Rauchende Colts
Naomi Klein auf den Spuren der ganz großen Sache
Sie ist smart. Aber wir sind auch nicht auf den Kopf gefallen. Diesmal geben wir ihr die Breitseite. „No Logo“ haben wir ihr durchgehen lassen. Kinderkram. Aber das hier ist etwas anderes: Die Schock-Strategie. Über siebenhundert Seiten und alles wissenschaftlich belegt. Sagt sie. Zusammen mit einem Team von sieben professionellen Helfern hat Naomi Klein an dem Buch gearbeitet, vier Jahre lang, in denen sie auch noch kreuz und quer durch die Welt gereist ist.
Da kommt manches zusammen. Elektroschock-Folter in Lateinamerika, die CIA und der Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman als Drahtzieher im Hintergrund. Zuviel! „Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank?“ fragt "Die Zeit" garstig im Interview mit der Autorin. In New Orleans, nach dem Hurrikan, hat es Naomi Klein nach einem Unfall in eine Privatklinik verschlagen. Siehste mal!, triumphierte die FAZ: Da hat sie doch auch von Privatisierung profitiert, die sie immer bemäkelt.
Wie gesagt: die Dame wird hier jetzt nicht groß auf Unterstützung rechnen können. Auch wenn das die Leser ihres Buches anders sehen. „Wer die Welt der letzten 35 Jahre verstehen lernen möchte und wissen will, warum alles so ist wie es jetzt ist, der sollte dieses Buch lesen“, schreibt Ali Nazim Gör alias „aligoer“ auf der Amazon-Seite für Kundenrezensionen. „Seit Jahren oder Jahrzehnten wundere ich mich über politische Ereignisse – immer wieder hatte ich das Gefühl, ‚hier stimmt etwas nicht’ (...). Das hat sich nun geändert – endlich finden die Puzzleteile ihren Platz“, meint Amazon-Kunde „Lesenhilft“.
Wir werden uns das alles sehr, sehr genau anschauen. In wenigen Minuten werden wir die Gelegenheit haben, sie selbst zu sehen und zu hören: Naomi Klein. Bestimmt dreihundert Menschen werden es sein, die im Kellersaal des Berliner Medienkaufhauses Dussmann auf ihren Auftritt warten. Junge Leute, um die dreißig die meisten von ihnen, alle hundertprozentig zivil. Keine Wagenburgler. Der etwas untersetzte Mann mit dem Anzug und der bunten Krawatte, der eben noch mit der hübschen jungen Frau rumgestanden war, sagt jetzt, dass er der Geschäftsführer des Kaufhauses ist und dass Naomi Klein sich bereits im Gebäude befindet und auf dem Weg zur Bühne ist.
Und da kommt sie auch schon, posiert vor den Fotografen wie ein richtiger Star. Und dann legt sie los. Die Geschichte ist schon doll, richtig mit rauchenden Colts und so. Naomi Klein als Sheriff, der gerade noch rechzeitig durch die Salontür kommt, um die Täter dingfest zu machen. Der US-Chefideologe schreibt dem Diktator einen Brief! Es geht um Milton Friedman, den Chicagoer Ökonomen und Nobelpreisträger. Ein knallharter Verfechter des freien Marktes. „The business of business is business“, ist einer der Aussprüche, mit dem man ihn gern zitiert. Und um Pinochet, den chilenischen Diktator. Gemeinsam haben die beiden mit dem Neoliberalismus Lateinamerika plattgemacht.
Friedman hat Pinochet beraten. Ein Geheimnis hat er daraus nie gemacht. Er sprach darüber seinerzeit sogar in dem US-Wochenmagazin Newsweek:
In spite of my profound disagreement with the authoritarian political system of Chile, I do not consider it as evil for an economist to render technical economic advice to the Chilean Government, any more than I would regard it as evil for a physician to give technical medical advice to the Chilean Government to help end a medical plague.
zitiert nach: Orlando Letelier: The Chicago Boys in Chile, in: The Nation, 28.8.1976)
Bei all dem haben sich Friedman uns seine Jungs noch übelster CIA-Verhörmethoden bedient, um ihren Traum eines entfesselten Kapitalismus in Lateinamerika wahr zu machen: der Schock-Behandlung. Erfunden als eine Art Festplattenneuformatierung für geistig Gestörte – mit Elektroschocks und allen Schikanen – haben die Geheimdienstler die Schockfolter verwendet, um Gefangene zum Geständnis zu bewegen. Nicht anders wollte Milton Friedman mit der chilenischen Bevölkerung verfahren, um ihr sein neoliberales Konzept überzuhelfen. Kein Witz. Friedman sprach von einem shock treatment für die chilenische Wirtschaft:
The only medicine. Absolutely. There is no other. There is no other long-term solution.
