Raubzug im Elektro Egger

Ein Auszug aus Stefan Wimmers Roman "Die Leidensstationen nach Pasing"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Doch wir waren nicht umsonst die Kajal-Clique, ausgefuchst, durchtrieben, nicht unterzukriegen, immer auf Zack, und so standen wir schon bald aufs neue am Pasinger Bahnhof, ungeachtet aller Bedrohungen! Denn Hindernisse, die wir nicht überwinden konnten, mussten erst noch erfunden werden. Und daher hieß es jetzt wieder Bühne frei für:

Thorwald, Roderick (=der Boss)
Meindorff, Michael (=das Brain)
Deibel, Richard (=der Clown)
Wimmer, Stefan (=der Chronist)

Namen wie Marken! Gott zum Gruße! Denn instinktiv wussten wir, dass wir die Zeit nutzen mussten, denn niemand konnte sich sicher sein, wie lange sie noch lief. In Lehrer-Kreisen wurde eindringlich gewarnt: "Vorsicht vor der Kajal-Clique! Wer sich mit der Kajal-Clique einlässt, endet unterm Rad!" Doch uns war klar: Wir hatten nur eine Jugend, und jetzt galt's!

So standen wir also vorm Glasgebäude des Elektro Egger, des Pasinger Elektrogroßhandels. Am Elektro Egger hatte es uns vor allem die Platten-Abteilung angetan, denn in diesem Sommer brachten die Plattenfirmen eine Monsterscheibe nach der anderen auf den Markt: Maxi-Singles, 12''-Remixes und Mini-LPs voller extrem genialer Live-Aufnahmen, Alternate Takes und Bonus Tracks.

Sachen wie Aztec Cameras "Still On Fire", Style Councils "The Lodgers", Madonnas Jellybean-Remix von "Angel", Depeche Modes "Shake the Disease" und, und, und... Mindestens vierzig dieser Preziosen erschienen jede Woche neu im Elektro Egger und machten uns mit ihren wunderschönen Covern und Schriftzügen den Mund wässrig.

Ich stand eigentlich nicht so auf Diebstahl. Ich hatte vor unseren Touren im Elektro Egger in meinem Leben bisher nur zwei Cocktailgläser aus einem Möbelgeschäft mitgehen lassen, sie aus Reue aber nach Ladenschluss wieder vor die Tür gestellt. Doch die Platten des Elektro Egger waren einfach zu verlockend, als dass man nein sagen konnte.

Die Musikabteilung befand sich im Erdgeschoss, sie wurde von zwei Personen verwaltet: einem Studenten und einer circa 44-jährigen Blondine mit unglaublich schönen Brüsten und Bubikopf, die trotz ihres Alters fast so geil aussah wie Baby Love.

Außer diesen beiden Angestellten kontrollierten jedoch ganz sicher auch noch mehrere Ladendetektive das Areal, von den Überwachungskameras und der Kundschaft ganz zu schweigen! Deshalb mussten wir verdammt vorsichtig sein!

Das Ganze war wie ein Geschicklichkeitsspiel: Die Hauptschwierigkeit bestand darin, von den Kameras unbemerkt einen Pool von Wunschplatten anzusammeln - das zukünftige Diebesgut -, und diese Platten in einen toten Winkel des Ladens zu bringen. Dazu war es notwendig, immer wieder Platten unauffällig aus dem Regal zu nehmen, sie geschmäcklerisch zu begutachten und in den geheimen Winkel umzugruppieren. Die jeweilige Ausbeute musste dann im geeigneten Augenblick - es gab pro Stunde höchstens einen, weil der Elektro Egger immer voller Kunden war - möglichst schnell in ein Behältnis gestopft werden.

Ich muss dazusagen, dass sich Roderick als einziger nicht aktiv an unseren Raubzügen im Elektro Egger beteiligte. Dies nicht deshalb, weil ihm der Mut fehlte, sondern weil er von seinem Vater ein so astronomisch hohes Taschengeld erhielt, dass er es nicht nötig hatte, etwas zu stehlen (dies ließ er uns durchaus auch spüren). So nahm er lediglich als Begleitperson an unseren Diebestouren teil und kaufte, während Meindorff, Deibel und ich zwischen den Regalen beschäftigt waren, einfach seine Wunschplatten an der Kasse.

So war es ein gewohntes Bild, dass Roderick irgendwo im Elektro Egger gelangweilt Platten durchflippte, während Meindorff, Deibel und ich fieberhaft damit beschäftigt waren, unauffällig unsere Coups hinter uns zu bringen. Ich selbst agierte beim Stehlen am liebsten allein, mit der alten Aktentasche meines Vaters. Doch Deibel und Meindorff zogen es vor, sich gegenseitig Rückendeckung zu geben (wobei Deibels Arbeitsinstrument, ein rosa Schulranzen der Marke Scout, so krotzhäßlich war, dass ich mich vor der blonden Verkäuferin geschämt hätte).

