hindernisse nimmt, machte es sich der Spiegel, wie auch andere traditionelle und arrivierte Medien, einfach.

Sie schoben den Berichten ein Framing vor, journalistisch "Einordnung", die das Magazin als "rechtspopulistisch" ausweisen und der Leserschaft somit gleich von Anfang an klarmachen, wie sie das im Bericht folgende zu lesen hat: als gefährlich, mit einem bestimmten Verdacht.

Traut man den doch klugen Lesern dieser Publikationen nicht zu, dass sie sich selbst ein Bild machen und ein Urteil bilden können? Das gilt selbstverständlich auch für Alternativmedien im Umgang mit den traditionellen.

Es wäre eine Verbesserung der journalistischen Qualität, wenn man sich in diesem Fall auf die Auseinandersetzung über Fakten konzentriert. Da können beiden Seiten, Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, demonstrieren, wie präzise und begründet sie schildern können, was der Fall war.

Es werden weitere Diskussionen zur Corona-Politik kommen und es gibt eine ganze Menge an Arbeit an Vorurteilen und Einschätzungen zur Krisenbewältigung.