Ratzingers Angst vor der Kirche der Armen

Ein Beitrag zum 26. Jahrestag der Ermordung des salvadorianischen Erzbischofs Oscar Romero

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Schon als oberster Glaubenswächter der römischen Kirche hat Joseph Ratzinger die Befreiungstheologie gemaßregelt und dabei sogar nach Ansicht des ehemaligen Kardinalstaatssekretärs Agostino Casaroli 1984 einen zu harten Ton angeschlagen. Unter seinem Pontifikat lässt Rom noch immer nicht ab von Attacken gegen die Kirche der Armen und ihre Theologen. Bislang zeigt der Papst aus Bayern keinerlei Anstalten, die Soziallehre seiner Vorgänger angesichts des Siegeszuges des „Neoliberalismus“ für die Gegenwart fortzuschreiben. Seine vordringlichste Sorge gilt einem Bekenntnis zum „ewigen Gottessohn“, der über den Dingen dieser Welt steht und nur ein kurzes Gastspiel auf dieser Erde absolviert hat: vor mehr als 2000 Jahren.

Die römische Kritik an der Befreiungstheologie gibt sich entsprechend ganz unpolitisch. Sie beruft sich aktuell vor allem auf das „objektive“ Dogma, das die Staatskirche ab dem vierten Jahrhundert in philosophischer Begrifflichkeit festgeschrieben hat. Darin wird von Jesus in einer Weise gesprochen, die selbst den meisten einfachen Seelsorgern unverständlich bleibt. Die Denkbewegung geht „von oben nach unten“: Die zweite „Hypostase“ des dreifaltigen Gottes ist innerstes Zentrum und Grund für die Einheit des menschgewordenen Gottessohnes. Innerhalb der so genannten „hypostatischen Union“ werden eine göttliche Natur und eine menschliche Natur unterschieden, die jedoch beide weder vermischt noch getrennt sind.

Hungernden die christologische Zweitnaturenlehre verkünden?

Die katholischen Befreiungstheologen lehnen diese komplizierten und abstrakten Formeln nicht einmal ab. Sie meinen aber, man dürfe das menschliche und das göttliche Wesen nicht über Machtkategorien der griechischen Philosophie verstehen. Von philosophischer Metaphysik haben Jesus und seine Jünger in Galiläa ja gar nicht gesprochen. In der Bibel steht auch nirgends, dass die Menschen am Ende aller Zeiten gefragt würden, ob sie den Römischen Katechismus und die unterkühlten Dogmen der – zum Teil staatlich beaufsichtigten – frühen Konzilien richtig aufgesagt haben. Die Jesusüberlieferung kennt vielmehr ein allgemein verständliches Kriterium, an dem sich die Wahrheit der Menschen und Völker ablesen lässt: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war ein Fremdling und ihr habt mich aufgenommen. Ich war im Gefängnis oder krank und ihr seid zu mir gekommen.“ (vgl. Matthäus-Evangelium Kap. 25, 31-46)

Hierzulande meint z.B. auch die katholische Landjugendbewegung, das sei unter dem Vorzeichen einer aggressiven Globalisierung eine hochaktuelle Botschaft. Jahr für Jahr sind etwa 30 Millionen Hungertote auf der Erde zu beklagen. 800 Millionen Menschen sind chronisch unterernährt und haben vermutlich kaum einen klaren Kopf, um etwas über die Spezialitäten der christologischen Zweinaturenlehre zu erfahren.

In einer solchen Welt ist Roms dogmatische Option nicht neutral, sondern eine hochpolitische Parteinahme. Sie dient dem europäischen Machtanspruch innerhalb der Weltkirche und stärkt den rechten Flügel im Katholizismus. Die kapitalismuskritische „Option für die Armen“, die schon Johannes Paul II. als Gemeingut der ganzen Kirche bezeichnet hat, wird im Sinne nordamerikanischer Vorstellungen zu einer unverbindlichen oder rein wohltätigen „Liebe zu den Bedürftigen“ verwässert. Joseph Ratzinger spricht diesbezüglich schon in seiner ersten Enzyklika Deus est Caritas eine andere Sprache als sein Vorgänger.

