Raucher leben länger
... zumindest in statistischen Monokulturen
Wenn es um Statistiken geht, ist der Spruch: "Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe" meist nicht weit. Es stammt nicht von Winston Churchill, sondern wurde ihm vom deutschen Propagandaminister Joseph Goebbels in den Mund gelegt, um die statistisch belegten Erfolge Englands herunterzuspielen (vgl Zahlen lügen nicht, sie verführen). Dem Gegner vorzuwerfen, dass er mit manipulierten Statistiken operiert, um dann seinerseits die "richtigen" Zahlen auf den Tisch zulegen, gehört zu den Standards im politischen Geschäft. Aber nicht nur dort spielen auf Zahlenwerken aufgebaute "Wahrheiten" eine große Rolle, wie etwa Gerd Gigerenzer in seinem Buch "Das Einmaleins der Skepsis - Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken" (2002) vor allem an Beispielen aus der Medizin (Mammografie, AIDS_-Tests, genetischer Fingerabdruck) gezeigt hat. Selbst scheinbar absolute Wahrheiten beruhen hier auf Zahlenblindheit und falscher Risiko-Einschätzung. Kein Wunder eigentlich, wenn laut einer Umfrage (Emnid 1998) etwa ein Drittel aller Deutschen auf die Frage, wieviel "40 Prozent" sind ( a: ein Viertel, b: 4 von 10, c: jeder Vierzigste) die falsche Antwort gaben.
Derart mit Statistik-Skepsis gewappnet - und nach einem gescheiterten Nikotinentzug schlechten Gewissens wieder am Docht – klang die Überschrift "Smoke Cigarettes - Live Longer" wie Musik in meinen Ohren. Und die Statistik auf die sie sich bezog, klang noch viel besser: Die 400.000 Todesopfer, die der Tabakkonsum angeblich jährlich in den USA fordert, wurden nämlich durchschnittlich älter als der Rest der Bevölkerung:
Die Analyse des Alters der 400.000 angenommen Verstorbenen, berechnet vom SAMMEC (Smoking Attributable Mortality, Morbidity and Economic Costs)-Programm des Centers for Disease Control (CDC) zeigte:
- die rauchenden "Opfer" lebten etwa 2 Jahre länger als der Rest von uns: 71,9 vs. 70 Jahre;
- über 70.000, oder etwa 17%, starben "vorzeitig" in einem Alter von über 85 Jahren;
- nur 1900, weniger als 0,5% der rauchenden "Opfer", starben in einem Alter von unter 35 Jahren, während 143.000 oder 8% des Rests von uns unter 35 stirbt.
Lässt sich nun daraus schließen, dass Rauchen gesund ist ? Robert Levy lässt in seiner Analyse dieser Daten keinen Zweifel daran, dass Rauchen das Risiko von Lungenkrebs und Bronchitis deutlich erhöht – die höhere Lebenserwartung von Rauchern deutet aber an, dass es auch gesundheitsfördernde Wirkungen des Zigarettenkonsums gibt, die dieses Risiko offenbar aufwiegen:
Weniger Überfettung, Darmentzündungen, Depressionen, Parkinson, Alzheimer und, für einige Frauen, ein geringeres Vorkommen von Brustkrebs.
Ginge es mit statistisch korrekten Dingen zu, bräuchten wir wohl dringend neue Hinweise auf den Zigarettenschachteln. Und die Finanzminister, die auf die Milliarden der braven und langlebigen Nikotinsklaven dringend angewiesen sind, müssten der Angsttreiberei und den Anti-Raucher-Kampagnen eigentlich ein Ende machen. Woraufhin ihre politischen Gegner die "richtigen" Statistiken zücken – und auf die englische Langzeitstudie verweisen, nach der Raucher im Schnitt zehn Jahre früher sterben (was die Finanzminister dann wieder beruhigt, denn sie sparen damit bei der Rente).
Aber wer hat denn nun recht? Die Gesundheitsapostel, die Tabak zum Killer Nr. 1 erklären – oder die Anti-Prohibitionisten, die das für maßlos übertrieben halten und Freiheit für Konsumenten fordern? Dass erstere nur Propagandisten der Pharma- und Gesundheitsindustrie sein könnten, die Rauchen zu einer medikamentös behandelbaren Krankheit machen wollen, während letztere nur Büttel der Tabakkonzerne und deren Geschäft mit der Sucht sind, lassen wir mal für einen Moment beiseite. Und fragen uns, ob es sich bei diesen divergierenden Aussagen über die Lebenserwartung von Rauchern vielleicht um eine ähnliche Komplementarität handeln könnte, wie sie von der Quantenphysik im subatomaren Bereich festgestellt wurde.
Dass diese "Unschärfe" des Mikrokosmos auch für Beobachtungen in der Makrowelt gilt und zu ähnlichen Paradoxien führt, hatte in den 80er Jahren der Ökonomie-Professor und Chefberater der Bank von England, Charles Goodhart, entdeckt. Goodhart hatte die volkswirtschaftlichen und geldpolitischen Statistiken genauer unter die Lupe genommen und Erstaunliches festgestellt: Kaum etwa hatte die Zentralbank eine Regel aufgestellt, an der sie ihre Geldpolitik orientieren wollte, veränderten sich die ökonomischen Verhältnisse, auf denen diese Regel beruhte. Nachdem ihm diese Merkwürdigkeit auch noch bei anderen volkswirtschaftlichen Daten aufgefallen war, formulierte Goodhart eine Regel die als Goodhart's Law bekannt geworden ist:
Jede beobachtete statistische Regelmäßigkeit tendiert dazu zusammenzubrechen, sobald zu Kontrollzwecken Druck auf sie ausgeübt wird.
Und ganz ähnlich wie in der Welt der Quanten gilt auch hier, dass dann, wenn der Beobachter seine Aufmerksamkeit abwendet, alles wieder in seine statistische Ordnung zurückspringt. Als sich zum Beispiel in den 70er Jahren die Wirtschaftspolitik an der sogenannten "Philips-Kurve" orientierte, nach der sich ein hoher Beschäftigungsgrad und eine niedrige Inflation gegenseitig ausschließen, spielte diese statistische Regelmäßigkeit plötzlich verrückt: Trotz steigenden Beschäftigungsgrads wurde das Geld zeitweilig sogar mehr wert statt inflationär weniger. Nachdem sich die Politik dann von diesem Indikator abgewandt hatte und sich mehr auf andere statistische Verhältnisse verließ, tauchte die Regelmäßigkeit der Philips-Kurve wieder auf und kam in den 90er Jahren in modifizierter Form auch wieder zu wissenschaftlichen Ehren.
Auch der weltweit überraschende Zusammenbruch der Sowjetökonomie findet in Goodhart's Law eine Erklärung, denn jahrzehntelang war die Regierung nur auf den Indikator "Produktionssteigerung" fixiert – selbst dann noch, als offensichtlich war, dass die Statistiken auf ihrem langen Weg von der kleinen Kolchose zum großen ZK längst unbrauchbar geworden waren. Mit Goodhart's Law scheint für die Ökonomie dasselbe zu gelten wie für die Ökologie: Nur Diversifizierung, Vielfalt, garantiert Stabilität. Auf statistische Mono-Kulturen hingegen scheint keinerlei Verlass. Was das Rauchen betrifft, kann ich mich also trösten: Wir husten dem Lungenkrebs-Risiko eins und beugen Alzheimer und Parkinson vor