Rassismus als Krankheit

Ein Kommentar

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die üblichen Taskshow-Gladiatoren hatten schnell eine Erklärung für das Massaker in Hanau: Der Täter sei psychisch krank gewesen. der von ihm selbst auf Youtube vorgetragene Rassismus lediglich Aufhänger seiner geistigen Zerrüttung. Schließlich tötete er am Ende seine eigene Mutter. Rassisten ermordeten nicht ihre eigene Mutter, ihr eigen Fleisch und Blut.

Differenziert ausformuliert hat diesen Standpunkt die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh in der Taz vom 20. Februar:

Es gebe beim Täter deutliche Hinweise auf eine schwere psychotische Erkrankung, wahrscheinlich eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie mit sehr bizarren Wahninhalten und akustischen Halluzinationen, auch eine sehr deutliche narzisstische Überhöhung der eigenen Person - das allerdings als Gewalttat im öffentlichen Raum von allen wahrgenommen.

Der Mann aus Hanau habe wahnhafte Vorstellungen und Muster einer schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit einem rechsextremistischen Narrativ verknüpft und daraus ein Sendungsbewusstsein abgeleitet. Terroristen seien im Regelfall nicht psychisch krank. Sonst könnten sie - so Nahlah Saimeh - die manchmal durchaus komplexen Anschläge auch gar nicht verüben.

Selbst die Ermordung seiner eigenen Mutter spreche für eine Psychose: Das könnte ein erweiterter Suizid sein, nach dem Motto: Die Welt ist schlecht und ich kann meine Mutter nicht alleine zurücklassen. Auch das wäre ein psychotisches Motiv. Soweit die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh.

Aufgabe der forensischen Psychiatrie ist die Begutachtung der Schuldfähigkeit eines Angeklagten. Hätte der 10-fache Mörder seine Tat überlebt, würde ihm wegen seiner Erkrankung an paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie mit sehr bizarren Wahninhalten und akustischen Halluzinationen vor Gericht die Schuldunfähigkeit attestiert.

Wir kennen das Bekennervideo nicht, wollen es auch nicht kennen lernen. Das wollte er ja, dass wir es kennen wollen. Der Generalbundesanwalt Peter Frank spricht von eindeutig rassistischen Inhalten darin.

Was also, wenn der Täter die Verfolgung durch Geheimdienste und das Ertönen innerer Stimmen weggelassen hätte und nur seinen Hass auf Araber, Juden und - wie man hört - auf die halbe Menschheit zum Ausdruck gebracht hätte?

Magda Goebbels ermordete im Führerbunker alle ihre sechs Kinder. Ist das Beweis für eine schwere psychotische Erkrankung?

Die Psyche ist - allgemein gesprochen - die Gedankenwelt, in der wir leben. Psychische Erkrankungen sind so etwas wie Gedanken-Krankheiten. Krankheiten deshalb, weil die Betroffenen unter ihrer Gedankenwelt leiden oder ihrer Umgebung Schaden zufügen. Der psychisch Kranke hat die Souveränität über seinen Verstand und seinen Willen verloren, so wie der Blinde nicht mehr sehen und der Lahme nicht mehr gehen kann.

Krankheit in diesem Zusammenhang ist also eher eine Metapher - eine Übertragung aus der Welt der Humanmedizin. Der Begriff psychische Krankheit hat seinen Platz in Therapien und Gutachten und da soll er auch bleiben.

Denn auch außerhalb davon gibt es Gedankenwelten, destruktiv und mörderisch, die sich in Begriffsschemata unserer Sprache ausdrücken. Mehr noch - die Begriffe sind Teil unserer Gedanken selbst, wenn wir Begriffe für wahr halten.

Einen kometenhaften Aufstieg in den letzten Jahren hat der mörderische und in der Tat mordende Begriff Abstammung erlebt. Auch wieder eine Metapher: der Baumstamm unseres Volkes an dem die Äste und Zweige unserer Familie wachsen, an denen wiederum wir selbst als Blätter gedeihen.

Jeder von uns hat demnach eine Abstammung - tief verwurzelt in der Geschichte bis zum Anbeginn der Zeit.

Der Begriff der Abstammung lebt überall. Hier ein Text des Südwestdeutschen Rundfunks vom 18. Februar - ein Tag vor Hanau:

Der verurteilte Sexualstraftäter Ali B., der vor acht Jahren eine 16-Jährige in Worms vergewaltigt hat, ist in die Türkei abgeschoben worden.

Das hat die Stadt Worms bekannt gegeben. Mit der Abschiebung ist für die Ausländerbehörde der Stadt Worms eine mehr als ein Jahr andauernde juristische Auseinandersetzung beendet worden.

2012 war der damals 21-Jährige wegen der gemeinschaftlichen Vergewaltigung eines 16-jährigen Mädchens in einer Tiefgarage zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Nach seiner Haftstrafe sollte er abgeschoben werden. Doch die Abschiebung war gescheitert. Unter anderem weil die Türkei ihn nicht aufnehmen wollte.

Speicheltest weist türkische Abstammung nach

Die Behörden dort hatten bestritten, dass Ali B. Türke ist. Ein richterlich angeordneter Speicheltest ergab allerdings zweifelsfrei, dass er türkischer Abstammung ist.

Jetzt sei die Abschiebung endlich erfolgt, sagt der Wormser Bürgermeister Hans-Joachim Kosubek (CDU). Er lobt die Ausländerbehörde der Stadt. Diese habe nicht klein beigegeben und einen "Riesenaufwand" betrieben, um den Rechtsstaat durchzusetzen.

SWR

Abstammung in einer praktischen Anwendung - die DNA-Probe hat den Ausschlag gegeben für die Abschiebung eines Menschen mit türkischem Spucke in die Türkei. Wurzel - Stamm - Ast - Zweig - Blatt

Hoffentlich gibt es keinen Paragraphen im deutschen Ausländerrecht, der Staatsangehörigkeit per DNA-Speichelprobe nachweisbar macht. Der Fall war vermutlich um einiges verschlungener als hier dargestellt.

Aber:

Der Begriff Abstammung wurde um ein weiteres typisches Beispiel, um ein Paradigma, ergänzt, in den Zeilen eines öffentlich-rechtlichen Internetauftritts. Dann muss er ja so wahr sein.

Und jetzt googelt alle einmal den Begriff Abstammung - am besten unter News/Nachrichten. Und da sind sie die Opfer von Hanau türkischer, kurdischer, bosnischer oder allgemein ausländischer Abstammung.

Und das ist die schwerwiegendste Gedanken-Krankheit des Massenmörders: Er glaubt an die materielle Existenz der Wurzeln, Stämme und Zweige der Völker, wobei manche Bäume laufen - besser migrieren - können, sich in fremden Wäldern ansiedeln und die heimischen Bäume zugrunde richten, sie austauschen.

Auch als Podcast in bermuda.cast.