Milton Friedman
Von da an ging es dann eigentlich immer nur weiter. Bolivien und Argentinien, Thatcherismus, Polen, Russland, New Orleans, der Tsunami 2004, Guantanamo, Irak – überall das gleiche Muster. Erst die Katastrophe, dann der Schock, dann der Neoliberalismus. Freihandel, Deregulierung, Massenprivatisierung, Abbau der Sozialsysteme. Friedman lässt grüßen. Und, nein, sagt Naomi Klein, das alles sei keine Verschwörungstheorie, sondern bezeugte Wahrheit. Deshalb ist das „Die Schock-Therapie“ auch so dick geworden: damit niemand ihr nachsagen könne, sie wolle bloß ein paar polemische Ideen in die Welt setzen.
Da ist also dem Neoliberalismus nachgeholfen worden. Von wegen, Mauer weg und alle wollen nur noch Big Macs und Reagonomics, alles freiwillig. Stattdessen Schocktherapie, Ausnutzung wehrloser Befindlichkeiten in Zeiten des Umbruchs. Hat in der Praxis mit der reinen neoliberalen Lehre wenig zu tun, sondern vielmehr mit Korruption und der ungebrochenen Macht von Monopolen. Das zeigt Naomi Klein übrigens selbst mit den Berichten und Dokumenten zu Kapitel drei und vier auf ihrer Webseite.
Also was jetzt, will man da scharf nachfragen: Will die Klein die Wirtschaftstheorie von Friedman kritisieren oder Missstände in Lateinamerika und sonstwo, die auch jemand wie Friedman selbst bemäkeln würde? „Du hast das nicht verstanden“, sagt die Sitznachbarin. „Das ist es doch gerade, wie Ideologie funktioniert: da besteht überhaupt kein Widerspruch.“
Merkwürdig außerdem, dass es all das braucht, Friedman und seine Chicago Boys. Haben nicht wirtschaftliche Mechanismen von sich aus schon eine ganze schöne Power, ohne dass es da diese intellektuellen Tonangeber im Hintergrund braucht? „Bist Du da nicht selbst schon dieser Ideologie einer quasi naturhaft funktionierenden Wirtschaft aufgesessen, von der Naomi Klein redet?“, wendet die Sitznachbarin ein. Vergessen wir’s.
Naomi Klein verteilt zum Schluss noch ein fieses kleines Bonbönchen. Auch die Dussmann-Gruppe, zu der das Kaufhaus gehört, in dem man sich heute Abend befindet, spielt mit beim Schock-Kapitalismus! Dussmann ist ein Akteur im Geschäft der privatisierten Kriegsführung, ist dabei mit Sicherheits-Dienstleistungen und „deportation centers“, sagt Naomi Klein.
So etwas zu hören, wird den Herrn mit der bunten Krawatte, der in dem Kaufhaus die Geschäfte führt, bestimmt nicht freuen. Muss er aber auch nicht hören. Er unterhält sich im entscheidenden Moment mit der jungen Kollegin.
Am Ende des langen Vortrages ist schon nach zwanzig Uhr – Insbettgehzeit für ein Kaufhaus, eigentlich. Anders bei Dussmann. Nicht nur heute, für die Käufer der „Schocktherapie“, sondern jeden Tag hat das Kaufhaus bis um Mitternacht geöffnet. Wie das möglich ist? „Die haben geltende Arbeitsbestimmungen dadurch umgangen, dass sie alle ihre Angestellten in den Rang von leitenden Mitarbeitern gehoben haben, für die andere Regelungen gelten“, erzählt die Sitznachbarin.
Am Mittwoch, den 17. Oktober Naomi wird Naomi Klein ihre Thesen zur Bedeutung von Krisen und Katastrophen für den globalisierten Kapitalismus und der Verbindung zu neoliberalen Ideologien noch einmal zur Diskussion stellen. Dabei soll es auch darum gehen, welche Bedeutung ihre Überlegungen für politische Praxis und Organisierung haben könnten. 19:30 Uhr, Festsaal Kreuzberg, Skalitzerstrasse 130. U-Bahn Kottbusser Tor. Eintritt frei.