Rassistische Fahndungsraster
Seite 2: Szenen aus deutschen Gerichten
- Rassistische Fahndungsraster
- Szenen aus deutschen Gerichten
- Racial Profiling
- Auf einer Seite lesen
Zwei Jahre später, am Montag, den 29. Oktober 2012, wird der Fall vor dem Oberverwaltungsgericht Koblenz verhandelt. Es geht um die Frage, ob die Kontrolle des Studenten durch die Bundespolizisten sowie die Kontrolle seines Rucksacks rechtmäßig waren. Viele Leute sind anwesend: Vertreterinnen von NGOs, Presse, Regierungsstellen und auch die Bundespolizei ist zu viert am Start. Alle sind gespannt, wie die Vorsitzende Richterin Wünsch und ihre Beisitzer den Fall beurteilen werden.
Doch was wäre ein gutes Drehbuch ohne eine weitere Erinnerungsschleife?
Inzwischen ist viel passiert: Vier Monate nach dem Zwischenfall im Zug erhält der Student einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe über 375 Euro. Die beiden Beamten hatten ihn wegen Beleidigung angezeigt. Auf seinen Einspruch hin verurteilt das Amtsgericht Kassel den Studenten am 12. Juli 2011 nach zwei Verhandlungstagen, an denen die Polizisten und einige Reisende, auch die Frau auf dem Bahnsteig, als Zeugen vernommen werden, wegen Beleidigung und verwarnt ihn ohne weitere Zahlungsverpflichtung. Der Student gibt nicht auf. Sein Anwalt legt beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Revision ein. Dieses hebt am 20. März 2012 das vorinstanzliche Urteil auf und spricht den Studenten von Vorwurf der Beleidigung frei. Bei der Anspielung auf "SS-Methoden" habe es sich zwar um eine Beleidigung gehandelt, diese hätte vor dem Hintergrund der vom Angeklagten als Diskriminierung empfundenen Behandlung durch die Beamten jedoch unter dem Schutz der Meinungsfreiheit gestanden und sei somit straffrei gewesen.
Einige Erkenntnisse brachte dieses Strafverfahren zu Tage: Zum Beispiel, dass der Angeklagte deutscher Staatsangehöriger ist. Sehr aufschlussreich war allerdings auch die Befragung der beiden Bundespolizisten. Einer von ihnen hatte in der Zeugenbefragung am 30. Juni 2011 nämlich als Grund für die Kontrolle des Studenten folgendes erklärt (Protokoll der Verhandlung):
Ich halte mich an ein bestimmtes Schema. Wo ich die Vermutung habe, dass ein Reisender nicht aus dem Schengen-Land kommt, dass er sich illegal aufhält, da führe ich eine Kontrolle durch. Ich frage, wo der Reisende hinfahren will und evtl. frage ich nach einem Ausweis. Ich spreche Leute, die mir als Ausländer erscheinen, an. Es richtet sich auch nach der Hautfarbe, aber auch danach, ob der Reisende Gepäck dabei hat oder ob er alleine irgendwo im Zug steht. Es ist bekannt, dass die Regionalzüge nicht so oft kontrolliert werden. Dort bietet sich die Möglichkeit, leicht unterzutauchen. Der Angeklagte ist in das Raster gefallen, weil er anderer Hautfarbe ist.
Solch deutliche Eingeständnisse hört man selten von Polizeibeamten. Das war dem Verteidiger des Studenten, Rechtsanwalt Sven Adam, sofort klar. Von den Kollegen weiß er, dass sich die Beamten über die Motive ihrer Kontrollen nicht selten ausschweigen oder die Maßnahmen sogar bestreiten; insbesondere dann, wenn – wie hier – Deutsche kontrolliert wurden, die von den Beamten für Ausländer gehalten werden. Deswegen legt Rechtsanwalt Adam Klage beim Verwaltungsgericht ein. Es solle nachträglich festgestellt werden, "dass die von Beamten […] durchgeführte Personalienfeststellung und die Durchsuchung seines Rucksacks am 3. Dezember 2010 rechtswidrig gewesen sind".
Das Verwaltungsgericht in Kassel erklärt sich daraufhin für unzuständig. Zwar hätten hier Beamte von der Bundespolizeiinspektion in Kassel gehandelt, verantwortlich für die Maßnahmen sei aber die Bundespolizeidirektion in Koblenz gewesen. Also verweist es die Klage an das Verwaltungsgericht Koblenz. Dieses lehnt zunächst den Antrag des Studenten auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ab, weil die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe. Nach vorläufiger Prüfung seien die Maßnahmen der Bundespolizisten beanstandungsfrei verlaufen.