Aufbruch der Kirche in Lateinamerika

Dass man dem nahen Nachbarn in Not beisteht, halten auch die Befreiungstheologen aus christlicher Sicht für eine Selbstverständlichkeit. Sie meinen aber, in einer Welt des globalen Massenelends und der strukturellen Ungerechtigkeit könne man allein durch milde Gaben kaum ein glaubwürdiges Christentum vorleben.

In der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes hatte das II. Vatikanische Konzil 1965 gesellschaftliche Bewegungen für die Rechte der Menschen in theologischer Hinsicht als hochbedeutsam anerkannt und ausdrücklich festgestellt: „Die vom Hunger heimgesuchten Völker fordern Rechenschaft von den reicheren Völkern.“ Noch deutlicher wurde nach dem Konzil Papst Paul VI. mit seinem Rundschreiben Populorum Progressio über den Fortschritt der Völker (26. März 1967), das der bayrische Politiker Franz-Josef Strauss als „schwarzen Marxismus“ empfand. Diese Enzyklika verweist auf den vorrangigen gemeinsamen Gebrauch aller Reichtümer der Erde durch die Menschen:

„Es ist nicht dein Gut“, sagt Ambrosius, „mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.“ Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht.

Paul VI. verurteilt in diesem Text einen ungehemmten Kapitalismus, nach dem „der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft“ darstelle. Er formuliert als zentralen Grundsatz, „dass die Wirtschaft ausschließlich dem Menschen zu dienen hat“.

Ein Jahr später trafen sich 1968 die lateinamerikanischen Bischöfe zu einer bahnbrechenden Versammlung in Medellín (Kolumbien). Dort bekräftigte die Kirche, die es über Jahrhunderte auf dem Kontinent mit den Mächtigen gehalten hatte, eine bevorzugte – also parteiische – „Option für die Armen“. Der weltweite Jesuitenorden, der auf eine viel ältere Tradition der Parteinahme für die Unterdrückten zurückgreifen konnten, bekannte sich 1974 kompromisslos zum Einsatz für Gerechtigkeit. In den Bischofskonferenzen Brasiliens und anderer lateinamerikanischer Länder sympathisierten in der Folgezeit die meisten Hirten mit der noch jungen „Theologie der Befreiung“. Allein bis 1980 wurden über 800 Priester und Nonnen, die in ihrer Seelsorgepraxis dieser Bewegung folgten, in Lateinamerika ermordet.

Romero: Die Umkehr eines traditionalistischen Bischofs

Zu den Kritikern der Theologie der Befreiung gehörte in El Salvador ein Priester mit Namen Oscar Arnulfo Romero (1917-1980). Dieser schöngeistige und konservative Seelsorger hatte in Rom noch unter Pius XII. die orthodoxe Dogmatik studiert. Er empfand die enge kirchliche Liaison mit der Oligarchie, die aus 14 Familienclans bestand und das Land seit Jahrzehnten wie einen Privatbesitz regierte, nicht als Skandal. Zeitweilig stand er unter dem Einfluss des rechten „Opus Dei“.

Als Bischof der Diözese Santiago de María lernte Romero ab 1974 immerhin das Elend der Bevölkerung noch näher kennen. Die klassische „Armenfürsorge“ lag ihm sehr am Herzen. Der Vatikan ernannte den frommen Traditionalisten 1977 zum Erzbischof von San Salvador. In seiner Funktion als Vorsitzender der Bischofskonferenz von El Salvador sah Romero die brutale Politik des Regimes sehr bald in einem neuen Licht. Im März 1977 wurde der ihm befreundete Jesuitenpater und Befreiungstheologe Rutilio Grande zusammen mit einem Messdiener und einem 65jährigen Katecheten von Paramilitärs im Auftrag der Großgrundbesitzer ermordet. Romero war erschüttert, lud das gesamte Bistum zur Trauerfeier in die Kathedrale ein und kündigte die Zusammenarbeit mit der Regierung auf:

Die Not einer Kirche, die verfolgt wird bis hin zur Ermordung eines Priesters hat mich dazu gezwungen, meine Seelsorge stärker auf die Verteidigung der Kirche und der Menschenrechte zu orientieren.

