Radioaktive Verseuchung um Tschernobyl ist heute gefährlicher als 1986
Die radioaktive Zerfallskette von Plutonium und ihre Spätfolgen
Dass der explodierte Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl die Umgebung auf Jahrhunderte unbewohnbar machen würde, war zu erwarten. Unerwartet, doch physikalisch erklärlich ist, dass die Radioaktivität in Weißrussland heute allerdings noch gefährlicher ist als in den Jahren direkt nach dem Unglück.
Es gibt verschiedene Sorten Radioaktivität, abhängig davon, welche Art von Teilchen aus dem zerfallenden Atomkern fliegen. Die bekanntesten sind Alpha-, Beta, Gamma- und Neutronenstrahlung. Hinzu kommen die entstehenden Spaltprodukte wie Jod und Cäsium, die beim Zerplatzen eines Urankerns unmittelbar entstehen, da sie beide ungefähr die Hälfte an Protonen und Neutronen enthalten. Alle diese Spaltprodukte können dabei lebendes Gewebe zerstören, doch sind die Auswirkungen unterschiedlich.
Gammastrahlung ist dabei am durchdringendsten, Betastrahlung – Elektronen – wird dagegen leichter aufgehalten und Alpha-Strahlung – Heliumkerne – kann nicht einmal Papier oder Haut durchdringen. Deshalb gilt sie mitunter als ungefährlicher, doch dies stimmt nur, solange sie sich außerhalb des Körpers befindet. Wenn sie auf lebendes Gewebe stößt, ist sie besonders zerstörerisch. Und dies geschieht sehr leicht durch Einatmen oder Verschlucken.
Neutronen sind gar gleichzeitig durchdringend und zerstörend, was erklärt, wieso die Uran-Atombombe von Hiroshima deutlich tödlicher war als die Plutonium-Atombombe von Nagasaki, obwohl Spreng- und Hitzewirkung sowie Gammastrahlung bei beiden etwa gleich schlimm ausgefallen waren. Die Neutronenstrahlung der Uran-Atombombe war jedoch etwa zehnmal so stark.
Die bei der Atomspaltung entstehenden Jod- und Cäsiumisotope 131J und 137Cs sind dabei selbst wieder radioaktiv und führen beim Zerfall zu Beta- und Gammastrahlung. Jod 131 zerfällt bereits innerhalb von 8,1 Tagen zur Hälfte, was zur Folge hat, dass es anfänglich sehr stark strahlt, doch innerhalb eines Jahres praktisch verschwunden ist. Gefährlich ist das Isotop, weil es sich als Jod in der Schilddrüse anreichert, was zur Radiojod-Therapie verwendet werden kann, doch nach Atomunglücken in solchen Maßen in die Umgebung gerät, dass die Ansammlung in der Schilddrüse dieser gefährlich wird. So hat sich die Rate von Schilddrüsenkrebs bei Kindern nach dem Atomunglück von Tschernobyl in der dortigen Regien verneunzigfacht. Es wird deshalb versucht, die Schilddrüse mit Jodtabletten, die das normale, nicht radioaktive 127J enthalten, so zu übersättigen, dass sie anschließend weniger des gefährlichen 131J aufnimmt.
137Cs hat dagegen eine Halbwertszeit von über 30 Jahren und lagert sich ähnlich wie das bei Atombombenexplosionen frei werdende radioaktive Strontium 90 anstelle von Kalzium in den Knochen ab. Es stellt heute das Hauptkontingent der über Europa verteilten radioaktiven Produkte aus dem Unglücksreaktor.
Neben den Zerfallsprodukten entsteht in einem Atomreaktor jedoch unter Neutronenbeschuss aus dem stabilen Uran 238 auch jede Menge Plutonium – ein sehr giftiges Element, das natürlich praktisch nicht mehr vorkommt, da alle Isotope radioaktiv und mittlerweile zerfallen sind.
Reaktoren der Tschernobylbauweise RMBK produzieren sogar ausgesprochen viel Plutonium, da sie genau hierfür – nämlich zum Erbrüten von Plutonium für den Atombombenbau – konstruiert worden waren. Man hatte dann lediglich die ursprünglich militärischen Reaktoren immer größer gebaut, um stattdessen Strom zu erzeugen. Folglich wurde bei der Explosion von Tschernobyl auch jede Menge radioaktives Plutonium frei, bei dessen Zerfall fast immer Alpha-Strahlung frei wird. Dies macht Plutonium in der Umwelt alleine bereits gefährlich genug.
Nur ein Plutonium-Isotop – 241Pu – ist ein Betastrahler mit einer Halbwertszeit von 14,4 Jahren. Das klingt also ungefährlicher, doch das ist es nicht. Nach 14,4 Jahren hat sich also die Hälfte des 241Pu in 241Am umgewandelt – ein Americium-Isotop. Das ist nun etwas stabiler und hat eine Halbwertszeit von 432,2 Jahren. Doch es ist ein gefährlicher Alpha-Strahler.
Die Folge: Heute ist die Alphastrahlung in Weißrussland (Belarus) dreimal so hoch wie 1986 und Beeren oder Pilze aus der Gegend sind nach wie vor hochgefährlich. Die nächsten 270 Jahre wird sich an dieser Situation auch nichts ändern, wie Rob Edwards im New Scientist berichtet und die mit Alphastrahlung verseuchte Fläche wird von 950 Quadratkilometern im Jahr 1986 auf 3500 Quadratkilometern im Jahr 2006 zunehmen, so die Wissenschaftler der National Academy of Sciences in Gomel, Belarus. Bis 2276 wird die Alphastrahlung doppelt so hoch sein wie direkt nach dem Atomunfall.
Besonders betroffen ist der Süden und Osten Weißrusslands, wo 740 bis 3700 Becquerel pro Quadratmeter gemessen wurden – 14- bis 70-mal so hoch wie im Rest des Landes, berichten die Forscher um Vladimir Knatko vom Academy’s Institute of Radiobiology im Journal of Environmental Radioactivity in der Ausgabe 83 auf Seite 49. Die Rauchschwalben in der Gegend um Tschernobyl zeigen doppelt so viele Mutationen wie vor dem Reaktorunglück und generell ist die Überlebensrate ausgewachsener Vögel in der Region auf die Hälfte gesunken.
Doch auch das Cäsium 137 hat schon in kleinen Mengen stärker krebsauslösende Wirkung als erwartet und wäscht zudem nicht so stark aus dem Boden aus, wie erhofft: Es wird von Gras und anderen Pflanzen immer wieder neu aus dem Boden aufgenommen, weshalb Schafe auf hunderten englischer Farmen auch heute noch Beschränkungen in Verlegung, Verkauf und Schlachtung unterliegen, so Murdoch Baxter, Gründer des Journal of Environmental Radioactivity.