So war es auch an diesem Nachmittag, an dem wir uns zu viert im Elektro Egger aufhielten: Meindorff und Deibel, über verschiedene Regale gebeugt, blickten sich hektisch um und gaben sich geheime Winke, Meindorff zuckte dabei sporadisch mit den Augen, während Roderick durch die Abteilung flanierte und Maxisingles begutachtete. Ich hatte meine Wunschscheiben bereits in einem Fach zusammengesammelt, jetzt stopfte ich alles - mit schnellem Blick auf den Studenten und die Kunden - in meine Ledermappe, lächelte der Blonden zu und ging nach draußen. Am Pasinger Bahnhof, wo ich mit den Anderen verabredet war, erschienen nach etwa zehn Minuten Meindorff und Deibel, fast zeitgleich mit Roderick.

Meindorff lachte jokerartig und zog aus seiner Armee-Umhängetasche zwei Scheiben hervor: Level 42: A Physical Presence sowie Tom Waits: Swordfishtrombones. Ich klopfte ihm auf die Schulter, zog nach und ließ in meinem Behältnis kurz The Perfect Kiss von New Order, Love Not Money von Everything But The Girl und It's Called A Heart von Depeche Mode aufblitzen. Roderick gähnte und war sich zu gut dafür, irgendwelche Platten herzuzeigen.

Deibel dagegen steckte die Hände in seine grindige Cordhose, kam zu Meindorff und mir und nickte abschätzig in unsere Richtung. "Hm-hm-hm-hm! Is ja gar nix!", nölte er. "Is ja totaler Scheiß! Hm-hm-hm-hm! Pop-Kommerz!"

Ich sah Deibel an und reinigte mir mit dem Finger kurz das Ohr, weil ich zunächst glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Deibel, der per se zu keinem Themenbereich eine eigene Meinung hatte, schien offenbar der Ansicht zu sein, er könne hier in wichtigen musikalischen Dingen seinen Senf dazugeben.

"WAS hast du da eben gesabbelt?", fragte ich und hielt meine Hand ans Ohr.

"Hm-hm-hm-hm! Pop-Kommerz!", murmelte Deibel, deutete wieder auf unsere Platten und schüttelte missbilligend den Kopf. "Is ja gar nix! Is ja blöder Scheiß!" In diesem Augenblick kamen Erinnerungen in mir hoch, Erinnerungen, wie Deibel sich in den letzten Wochen beständig im Schreibwaren Dischner herumgedrückt und eine Musikzeitschrift namens Spex in den Händen gehalten hatte, wobei er die Wörter mit tölpelhaften Bewegungen seiner Zunge nachzuplappern versuchte, so lange, bis der Verkäufer ihn rausschmiss.

"Deibel!", sagte ich. "Hast du den Verstand verloren? Was zum Teufel hast DU denn geklaut? Leg die Karten auf den Tisch!"

Deibel zuckte verächtlich mit den Schultern und sah in Richtung Westen, dorthin, wo der Pasinger Bahnhof in die brachliegenden Gebiete der aufgelassenen Fabriken überging.

Jetzt packte mich Wut, denn in musikalischen Dingen nahm ich es sehr ernst. Ganz grundsätzlich ließ sich sagen: WIR, DIE KAJAL-CLIQUE, hatten zuerst Punk gehört, dann stiegen wir um auf New Wave, und zum Schluss hörten wir New Romantic. Doch ganz gleich, was wir hörten: Wir waren immer DIE KAJAL-CLIQUE! Verstanden? OK!

"Also spuck's aus, Deibel!", sagte ich. "Was hast DU geklaut?" Deibels Lippen gaben ein abschätziges, pappiges Geräusch von sich, als er sagte:

"GG Allin 'n Begriff? Throbbing Gristle? Leather Nun?"

"Ach komm!", seufzte ich auf. "Das meinst du jetzt aber nicht ernst..." Deibel nickte nur voller Verachtung.

"Psychic TV? Nitzer Ebb? Death In June?"

"Hör mir auf!", rief ich. "Deine Scheißbands werden in zwei Jahren alle vergessen sein!"

"Cramps? Hüsker Dü? Front 242?", nölte er.

Blitzschnell griff ich nach Deibels Scout-Schulranzen und versuchte, ihn zu entwenden. Deibel wand sich und schlug meinen Arm weg, doch ich ließ mich nicht abwimmeln und es kam zur Rangelei. Wir rangen um seinen Schulranzen, ich nahm ihm das rosa Prachtstück ab und öffnete es. Zum Vorschein kamen:

1. Peter Maffay: Sonne in der Nacht
2. Peter Maffay: Ich will leben
3. George Kranz: Trommeltanz (Din Daa Daa)
noch ergänzt durch:
4. Novalis: Flossenengel