Die salvadorianische Militärjunta jener Jahre huldigte der in Lateinamerika vorherrschenden „Doktrin der Nationalen Sicherheit“. Weihbischof Gregor Rosa Chavez beschreibt den Kern dieser Ideologie so: „Jeder, der Veränderungen will, ist Kommunist und muss eliminiert werden.“ Als fester Bestandteil des Staatsapparates fungierten in El Salvador die „Todesschwadronen“ zur Ermordung von Regimegegnern. Romero besuchte die Gemeinden und Christen, die zur Zielscheibe dieses Staatsterrors wurden, und ließ im Menschenrechtsbüro seines Bistums alle Vorfälle akribisch dokumentieren: „Es ist meine Aufgabe, Gewalttätigkeiten festzuhalten und Leichen aufzusammeln.“ In den Auftragslisten der Todesschwadronen war die Prämie für die Tötung eines Priesters höher angesetzt als die für den Mord an einem Campesino oder linken Intellektuellen. Auf Flugblättern stand die Parole: „Sei ein Patriot! Töte einen Priester!“

„Auch der Folterer ist ein Mörder“

Nach einem der zahlreichen Morde predigte Romero: „Fern sei uns Rache, lasst uns beten mit Jesus: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Die Lehre der katholischen Kirche berücksichtigt Konzepte des gewaltfreien zivilen Widerstandes bislang leider nur am Rande, schließt andererseits unter lang andauernden Verhältnissen der Tyrannei auch Gewalt als letzte Widerstandsform nicht prinzipiell aus. Erzbischof Romero betonte: „Die Kirche predigt nicht Gewalt, noch Hass!“ Allerdings wollte er hinsichtlich des Befreiungskampfes in El Salvador nicht Ursache und Wirkung miteinander verwechseln. Frieden sei ohne Gerechtigkeit nicht möglich:

Die Ursache [unserer Probleme im Land] liegt in der sozialen Ungerechtigkeit und im Festhalten an Privilegien, die vom Volk nicht mehr akzeptiert werden. Das ganze System muss sich ändern, denn es kann nur noch mit der Herrschaft des Geldes und der Macht eines gekauften Militärs aufrechterhalten werden.

Politisch Verantwortliche nannte Romero – den unverbindlichen Stil kirchlicher Protestnoten verlassend – beim Namen. An die Auftragsmörder und Handlanger der Militärjunta richtete er folgende Predigtworte:

Ein Mörder ist auch der, der foltert ... Niemand darf Hand anlegen an einen anderen Menschen, denn der Mensch ist Ebenbild Gottes.

Einen Tag vor seiner eigenen Ermordung am 24. März 1980 hielt Romero eine Predigt, wie sie seit Bestehen der Staatskirchlichkeit wohl nur selten von einem Bischof gehalten worden ist. Er forderte darin die Soldaten öffentlich zur Befehlsverweigerung auf:

Im Namen Gottes und im Namen dieses gepeinigten Volkes bitte ich Euch, befehle ich Euch: Hört auf mit der Unterdrückung!

Roms Antwort an den Erzbischof von San Salvador: „Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“

Im Vatikan residierte seit dem 16. Oktober 1978 Karol Wojtyla, der aufgrund der leidvollen Erfahrungen der Kirche in Polen von Marxisten pauschal nichts Gutes erhoffte. In Sachen „Romero“ schrieb der in Polen geborene US-Sicherheitsberater Zbigniew Kazimierz Brzezi?ski an den Heiligen Stuhl:

Wir haben den Erzbischof und seine Berater mit Nachdruck vor einer Unterstützung der extremen Linken gewarnt. Leider waren unsere Bemühungen, ihn zu überzeugen, nicht erfolgreich.

Im Januar 1979 hatte Romero den Präsidenten von El Salvador wegen dessen Untätigkeit angesichts der fortlaufenden Ermordung von Christen exkommuniziert. Im Frühjahr des Jahres fuhr er nach Rom, um dem Papst seine Sichtweise darzulegen und ihn wegen der anhaltenden Kirchenverfolgung in El Salvador um Unterstützung zu bitten. Im Gepäck hatte er sorgfältig zusammengestellte Dokumente über die Verbrechen der Junta und ein Foto des kurz zuvor ermordeten indigenen Priesters Octavio Ortiz.