In Abwesenheit des Klägers, der sich die Anreise nach Koblenz ohne Prozesskostenhilfe nicht leisten kann, triff das Verwaltungsgericht am 28. Februar 2012 einen bundesweit für Aufsehen erregendes, nach dem Verhandlungsverlauf aber wenig überraschendes Urteil. Die Klage des Studenten wird abgewiesen. Nach Ansicht der Koblenzer Verwaltungsrichter habe die Bundespolizei in den oben beschriebenen Szenen keinen Fehler begangen. Sie halten die Maßnahmen durch die Befugnisse der Bundespolizei nach § 22 Abs. 1a BPolG für gerechtfertigt. Bereits in der Begründung des o.g. Beschlusses über die Ablehnung der Prozesskostenhilfe heißt es dazu:
Damit ist gemäß § 22 Abs. 1a BPolG grundsätzlich die Befragung jeder sich in dem entsprechenden Zug befindlichen Person – verdachtsunabhängig – zulässig. Aus nachvollziehbaren Gründen der Kapazität und der Effizienz bundespolizeilichen Handeins muss sich die Bundespolizei insoweit jedoch auf Stichprobenkontrollen beschränken. Soweit der den Kläger befragende Beamte der Bundespolizei zu den Kriterien einer solchen Stichprobenüberprüfung […] ausführte, er treffe die Auswahl der anzusprechenden Personen insbesondere nach deren äußeren Erscheinungsbild, so begegnet dies keinen rechtlichen Bedenken, auch wenn der Kläger aufgrund seiner Hautfarbe in dieses Raster gefallen war. Denn wenn einerseits grundsätzlich jede Person einer Kontrolle unterworfen werden kann, andererseits aus personellen Gründen eine Auswahl zu erfolgen hat und die Kontrolle auch nur zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise erfolgen kann, so müssen sich die Beamten der Bundespolizei bei der Auswahl der zu kontrollierenden Personen denknotwendig an deren äußerem Erscheinungsbild orientieren. Hierbei dürfte die Kleidung der Zuggäste, deren Hautfarbe oder aber die verwendete Sprache zwangsläufig eine Rolle spielen.
"Von der ursprünglichen Kontrolle aufgrund der Terrorwarnung mit islamistischen Hintergrund, die auch der Staatsanwalt im Strafverfahren noch hervorgehoben hatte, war nun nicht mehr die Rede", kommentiert Rechtsanwalt Adam auflachend: "Eine solche Maßnahme hätte auf eine andere Norm, nämlich § 23 Abs. 1 Nr. 4 BPolG, gestützt werden müssen. Die setzt aber voraus, dass von meinem Mandanten irgendeine Gefahr hätte ausgehen müssen – also, so mit dem Teebecher in der Hand…"
…ist das kaum anzunehmen. Der Student aus Kassel, deutscher Staatsangehöriger und unterwegs zu seinen Eltern in Frankfurt am Main, wurde daher wegen des Verdachts der illegalen Einreise kontrolliert, weil ihn die Beamten für einen Ausländer, wohlmöglich sogar mit islamistischem Hintergrund hielten.
Im falschen Film
Bei der Berufungsverhandlung vor dem OVG Koblenz am 29.10.2012 lässt die Vorsitzende Richterin Dagmar Wünsch dann auch schon zu Beginn keinen Zweifel daran, dass für eine Befragung und die Aufforderung, Ausweispapiere vorzulegen, der Anknüpfungspunkt der Hautfarbe nicht zulässig sei:
"Die Maßnahmen verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz, so dass sie ermessensfehlerhaft waren." Gegen welches der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgezählten persönliche Merkmale die Beamten mit ihrer Kontrolle verstoßen haben sollen (z.B. Abstammung, "Rasse", Sprache, Heimat oder Herkunft), benennt Richterin Wünsch nicht. Ihr Kollege Dr. Stahnecker stellt jedoch klar, dass es sich hier nicht nur um einen Einzelfall handle: "Das Urteil habe eine bestimmte, direktive Wirkung für zukünftige Fälle."
"Die Situation im Gerichtssaal war sehr untypisch", beschreibt Rechtsanwalt Adam die Stimmung: "Angesichts der großen Zivilöffentlichkeit stand die Polizei unter einem erheblichen Rechtfertigungsdruck." Die Richterinnen und Richter ließen sich davon natürlich nicht beeindrucken. Von 13:30 bis 19 Uhr befragten sie, mit mehreren Unterbrechungen, den Kläger und die Polizeizeugen erneut nach ihren Erlebnissen und Motivationen. Dabei schien sich ein Polizeizeuge an seine früheren Aussagen nicht mehr so genau zu erinnern und erklärte nunmehr, er habe den Studenten kontrolliert, weil er befürchtete, dieser würde ohne Fahrkarte reisen. Eine sachkundige Erinnerung, die das Publikum mit Gelächter quittierte.
Am Ende des Tages entschuldigen sich die Polizeivertreter beim Kläger und geben zu Protokoll, dass die Maßnahme rechtswidrig gewesen sei und die Bundespolizei die Kosten des Verfahrens übernehme. Damit erklärten die Parteien den Rechtsstreit für erledigt. Die Story ist zu Ende.