Rätselhafte Schriftzeichen
In Mexiko wurde eine Schrifttafel mit den bislang ältesten Glyphen der Neuen Welt gefunden. Sie bilden ein unbekanntes olmekisches Schriftsystem ab.
Ein internationales Forscherteam hat in Mexiko die bislang ältesten Schriftzeichen der Neuen Welt gefunden. Die Archäologen um Carmen Rodríguez Martínez und Ponciano Ortíz Ceballos vom Centro del Instituto Nacional Antropologia e Historia in Mexiko entdeckten die etwa 3.000 Jahre alten Glyphen auf einem Steinblock, der per Zufall bei Straßenbauarbeiten ans Tageslicht gekommen war.
Zeichen aus dem Schutthaufen
„Cascajal Block“ heißt der spektakuläre Fund – eine 36 Zentimeter lange, 21 cm breite und 13 cm dicke Platte aus Serpentinstein, der die ältesten bekannten Schriftzeichen der neuen Welt enthält. Straßenbauarbeiter förderten ihn in einem Schutthaufen in der Nähe von Lomas de Tacamichapa im mexikanischen Bundesstaat Veracruz zu Tage, zusammen mit Fragmenten von Lehmfiguren und Tonscherben.
Das war im Jahr 1999, und es wurden schon damals Wissenschaftler dorthin beordert, um die Objekte in Augenschein zu nehmen. Doch erst 2006 erkannten die Archäologen Carmen Rodríguez Martínez and Ponciano Ortíz Ceballos die Bedeutung der Schrifttafel und sorgten für eine gründliche Untersuchung.
Dank der Beigaben konnte der Serpentinstein auf ein Alter von etwa 900 vor Christus datiert werden. Er wird daher der Kultur der Olmeken zugeordnet, der ältesten Zivilisation Mesoamerikas (informative Webseiten zum Thema in Englisch und Deutsch. Und er ist älter als alle anderen Glyphenfunde, die bislang in diesem Kulturraum geborgen wurden.
Neues Schriftsystem
Die Olmeken gelten als die Mutterkultur Mittelamerikas. Sie waren Meister der Steinbearbeitung und schufen beeindruckende Großplastiken mit den berühmten Kolossalköpfen, Steinaltäre sowie Kleinplastiken aus Jade. Während lange Zeit die Zapoteken (ab circa 500 v. Chr., Gebiet von Monte Albán, Mexiko), bei denen sich ab etwa 300 v. Chr. Schriftverkehr nachweisen lässt, als erste Schriftkultur der Neuen Welt galten, berichteten amerikanische Forscher schon 2002 (Science, 6. Dezember 2002, Bd. 298) von olmekischen Gravuren aus der Zeit von 650 v. Chr. Die Glyphen auf einem Steinsiegel und einer Jadescherbe belegten ihrer Meinung nach, dass schon die Olmeken eine vollwertige Schrift besaßen.Diese Interpretation ist allerdings umstritten. Es steht nicht endgültig fest, ob die Zeichen tatsächlich gesprochene Sprache und somit echte Schrift repräsentieren, oder ob sie nur Bilder von Objekten oder Personen darstellen.
Der Cascajal Block scheint in dieser Hinsicht eindeutiger. Die Steinplatte ist mit 62 Glyphen bedeckt – bestehend aus 28 unterschiedlichen Zeichen. Neben einzeln stehenden Zeichen sind andere in Gruppen angeordnet, in linearen Sequenzen. Für Rodríguez Martínez und Kollegen erfüllen sie die Kriterien einer Schrift, die womöglich einer Syntax folgt.
Als Produkte eines Schreibsystems spiegeln die Sequenzen Sprachmuster wider, denen wahrscheinlich eine Syntax oder sprachabhängige Wortfolge zu Grunde liegt.
Rodríguez Martínez
Eine bestimmte Reihenfolge bzw. Gesamtanordnung im Sinne eines durchgehenden Textes können sie gleichwohl nicht entdecken. Was die Glyphen bedeuten, ist ein Rätsel, zudem repräsentieren sie ein neues Schriftsystem. Da sie jedoch bereits bekannten olmekischen Zeichen ähneln, vermuten die Forscher eine Leserichtung von links nach rechts.
Mehrfach benutzte Schrifttafel
Fünf Seiten des Serpentinsteins wölben sich nach außen, während die Oberfläche mit den Schriftzeichen leicht nach innen ausgehöhlt ist – ein Indiz dafür, dass die Platte mehrmals abgeschliffen und wieder neu eingeritzt wurde – eine bislang einmalige Entdeckung.
Für Rodríguez Martínez und ihr Archäologenteam, die In der aktuellen Ausgabe von Science (Vol. 313 vom 15. September 2006) berichten, steht damit fest, dass die Schriftkultur bei den Olmeken tiefer ausgeprägt war als angenommen, dass es vermutlich verschiedene Zeichensysteme gab und ihr kulturelles Leben komplexer war als angenommen.
„Es handelt sich um eine verheißungsvolle Entdeckung. Es könnte der Anfang einer neuen Ära der Betrachtung der olmekischen Zivilsation bedeuten”, schwärmt Co-Autor Stephen Houston vom Department of Anthropology der Brown University, Rhode Island. „Sie sagt uns, dass es vermutlich noch mehr Aufzeichnungen gibt, die gefunden werden müssen. Wenn es uns gelingt, ihren Inhalt zu entschlüsseln, dann werden diese frühesten Stimmen der Mesoamerikanischen Zivilisation zu uns sprechen.”