Laut Augenzeugenbericht von Monsignore Jesus Delgado kam es auf dem Petersplatz zu folgendem Dialog. Der Papst: „Ah, Monsignore Romero. Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“ Romero: „Eure Heiligkeit, die Kommunisten in Salvador sind nicht dasselbe wie in Polen.“ Der Papst noch einmal: „Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“ Die Romero-Biographin María López Vigil schreibt, der Erzbischof habe für den folgenden Tag zumindest eine private Audienz beim Papst erbetteln können. Johannes Paul II. habe bei diesem Treffen nur über die Fülle der vorgelegten Dokumente geklagt und keines der Papiere auch nur angerührt. Er sei vom Foto des ermordeten Priesters unberührt geblieben und hätte – ohne Fragen an den Erzbischof zu stellen – „Harmonie“ mit der salvadorianischen Regierung eingefordert.

Verbürgt ist die große Enttäuschung Romeros nach seinem Rombesuch: „Ich glaube, ich werde nicht noch einmal nach Rom kommen. Der Papst versteht mich nicht.“ An der Kathedrale von San Salvador hatte es während der Reise gerade wieder ein Massaker gegeben.

Exkurs: Der kirchliche Antikommunismus als Projektion?

Der kirchliche Antikommunismus hat eine lange Geschichte. Wo immer sich katholische Kirchenleitungen im Stillhalten oder gar Wohlwollen1 gegenüber faschistischen Regimes übten, war der Antikommunismus bis in die jüngste Vergangenheit hinein stets die leitende Hintergrundideologie. Das macht die pauschalen Marxismus-Vorwürfe gegenüber der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die ja vornehmlich im Raum von Militärdiktaturen anzutreffen war, besonders suspekt.

Angesichts des Umstandes, dass sich renommierte kath. Sozialethiker wie Oswald von Nell Breuning (1890-1991) positiv auf Karl Marx bezogen haben, verwundert es, wie undifferenziert Joseph Ratzinger noch immer vom „Marxismus“ als einem einheitlichen Gebilde spricht. In seiner Enzyklika „Deus est Caritas“ beschreibt er z.B. eine zynische Variante der Verelendungstheorie, der heute auf dem ganzen Globus höchstens eine Handvoll Sektierer anhängen. Es stellt sich auch die Frage, ob die militanten katholischen Antikommunisten nicht vielleicht auch von Projektionen geleitet werden. Als Weltanschauungen mussten Christentum und Marxismus gleichermaßen ihren Namen hergeben für viele Verbrechen in der Geschichte. Während der Vatikan, verunsichert durch die Moderne, schon 1870 ein unfehlbares Lehramt des Papstes erfand, suchte der Marxismus-Leninismus sein Heil in einer Partei, „die immer Recht hat“. Ein Verständnis für demokratische Ideale ist dem römischen Katholizismus und dem „orthodoxen“ Marxismus-Leninismus gleichermaßen fremd geblieben. Freiheitliches Denken hat es im Bannkreis dieser beiden stets schwer gehabt.

Rom hätte nun bei Bedarf zu Recht verlangen können, dass der befreiungstheologische Kampf für die sozialen Menschenrechte stets mit einem Einsatz für die in der bürgerlichen Revolution errungenen Freiheitsrechte des Einzelnen einhergehen muss. Damit wäre man bei den Befreiungstheologen nicht auf taube Ohren gestoßen, denn diese beklagten lediglich, dass unter dem Vorwand der bürgerlichen Freiheit eine Ökonomie der Verelendung gerechtfertigt wird und dass für Verhungernde abstrakte Freiheitsrechte eine leere Worthülse bleiben. Indessen legte der Vatikan dem Brasilianer Leonardo Boff ein Redeverbot auf, weil dieser zuviel Freiheit einforderte und die zentralistische Machtausübung der römischen Kirchenleitung als mit dem Evangelium nicht vereinbar kritisierte.

