Rechtsanwaltslehre statt Jurastudium
Geht Großbritannien einen weiteren Schritt in Richtung Privatisierung des Ausbildungssystems?
In einem Gastbeitrag für den Telegraph kündigt der britische Staatssekretär für Fortbildung, Matthew Hancock, an, dass die berufliche Ausbildung ("apprenticeship") in ausgewählten Berufsfeldern (namentlich Versicherungswirtschaft, Rechnungswesen/Buchprüfung und Jura) einem universitären Studien gleichkommen soll.
Während er Großbritannien für seine "künstliche und kontraproduktive" Trennung zwischen praktischer und akademischer Ausbildung kritisiert, stellt er Deutschland als Vorbild hin, dem man es erlaubt habe, "im globalen Rennen um technische Exzellent" einen Vorsprung zu gewinnen.
Nun ist es wahr, dass deutsche Politiker stolz auf das duale Ausbildungssystem sind. Allerdings kennt Deutschland keine Volljuristen ohne abgeschlossenes Jurastudium; nur im Ausnahmefall werden Nicht-Akademiker zum Wirtschaftsprüfer-Staatsexamen zugelassen; und Steuerberater wird man im Regelfall ebenfalls durch wirtschafts- oder rechtswissenschaftliches Studium (wobei hier aber eine offizielle Ausnahmeregelung vorsieht, dass eine zehnjährige Berufspraxis ebenfalls die Zulassung zur Prüfung ermöglicht). So ganz kann also der Verweis auf Deutschland nicht überzeugen.
Hancocks eigentliches Argument ist der mehrfach deutbare Satz "But university is not for everyone", der sich durchaus auf die eskalierende Höhe der Studiengebühren auf der Insel beziehen lassen kann. Man sollte keinem Missverständnis unterliegen: Ein Lehrling mag sich die Studiengebühren sparen, aber reich dürfte er trotzdem nicht werden ("The minimum wage for an apprentice is £2.65 per hour … But many earn more", so schreibt die britische Regierung.)
Privatisierung bis hin zur Ausbildung
Ein wesentlicher Faktor dürfte die Privatisierungsideologie der britischen Konservativen sein, die sich hier weiter auf den Ausbildungssektor ausweitet. Es ist signifikant, dass Hancock anscheinend mit Stolz erwähnt, dass PricewaterhouseCoopers den Lehrplan für eine dreijährige Ausbildung in Sachen Wirtschaftsprüfung, Buchhaltung und Steuer entwickelt, und dies als modellhaft darstellt.
Zwar wird auch in Deutschland darum gerungen, die Ausbildungszeit bis zum Abschluss als (z.B.) Wirtschaftsprüfer zu verringern; aber (noch?) käme niemand auf die Idee, den universitären Abschnitt komplett auszulassen. Was derzeit möglich ist, ist, direkt nach einem Bachelor bei der Firma vor Ort zu arbeiten und später zu einem speziellen Master und einem verkürzten Examen zugelassen zu werden. Dies alles entspricht also ziemlich genau der typisch deutschen Idee der dualen Ausbildung und hat wenig mit dem Lehrberuf zu tun, der in Großbritannien eingeführt werden soll und der sich ja angeblich ans deutsche System anlehnt.
Mutatis mutandis gilt dasselbe für die Rechtswissenschaften. Die Verzahnung aus wissenschaftlichem Studium und der praktischen Ausbildung an verschiedenen Stellen zwischen beiden Staatsexamina ist charakteristisch für die deutsche Juristenausbildung. Es liegt mit Sicherheit auch am grundsätzlich römischrechtlich geprägten deutschen Zivilrecht, dass eine wissenschaftliche Ausbildung unumgänglich ist; es geht nicht nur darum, Präzedenzfälle auswendig hersagen bzw. möglichst schnell recherchieren zu können, sondern auch und vor allem darum, die kompliziert ineinandergreifenden Mechanismen des deutschen Privatrechts zu verstehen und diese Kenntnis in der praktischen Anwendung zum Tragen zu bringen. Dies dürfte sich unmöglich on-the-job vermitteln lassen.
Eine weitere wichtige Frage stellt sich noch: Kann ein angehender Jurist oder Wirtschaftsprüfer durch betriebliche Ausbildung genauso gut qualifiziert werden wie dies durch das ansonsten übliche Studium möglich wäre? Ein Anhänger der Reform wurde dies zuversichtlich bejahen: Alles, was der Kandidat an der Universität erlerne und nichts mit der direkten Berufsausbildung zu tun habe, sei ja ohnehin überflüssiger Ballast. Faktisch wird jemand, der nie etwas anderes gesehen hat, Scheuklappen haben. Sobald sein engstes Fachgebiet verlassen wird, ist er auf Blindflug.
Wem nutzt das Ganze?
Fraglich ist, wem der Vorstoß der britischen Regierung nützen wird. Die Karriereaussichten solch "angelernter" Wirtschaftsprüfer, Juristen etc. erscheinen prima facie ungewiss, berücksichtigt man die Titelverliebtheit von Großkanzleien und Großunternehmen. So manche internationale Law Firm stellt jemanden ohne Dr. vor dem Namen ungern ein; was soll aus den Kandidaten werden, die nicht einmal eine Universität im Lebenslauf angeben können? Es wäre ja grundsätzlich zu begrüßen, dass mehr jungen Menschen Zugang zu qualifizierten Berufen zur Verfügung gestellt wird. Aber die Vorstellung eines Staates, der sich aus der Ausbildung zurückzieht und diese Verantwortung lieber an Unternehmen auslagert, erinnert zu stark an andere gescheiterte Privatisierungsprojekte, als dass sie einen optimistisch stimmen könnte.
Die wahrscheinliche Folge wird sein, dass es eine stärker hierarchisierte Abstufung in den betroffenen Berufen geben wird: Oben die akademischen Vertreter (die wie z.B. Hancock selbst Oxbridge-Abschlüsse vorweisen können), unten die Leute mit Berufsausbildung. Indem der Staat die Universitäten finanziell ausbluten lässt und die Ausbildung privatisiert, sorgt er dafür, dass diese Hierarchisierung in erster Linie die finanzielle Potenz der Eltern abbilden wird.
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