Rasender Verkehrsstillstand

Seite 2: Große Schritte im Bergmannkiez

Um Flächengerechtigkeit herzustellen, bieten sich verschiedene Modelle an. In Begegnungszonen werden alle Verkehrsteilnehmer auf eine Ebene gebracht und mischen sich weitgehend frei von Reglementierungen. Sind die innerstädtischen Straßen breit genug, kann aber auch die Flächenkonkurrenz zugunsten von Fahrradspuren verschoben werden, indem nur eine Autospur im Einbahnverkehr übrig bleibt. Der Parkraum am Bordstein wird auf eine Straßenseite und damit auf das fürs Be- und Entladen notwendige Maß beschränkt. Ein drei Meter breiter Fahrradweg in beide Richtungen verläuft entlang der gegenüberliegenden Bordsteinkante.

Diese Lösung ist seit kurzem in der lebendigen, hippen Bergmannstraße in Kreuzberg, dem schlagzeilenträchtigen Berliner Ortsteil zu besichtigen. Die noch im Test befindliche Verkehrsberuhigung ist ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Fußgängerzone. Das Vorgehen in mehreren Etappen ist experimentell. Fehler können revidiert und die Anwohner eingewöhnt werden. "Parklets" haben sich nicht bewährt. Das sind Aufenthaltsmodule, die sich vom Gehweg auf die Fahrbahn erstrecken. Sie wurden nach Bürgerprotesten abgebaut.

Bergmannstraße. Bild: Bernhard Wiens

Das Zeitalter der "Laternen-Garagen" ist für die Bergmannstraße vorbei. "Unter dem Pflaster liegt der Strand." Was die Sponti-Szene der 70er Jahre sich auf die Fahnen geschrieben hatte, kann heute für die Bergmannstraße abgewandelt werden: Unter dem Asphalt liegt die fahrrad- und fußgängerfreundliche Stadt.

Parken gehört im Unterschied zur Schweiz in Deutschland traditionell zum "Gemeingebrauch" der Straße. Es ist ein Sakrileg, diesen Raum anzutasten. Zwar gibt es Fußgängerzonen in Deutschland schon seit den Siebziger Jahren. Doch sind sie in Großstädten mit größeren Verkaufseinheiten wie Kaufhäusern gekoppelt, die das Warenangebot bündeln und die Kaufkraft auf sich ziehen, sodass in der Umgebung der Einzelhandel abstirbt.

Da es mittlerweile auch den Kaufhäusern samt ihren öden Fußgängerzonen an den Kragen geht, ist es um so dringlicher, die Erdgeschosszonen wiederzubeleben, Wohnen und Einkaufen einander näher zu bringen und ein detaillierteres, per Fuß und Rad zu erreichendes Dienstleistungsangebot zu unterbreiten.

Dafür steht die Bergmannstraße. Die Umwandlung des Parkraums am Fahrbahnrand in großzügige Fahrradstreifen und mehr Grün scheint in Kreuzberg Erfolg zu versprechen. Die Einbahnstraßen-Regelung ermöglicht die Verengung des für den motorisierten Verkehr bereitgestellten Straßenquerschnitts. Die verbleibenden Automobile sind optisch und olfaktorisch vom übrigen Geschehen abgerückt. Die Passanten und Flanierenden stoßen nicht an eine Blechwand, die den Bürgersteig abriegelt .

Im weiteren Verlauf sollten jedoch einige Folgeprobleme der Beruhigung in der Bergmannstraße angegangen werden. Fußgänger:innen unterschätzen das Risiko der Kollision mit Rad- und E-Scooterfahrer:innen. Die Radwege sind geschützt durch Sicherheitstrennstreifen und Grünelemente, die im Augenblick noch aus metallenen Pflanzkübeln bestehen.

Wer hier wen schützt, bleibt offen. Die Bezirksbürgermeisterin sah sich aus gutem Grund veranlasst darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um Radschnellwege handelt. Das widerspräche dem Charakter der Straße mit Geschäften und Gastronomie. Für Fahrräder wurde wie für Kraftfahrzeuge Tempo 10 eingeführt. Ein weiteres Manko ist die Blockade des Lieferverkehrs durch Falschparker.