Unter Wojtyla und Ratzinger ist „Demokratie“ in der katholischen Kirche wieder ein Fremdwort geworden. Seit Beginn der von diesen beiden beherrschten Ära trauten und trauen sich auch westliche liberale Theologen mit Lehrstuhl immer seltener, das niederzuschreiben, was sie denken, glauben und für wahr erachten. Sogar das Werk von Karl Rahner, des bekanntesten deutschsprachigen Dogmatikers der Neuzeit, geriet unter Häresieverdacht. Ein tiefenpsychologisch verstehender Theologe wie Eugen Drewermann wurde mit einem bischöflichen Inquisitor vor Ort konfrontiert, der seine Werke nicht einmal intellektuell verstehen konnte. Der Verfasser dieses Beitrages hat als Theologiestudent ab 1982 den Klimawandel an katholischen Fakultäten in Bonn, Tübingen und Paderborn schrittweise miterlebt.

Die USA sahen im salvadorianischen Militär eine „Stütze der Menschenrechte“

Der US-Botschafter in El Salvador, Robert White, hatte eine gute Meinung von Erzbischof Romero. Doch die Administration der Vereinigten Staaten hielt es – wie überall in Lateinamerika – mit den Militärs. Am 17. Februar 1980 bat Erzbischof Romero in einem Brief an Jimmy Carter darum, dem Regime keine Unterstützung zu gewähren:

Herr Präsident, in den letzten Tagen habe ich der Presse eine sehr beunruhigende Nachricht entnommen. Demnach erwägt Ihre Regierung, der augenblicklichen Militärjunta Wirtschafts- und Militärhilfe zu geben. ... Ich hoffe, dass Ihre religiösen Gefühle und Ihr Eintreten für die Menschenrechte Sie dazu veranlassen, meine Bitte zu akzeptieren und ein noch größeres Blutvergießen in diesem leidgeprüften Land zu verhindern.

Im Nationalen Sicherheitsrat der USA schrieb Robert Pastor den Entwurf für eine Antwort des Außenministers. Rückblickend hat er in einem Interview Romeros mutigen Einsatz für die Menschenrechte gelobt, gleichzeitig aber die entscheidende Meinungsverschiedenheit auf Seiten der US-Administration betont: „Wir sahen im Militär ein Instrument zur Förderung der Menschenrechte.“ Entsprechend kam es im Laufe der 1980er Jahre zu einem stetigen Anstieg der US-Militärhilfe. Jährlich flossen bis zu einer halben Milliarde US-Dollars in das kleine El Salvador. Nach Kuba und Nicaragua wollte die Supermacht nicht noch eine rote Bastion auf dem eigenen „Vorhof“ haben.

Unter Anleitung der US-Militärberater im Land ersonn man ein besonderes Mordprogramm. Nach Auskunft des US-Veteranen Jeff Cole wurden dafür gezielt die Führer der Befreiungsfront, Intellektuelle aus der Mittelschicht, als Opfer ausgewählt. Nach Romeros Ermordung fehlte die Stimme der Gewaltfreiheit. Der Bürgerkrieg eskalierte. Bis 1992 mussten etwa 75.000 Menschen ihr Leben lassen.

Die Reagan-Administration, mit der Rom in kontinuierlichem Austausch2 stand, nahm 1982 von der Befreiungstheologie über das so genannte „Santa-Fe-Dokument“ Notiz. Als Gegenmaßnahme zur katholischen Kapitalismuskritik wurde darin z.B. die Unterstützung protestantischer Gruppierungen in Lateinamerika vorgeschlagen. 1983 folgte eine Anhörung zur Befreiungstheologie im US-Senatsunterausschuss für „Sicherheit und Terrorismus“. 1987 nannte eine „Conference of American Armies“, auf der auch die USA und El Salvador vertreten waren, in ihrem Bericht die Namen von „kommunistischen“ Priestern und Theologen. Auf der Liste stand auch bereits Pater Ignacio Ellacuría, einer der am 16.11.1989 in San Salvador ermordeten sechs Jesuiten.

