Rasch niedrige Fallzahlen erreichen

Bild: Nong Vang/Unsplash

Hunderte Forscher fordern europaweite Corona-Vision. Das Ziel: maximal zehn neue Covid-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag. Die Strategie: Tiefgreifende Interventionen

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Heute ist Bundesliga-Samstag. Vielleicht erklärt uns der Spiegel die Sache deswegen über diesen Laufweg:

Es ist wie bei einem gigantischen Fußballspiel. (…) "Jedes Mal, wenn die Virus-Mannschaft ein Tor schießt, bekommt sie bis zu drei neue Spieler", sagt Priesemann. Die Abwehr der anderen Mannschaft gerät dadurch in Unterzahl, die Viren-Mannschaft schießt ein Tor nach dem anderen, die Zahl ihrer Spieler wächst und wächst.

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Die Regeln dieses Fußballspiels sind nicht so leicht zu verstehen. Denn es geht hier nicht nur darum, dass der Gewinner diejenige Mannschaft ist, die nach 90 Minuten mindestens ein Tor mehr als die andere geschossen hat. Es liegt eine Regelerweiterung vor: Wer ein Tor schießt, bekommt mehr Spieler. Wenn die Abwehr funktioniert, bekommt ein Spieler des Gegners Platzverweis.

"Die Tore stehen für jeden Menschen, den das Coronavirus neu befallen hat. Jeden, der eine Infektionskette in Gang gesetzt und damit unbeabsichtigt neue Viren-Spieler auf den Platz geschickt hat. (…) Wird ein Angriff abgewehrt, muss ein Viren-Spieler vom Platz, seine Mannschaft schrumpft."

Mit Fußball hat dies nicht viel zu tun. Es geht nicht um Tore, sondern um Mannschaftsstärken, ist das dann nicht eher Krieg?

Der Spielstand zur Halbzeit in Deutschland: mehr als 33.000 gemeldete Neuinfektionen an nur an einem Tag.

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Die Physikerin Viola Priesemann, von der das Nachrichtenmagazin das Fußball-Gleichnis übernimmt, arbeitet beim Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Die Spezialistin für Ausbreitungsprozesse denkt, ebenso wenig wie die anderen 19 Wissenschaftler, die mit ihr einen Aufruf verfasst haben, an die Bundesliga, sondern, wenn schon Fußball, dann an die Champions League. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa soll sich synchron zusammentun, um das Virus nachhaltig zu besiegen.

Das ist das Ziel ihres "Aufrufs zu europaweitem Engagement für eine schnelle und nachhaltige Reduzierung der Sars-CoV-2-Infektionen", der gestern im medizinischen Fachmagazin The Lancet erschien (englisch, deutsch) und am heutigen Samstag von vielen Medienberichten aufgenommen wird.

Sie wollen die Abwehr stärken, um noch ein letztes Mal den Fußballvergleich zu bemühen. Es geht nicht um Toreschießen, sondern darum die Fallzahlen herunterbringen. Als Ziel wird ausgerufen:

Anzustreben sind maximal zehn neue Covid-19-Fälle pro Million Menschen pro Tag. Dieses Ziel wurde in vielen Ländern erreicht und kann in ganz Europa spätestens im Frühjahr wieder erreicht werden.

Paper: Europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der Covid-19-Fallzahlen

Geht es nach dem genannten Bericht des Hamburger Nachrichtenmagazins, so sind mit den vielen anderen Ländern beispielsweise China, Australien, Neuseeland und Taiwan gemeint. Kernelement Nummer 1 der europäischen Strategie zielt auf ein hartes Vorgehen:

Um die Fallzahlen schnell zu reduzieren, braucht es entschlossenes Handeln. Tiefgreifende Interventionen haben sich als effizient erwiesen. Sie stellen das rasche Erreichen niedriger Fallzahlen bei kurzdauernder Belastung von Psyche und Volkswirtschaft sicher.

Paper: Europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der COVID-19-Fallzahlen

Die tiefgreifenden Interventionen sollen europaweit praktiziert werden:

Um einen Ping-Pong-Effekt von importierten und re-importierten COVID-Infektionen zu vermeiden, sollten die Bemühungen um niedrige Fallzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert sein und so schnell wie möglich beginnen. Die Koordination der Maßnahmen erlaubt, dass die europäischen Grenzen offenbleiben können. Paper: Europäische Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der Covid-19-Fallzahlen

Zum Kernelement Nummer 1 der Strategie, kommen noch zwei weitere: "Fallzahlen niedrig halten" und "Eine gemeinsame, langfristige Vision entwickeln". Als konkrete Zahl wird darin genannt: "mindestens 300 Tests pro Million EinwohnerInnen pro Tag".

Der Ansatz, der von mehreren Hundert Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, darunter auch von Drosten und dem RKI-Chef Wieler, wird als Gegenstück zu Ansätzen propagiert, die auf Herdenimmunität zielen oder mit der Maxime "Mit dem Virus leben" gekennzeichnet werden.

"Wir haben wirklich nach möglichen Vorteilen von hohen Infektionszahlen gesucht", versichert Priesemann während einer Pressekonferenz des Science Media Center am Freitag. "Aber wir haben keinen einzigen gefunden." Es sei ein Irrglaube, hohe Infektionszahlen erlaubten mehr Freiheiten. Das Gegenteil sei der Fall.

Der Spiegel

Weniger Infektionen retten Leben, heißt es im Aufruf und: niedrige Fallzahlen sichern Arbeitsplätze; bei niedrigen Fallzahlen kann die Ausbreitung effektiver kontrolliert werden, bei hohen Fallzahlen sind dagegen weder Kontaktnachverfolgung noch Quarantäne durchführbar; niedrige Fallzahlen erlauben Planbarkeit.