Für die letzte Ausbaustufe der Bergmannstraße ist an eine klimaresiliente Gestaltung gedacht. Die Begrünung der Straße soll mit "blauen" Elementen wie Wasserspielen und Trinkbrunnen "strategisch" durchsetzt werden. Das Regenwasser würde nicht mehr oder nur teilweise in die Kanalisation abgeleitet. Es würde gefiltert mit positiven Folgen für das Stadt- oder zumindest Mikroklima. Ein Teil der Fußgängerzone könnte mit einem versickerungsfähigen Belag ausgestattet werden.

Für diesen ökologischen Wasserhaushalt wären auch Rigolen verwendbar. Das sind kleine unterirdische Wasserspeicher, die Regenwasser aufnehmen und dosiert versickern lasssen. Diese Ideen folgen dem Konzept einer "Blau-grünen Infrastruktur". Nach diesem Zukunftskonzept wird in der Bergmannstraße für Kfz nur noch Liefern ohne ausgewiesene Parkflächen gestattet sein. Der Parkdruck kippt ins Gegenteil um, in die Notwendigkeit, auf andere Verkehrsmittel wie den ÖPNV auszuweichen.

Parkplätze zu beseitigen, stößt auf Widerstand. Der künftige Zustand eines Umbaus ist für die Anwohner nicht sichtbar. Sichtbar ist nur die Baustelle, die erste Maßnahme der Straßenumwandlung. Am beständigsten ist der Widerstand der kleinen Einzelhändler, prototypisch in der Bergmannstraße. Die Händler befürchten Umsatzausfälle, wenn durch Wegfall der Parkplätze vor ihrem Geschäft die Kunden nicht mehr mit dem Auto vorfahren können.

Aber genau dies ist das Dilemma. Die Verstopfung der Städte durch ruhenden Verkehr hat sich auch schon vor Umbaumaßnahmen als Umsatzbremse herausgestellt. Die Zirkulation durch an- und abfahrende Kunden ist zu gering. Die Erfahrung zeigt, dass in florierenden Geschäftsstraßen eine Neugestaltung mittelfristig mehr fürs Geschäft bringt als das Festhalten an überkommenen Parkplätzen.

In der Bevölkerung steigt allmählich die Akzeptanz. Nach einer aktuellen Erhebung des ADAC befürworten 42 Prozent der Befragten eine Umverteilung der Verkehrsflächen zugunsten von Radfahrer:innen und Fußgänger:innen, und nur 19 Prozent sprechen sich dagegen aus.

Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung und Fußgängerzonen als solche ziehen neue Defizite nach sich, die der Aufklärung unter Bürgerbeteiligung bedürfen, zum Beispiel:

  • Die Verkehrsprobleme werden in die angrenzenden Straßen verlagert. Das ist in der Bergmannstraße der Fall, weswegen für die umliegenden Straßen abgestuft und angemessen Programme entwickelt werden, die den "Bergmannkiez" insgesamt ins Visier nehmen.
  • Alternative Transportmittel:
    • Fahrräder haben nur geringe Transportkapazität.
    • Onlineshopping, das den Nutzer vom öffentlichen Raum fernhält, steuert keine städtebaulichen Lösungen bei.
    • Carsharing verschafft nur dann der Überfüllung des öffentlichen Parkraums Abhilfe, wenn es stationsbasiert ist.
  • Die Nutzung von Lastenrädern nimmt stark zu. Das Abstellproblem, ob am häuslichen Ausgangsort oder am Ankunftsort, wiederholt sich hier im Kleinen. Schon kommen Beschwerden über massenhafte Fahrradbügel oder hässliche Abstellanlagen auf. Hier sollten Designer heran.

Wenn sich die Prozesse der Bürgerbeteiligung über Jahre hinziehen wie in der Bergmannstraße, besteht die Gefahr, dass sich die beteiligten Milieus in ihre Erwartungshaltungen einkapseln. Aus dem Dialog werden Grabenkämpfe. So mühsam die Organisation von Beteiligungsformaten und deren Mediation auch sind, ist das Ende doch ganz einfach: Die stärkste Idee setzt sich durch. So im Bergmannkiez.

Die Entwicklung von E-Automobilen ist schön und gut, ändert jedoch nichts daran, dass die Ahnenreihe dieses Gefährts ins Kutschenzeitalter zurückführt. Was nottut, ist eine Neu-Organisation der städtischen Verkehrs-Infrastruktur. Von daher ist Stadt weiterzudenken.