Es gibt erdrückende Beweise dafür, dass Major Roberto D'Aubuisson (gest. 1992) als Hintermann der Großgrundbesitzer und Koordinator der „Todesschwadronen“ den Mord an Erzbischof Romero organisiert hat. In US-amerikanischen Militärausbildungsstätten für Lateinamerikaner wie der berüchtigten School of the Americas hatte er seit 1965 wiederholt Kurse absolviert. Seine Schwester Marissa D'Aubuisson, eine Anhängerin Romeros, sagt über ihn: „Er war eine Schlüsselfigur der Nordamerikaner in El Savador.“ Tatsächlich prahlt der Sohn und politische Erbe von D'Aubuisson im Dokumentarfilm „Romero – Tod eines Erzbischofs“ (2003) mit guten Kontakten seines verstorbenen Vaters zu den US-Republikanern und einer eingerahmten Einladung des texanischen Gouverneurs George W. Bush.

In El Salvador wurden auch nach dem Bürgerkriegsende die zuvor durch weitere Morde und Einschüchterung vereitelten Untersuchungen des Falls „Romero“ nicht weiterverfolgt. Offenbar wollte man nicht, dass in diesem Zusammenhang der Name Roberto D'Aubuissons, des Gründers der von 1988 bis heute regierenden ARENA-Partei, öffentlich zur Sprache käme. Romeros unmittelbarer Nachfolger, der Erzbischof Arturo Rivera y Damas, "erklärte vor den Wahlen 1994, ein Katholik könne nicht für die Partei stimmen, die vom Mörder Romeros gegründet wurde und ihn bis heute als Helden verehrt.“3

„San Romero de América“ und die Kirche von oben

Vergeblich hatte der Vatikan Anfang 1979 die Universität Georgetown in Washington gebeten, von einer Verleihung der Ehrendoktorwürde an Romero Abstand zu nehmen. Im März 1980, so berichtet John L. Allen, entschieden sich die drei Kurienkardinäle Silvio Odino, Franjo Seper und Sebastiano Baggio dafür, dem Papst eine Amtsenthebung des Erzbischofs von San Salvador zu empfehlen. Diese Entscheidung kam nicht mehr zur Ausführung, denn wenige Tage später wurde Oscar Romero am Altar erschossen. Er selbst und seine Mitarbeiterschaft lebten schon lange in der Erwartung eines Attentats. An der Trauerfeier nahmen mehrere hunderttausend oder gar eine Million Menschen teil. 40 Teilnehmende wurden allein an diesem Tag von Waffenträgern des Regimes ermordet.

Sehr bald verehrten Christen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt den Bischof als einen Heiligen, der mit Waffen nicht getötet werden kann: „San Romero de América“. An seinem Grab in der unteren Kathedrale versammelt sich bis heute eine „Kirche von unten“, während oben am Altar als übernächster Nachfolger von Romero der von Rom eingesetzte Opus-Dei-Bischof Fernando Saénz Lacalle seine Messe zelebriert.

1988 maßregelte Kardinal Ratzinger den brasilianischen Dichter und Bischof Pedro Casaldáliga auch deshalb, weil dieser Romero öffentlich als „Märtyrer“ bezeichnet hatte. Dass die Amtskirche 1990 selbst ein so genanntes Seligsprechungsverfahren eröffnet hat, wirft viele Frage auf: Will man das Andenken Romeros zähmen und das, was die Befreiungstheologen „politische Heiligkeit“ nennen, unterschlagen? Wird man andere Kriterien anwenden als bei dem 1984 ermordeten polnischen Priester Jerzy Popieluszko, für den seit 1997 ein Seligsprechungsprozess läuft? Warum hat nicht schon Johannes Paul II., dem die Kirche eine wahre Inflation an Kanonisierungen verdankt, der Christenheit offiziell einen „San Romero“ geschenkt? Wird es angesichts des politischen Aufbruchs in Lateinamerika, bei dem sich Identifikationsfiguren wie der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez ausdrücklich auch auf die Befreiungstheologie berufen, überhaupt zu einer Kanonisierung Romeros durch Rom kommen?

Der Zeitraum nach dem Todesdatum wäre auch für eine Heiligsprechung keineswegs zu kurz. Josémaria Escriva de Balaguer, Gründer des im Franco-Faschismus aufgeblühten rechten Netzwerks „Opus Dei“, wurde nur 17 Jahre nach seinem Tod für selig und 27 Jahre nach seinem Tod für heilig erklärt. Seine weltweite Jüngerschaft stellt seit Jahrzehnten die militantesten Gegner der Befreiungstheologie. Demnächst wird auch das Kino für diese Gestalt werben.

