Raunende Runen

Der Stern fordert die Zensur von Neofolk-Bands ... und fällt dabei selbst in die Grube

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In seiner Ausgabe vom 13. Februar 2003 prangert der Stern auf Seite 25 unter der Überschrift "Böse Klänge" die Internet-Versender BOL und Amazon sowie das Musikkaufhaus WOM an.

Der Vorwurf des Hamburger Magazins:

Sie verherrlichen den Nationalsozialismus, treten in Uniformen auf, ihre Symbole sind abgewandelte SS-Totenköpfe oder Hakenkreuze aus Hundeköpfen. Dennoch sind CDs rechter Musikbands wie Death in June, Blood Axis oder Burzum bei der Karstadt-Tochter Wom, beim Internetanbieter Amazon oder der Bertelsmann-Tochter Bol zu beziehen. CDs der rechten Band Death in June, benannt nach der Niederschlagung der SA-Führung im Sommer 1934, liegen in Wom-Läden sogar in der Auslage.

Screenshot www.stern.de

Ein Service, den lustigerweise nicht nur WOM, sondern auch der Stern bietet. Wer auf der Stern-Website als Suchbegriff "Death in June" eingibt, erhält direkt vor dem Artikel zwei Werbelinks namens "Death in june im eBay Shop kaufen" und "Death in june hier ersteigern". Dort gibt es dann neben gut 140 Death-In-June-Artikeln wie den Aufnäher "Raunende Runen" auch unter "Deutschrock" eingeordnete Devotionalien von weniger komplexen Projekten wie der Band "Landser". Rechts vom Artikel generiert die Stern-Site außerdem einen Link auf die Death-in-June-Website mit dem angeprangerten Totenkopf. Den gleichen Service leistet sie auch für Burzum und Blood Axis.

Screenshot www.stern.de

Allerdings kommt dem Stern zugute, dass der im Artikel pauschal ausgesprochene Nazi-Vorwurf nicht ohne weiteres auf alle genannten Bands zutrifft. Gerade die Neofolk- und Industrialmusik erfreut sich am Verwirr- und Versteckspiel mit Symbolen, das Teil des künstlerischen Reizes ist (vgl. Gewaltmarsch in die Freiheit). Auch Gegner des Hitler-Regimes, wie der Künstler John Heartfield, arbeiteten mit verfremdeten Hakenkreuzen. Als eine solche Heartfield-Collage in den 1980ern von der Band Laibach verwendet wurde, sah sich diese mit ähnlich unreflektiert ausgesprochenen Vorwürfen konfrontiert. Daneben ist auch die Stern-Interpretation des Bandnamens von Death in June nicht korrekt(vgl. Anmerkung für den Autor).

Andererseits sprechen Äußerungen des Burzum-Gründers Varg Vikernes nicht unbedingt für einen ähnlich raffinierten Einsatz der Kunstgeschichte für das eigene Oeuvre. Doch ist es sinnvoll, deshalb seine CDs zu verbieten? Ein reflexartig ausgestoßener Ruf nach Zensur verkennt die komplexe Dialektik von Aufklärung und Verbot (vgl.Information und Spektakel). So gründen sich auch durchaus distanzierte Auseinandersetzungen mit Phänomenen wie Black Metal auf vom Stern mit Zensurforderung bedachte Bücher wie Michael Moynihans "Lords Of Chaos" (vgl. Hasse deinen nächsten, wie dich selbst).

Die unfreiwillige Komik der elektronisch bloßgestellten Stern-Empörung könnte den potentiellen Zensoren des Stern theoretisch als Lehrstück dienen. Ob das Magazin daraus wirklich lernt, sich mit dem Problem Zensur differenzierter auseinander zu setzen, darf jedoch getrost bezweifelt werden: Zu gut reiht sich die "Enthüllungsstory" in eine Serie von Fettnäpfchen ein, die von gefälschten Tagebüchern des Quotenbringers (vgl. Holokaust schreibt man jetzt mit »K«) Adolf Hitler bis zu fingierten Stern-TV-Reportagen über angebliche Aktivitäten des Ku-Klux-Klan in Deutschland reichen.