Doch ist eine „amtliche“ Heiligsprechung Romeros aus Sicht der „Kirche von unten“ noch nötig oder überhaupt wünschenswert? Rom hat den Erzbischof von San Salvador vor seiner Ermordung nachweislich im Stich gelassen und sogar gedemütigt. Zur Rechtfertigung für ihre Christenverfolgung beriefen sich Faschisten in Lateinamerika gerne auf die Amtskirche. Als Joseph Ratzinger 1984 sein scharfes Dokument zur Befreiungstheologie veröffentlicht hatte, meinte der Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx: „Die Diktatoren Lateinamerikas werden [die Anweisung] mit Freuden aufnehmen, denn sie wird ihren Zwecken dienen.“ 1985 deklarierte ein Prälatenkreis um Lopez Trujillo bei einem Treffen in Chile die Befreiungstheologie als „marxistischen Verkehrung“ des Glaubens. Pinochets Staatsfernsehen berichtete ausführlich darüber, und das Militär rechtfertigte unter Berufung auf die besagte Diagnose die Verhaftung des progressiven Paters Renato Hevia.

Die Geschichte des römischen Feldzuges gegen die Befreiungstheologie, die der Ratzinger-Biograph John L. Allen zusammenfasst, ist ein dunkles Kapitel aus kirchenpolitischen Strategien, Verleumdungen und Personal-„Säuberungen“, die sogar vor einem weltweit geachteten Bischof wie Dom Helder Camara nicht haltmachen sollten. Der polnische Papst Johannes Paul II. konnte immerhin auf eigene Erfahrungen von Kirchenverfolgung zurückgreifen. Er war in der Sache widersprüchlich. Einerseits wiederholte er mehrfach seinen pauschalen Marxismus-Verdacht. Andererseits griff er die Anliegen der Befreiungstheologen und sogar ihre Rede von der „strukturellen Sünde“ auf. Mit Blick auf den von wirtschaftlichen Machtzentren gesteuerten „Neoliberalismus“ sparte er nicht an Kapitalismuskritik. Bei seinem Niederknien am Grab Romeros hat er vielleicht sogar Bedauern empfunden über sein schroffes Verhalten beim Bittbesuch des salvadorianischen Erzbischofs Anfang 1979.

Joseph Ratzinger, zeitlebens ein vom Schreibtisch geschützter – typisch deutscher – Büchertheologe, war als Gegner der Befreiungstheologie spätestens seit 1978 amtlich aktiv. Kapitalismuskritik im ökonomischen Sinn ist bei ihm nicht nachzulesen, und er scheut überhaupt das Wort „Kapitalismus“. Es ist nicht auszuschließen, dass er schon in den 80er und 90er Jahren der maßgebliche Motor der vatikanischen Aktivitäten gegen die Kirche der Armen gewesen ist. John L. Allen schreibt:

Fast die Hälfte der weltweit eine Milliarde Katholiken sind Lateinamerikaner. ... Wo die katholische Kirche eine solch dominante Kraft darstellt, ist man berechtigt, eine Sozialordnung zu erwarten, die die Wertvorstellungen des Evangeliums besser wiedergibt. ... Dass der lateinamerikanische Katholizismus in den neunziger Jahren keine solche Wirkung ausübte, ist in großem Maß von Joseph Ratzinger zu verantworten.

Namentlich auch die Menschen in El Salvador, dem Land von „San Romero“, leben noch immer unter bedrückenden ökonomischen Verhältnissen. Für sie wäre es fatal, wenn Joseph Ratzinger () sich wirklich als der dem „neoliberalen Zeitalter“ genehme Papst erweisen würde.

Die jüngste Note aus Rom richtet sich gegen den Befreiungstheologen Jon Sobrino. Hier im letzten Jahr bei einer Veranstaltung in Madrid. Bild: entre-culturas.org

Der Fall Sobrino: Kein Ende in Sicht?

Noch nach dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung sorgte Rom dafür, dass 1992 die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) in einem vorgelegten Abschlussdokument jeglichen Bezug der Gottesreichverkündigung Jesu zur irdischen Sozialordnung verneinte. Mit dieser Botschaft hatte man den Juden Jesus von Nazareth faktisch zugunsten des reinen Christusdogmas begraben. Zu den Leitern der Konferenz gehörte der chilenische Kardinal Jorge Medina Estévez, „der lange Zeit mit Chiles General Augusto Pinochet auf gutem Fuß gestanden hatte.“ (J. L. Allen)

Bis heute hat Roms Kampf gegen die Kirche der Befreiung noch immer nicht aufgehört. Im mexikanischen Bistum Chiapas sieht sich der Bischof z.B. mit Weisungen der Vatikanbürokratie gegen eigenständige Wege der Pastoral mit indigenen Diakonen konfrontiert (Publik-Forum, 1.12.2006). In Cajamarca, im Norden Perus, fällt der Ortsbischof dem Priester Marco Arana, der die Rechte der Campesinos gegen die Übergriffe eines Goldminenbetreibers verteidigt und mit Mord bedroht wird, öffentlich in den Rücken (Publik-Forum, 26.1.2007). Die befreiungstheologische Tradition Perus hat Rom vor allem durch die Ernennung neuer Opus-Dei-Bischöfe entmachtet.

Gegen die Christuslehre eines der bekanntesten und populärsten Befreiungstheologen, des Jesuiten Jon Sobrino, richten sich die jüngste Notifikation aus Rom und eine gesonderte Erklärung zu den Anmerkungen. Scheinheilig wurde dieser Vorgang öffentlich als bloße „brüderliche Ermahnung“ dargestellt. Entsprechende Sanktionen blieben der örtlichen Kirchenobrigkeit überlassen, was im Bischofspalais von San Salvador auch sogleich richtig aufgefasst wurde.

Im Kontext der „Option für die Armen“, die von der ganzen Kirche geteilt werde, erinnert die „Note on the Notification“ vielsagend an ein Wort des Papstes: „The first poverty among people is not to know Christ.“ Zentraler Streitpunkt ist neben der Rede vom „Reich Gottes“ die eingangs erwähnte Zweinaturenlehre, also ein vermeintlich rein dogmatisches Thema. Vereinfacht gesagt: Sobrino wird vorgeworfen, er nehme beim irdischen Jesus kein göttliches Bewusstsein an, das der späteren dogmatischen Lehre entspricht. Genau über dieses Thema aber will der Papst in Kürze als Theologe im freien Diskurs ein eigenes Jesus-Buch veröffentlichen. Wie praktisch, dass die Glaubenskongregation vorab schon den amtlichen Monolog hinsichtlich anderer katholischer Theologenmeinungen führt.

Beim besagten Thema hätte Rom sich eine lange Liste europäischer Theologen vornehmen können. Die Wahl fiel aber – wohl kaum zufällig – auf Sobrino. Dieser war früher ein enger Berater von Erzbischof Romero. Als am 16. November 1989 ein Todeskommando der Militärs die Jesuiten-Kommunität in San Salvador überfiel, überlebte er als einziges Mitglied der Hausgemeinschaft und zwar nur deshalb, weil er verreist war. Basiskirchliche Netzwerke in Deutschland vermuten zusammen mit Franziskanern und Steyler Missionarinnen im Vorgehen gegen den 68jährigen Jesuitenpater eine kirchliche „Machtauseinandersetzung“.

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster, die Sobrino 1998 die Ehrendoktorwürde verliehen hat, sieht keinen Grund, ihre hohe Wertschätzung des Befreiungstheologen zu revidieren.

Das vom Erzbischof von San Salvador, Fernando Saénz Lacalle am 11. März mitgeteilte allgemeine Lehrverbot diene, wie ähnliche Fälle hinreichend gezeigt hätten, nicht der weiterführenden Klärung, "sondern der Vergiftung der innerkirchlichen Atmosphäre". Im konkreten Fall werde die Solidarität der katholischen Kirche mit den armen und verfolgten Christen in Lateinamerika und überall auf der Welt in Zweifel gezogen.

Filmhinweise und Quellen