Rechtsstaat contra Volkszorn

Heute beginnt in Frankfurt der Prozess gegen den ehemaligen Polizei-Vizepräsidenten Wolfgang Daschner

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Am 27. September 2002 wurde der elfjährige Bankierssohn Jakob von Metzler in Frankfurt am Main entführt. Vier Tage später saß der mutmaßliche Täter im Polizeigewahrsam. Die Beamten hatten bei dem 28jährigen Jurastudenten Magnus Gäfgen einen Teil des bereits gezahlten Lösegelds gefunden, doch der Verdächtige weigerte sich, das Versteck seines Opfers preiszugeben. Da die Vernehmungsbeamten zu diesem Zeitpunkt nicht wussten, dass Gäfgen den Schüler bereits am 27. kaltblütig ermordet und die Leiche anschließend in einen See geworfen hatte, entschloss sich der Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner zu einem folgenschweren Schritt. Er forderte einen ermittelnden Kriminalhauptkommissar auf, dem Verdächtigen "schwere Schmerzen", Misshandlungen durch einen Kampfsportlehrer und die Verabreichung eines Wahrheitsserums anzudrohen. Magnus Gäfgen war daraufhin in vollem Umfang geständig, und Daschner unterrichtete schließlich die zuständige Staatsanwaltschaft über seine Vorgehensweise.

Im Februar erfuhr die Öffentlichkeit von Daschners Ermittlungsmethoden, fünf Monate später wurde Magnus Gäfgen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt (Zurück ins Mittelalter?). Ab Donnerstag muss sich der Vizepräsident wegen Anstiftung zur schweren Nötigung und Amtsmissbrauch nun selbst vor Gericht verantworten, und auch der Hauptkommissar, der seine Anweisungen möglicherweise ohne größere Bedenken ausführte, wurde von der Staatsanwaltschaft angeklagt.

Daschner hat aus seinem Verhalten nie einen Hehl gemacht und die Androhung von Folter stets mit der besonderen Ausnahmesituation und der seinerzeit noch berechtigten Hoffnung, den entführten Jungen lebend zu finden, begründet. Während der Verhandlung dürfte ein der Staatsanwaltschaft vorliegender Aktenvermerk vom 1. Oktober deshalb kaum bestritten werden. Darin heißt es: "Zur Rettung des entführten Kindes habe ich angeordnet, daß Gäfgen nach vorheriger Androhung unter ärztlicher Aufsicht durch Zufügung von Schmerzen (keine Verletzungen) erneut zu befragen ist."

Nach einem Bericht des Spiegel, der von der Staatsanwaltschaft inzwischen bestätigt wurde, will der ins Landespolizeipräsidium nach Wiesbaden versetzte Ex-Vizepräsident allerdings Rückendeckung aus dem hessischen Innenministerium erhalten haben. "Machen Sie das! Instrumente zeigen!" soll ein nicht näher genannter Vorgesetzter zu Daschner gesagt haben. Innenminister Volker Bouffier (CDU) sieht sich deshalb bereits mit Rücktrittsforderungen konfrontiert, doch im Ministerium wird diese bereits vor Monaten kolportierte Aussage vehement bestritten. Zu einer detaillierten Auskunft war man - trotz gegenteiliger Ankündigung - allerdings nicht bereit.

Die Bedeutung dieser Vorgänge reicht weit über das Bundesland Hessen hinaus. Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat der Prozess gegen Daschner geradezu grundsätzlichen Wert, erklärt Pressesprecher Dawid D. Bartelt auf Nachfrage von Telepolis.

Das Gericht muss klarstellen, dass die Tat von Herrn Daschner rechtswidrig und strafbar war. Schon die Androhung von Folter ist Folter. Das Folterverbot gilt nach dem Völkerrecht absolut, es duldet auch in Notstands- oder Kriegszeiten keine Ausnahme oder Einschränkung. Wir erhoffen uns auch in diesem Zusammenhang eine deutliche Stellungnahme des Gerichts. Das absolute Folterverbot muss in Deutschland gesellschaftlich konsensfähig sein und bleiben.

Eine Straferwartung an das Gericht hat Bartelt nicht.

Die Schuld von Herrn Daschner zu bewerten, ist allein Aufgabe des Gerichts, ebenso die Frage, ob und falls ja, wie Herr Daschner zu bestrafen ist.

Der Pressesprecher von amnesty ist besorgt darüber, dass hochrangige Politiker und Juristen immer wieder Verständnis für Daschners Verhalten signalisierten, und verweist darauf, dass auch in der jüngsten Fassung des Standardkommentars zum Grundgesetz von Maunz/Dürig entsprechende Tendenzen sichtbar werden:

Die Neukommentierung des Artikels 1,1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar" durch Matthias Herdegen fordert, den Begriff der Menschenwürde der Entwicklung des positiven Rechts anzupassen. Dadurch wäre sie eben nicht mehr "unantastbar"; sie soll in Einzelfällen "abwägbar" und "bilanzierbar" sein. Zur Lebensrettung, so Herdegen ganz explizit, soll der Staat Gewalt anwenden - sprich: foltern dürfen. Wir finden es sehr beunruhigend, dass dies in einem so wichtigen juristischen Text erscheinen konnte.

Trotzdem stößt diese Haltung in der Bevölkerung zumindest im Fall Daschner ganz offenbar auf breite Zustimmung. Bartelt sieht das Problem aus einer anderen Perspektive. Nach seiner Einschätzung ist Folter eine Angelegenheit des Rechtsstaats, und zwar eine, die für die Legitimation des Rechtsstaats zentral ist.

Als betroffener Elternteil werde ich in einem solchen Fall natürlich wünschen, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um mein Kind zu retten. Aber der Rechtsstaat fußt ohne Ansehen der Person auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde, und Folter bedroht den Menschen in seiner Essenz. Deshalb darf es hier keine Ausnahmen geben, weder in der Rechtssprechung noch in der Praxis, zumal die Gefahr sehr groß wäre, dass sich aus dem Einzelfall ein Sonderrechtsbereich entwickeln könnte, der nicht mehr zu kontrollieren wäre.

Nach Bartelts Ansicht muss der ursprüngliche Begründungszusammenhang des absoluten Folterverbots, der auch auf Erfahrungen aus der NS-Zeit zurückgeht, gesellschaftlich wieder neu hergestellt werden.

Wir müssen den Menschen begreiflich machen, dass jede Folter das Opfer - und auch den Täter - entwürdigt und jede Aufweichung des Folterverbots unseren Rechtsstaat nachhaltig schädigt.

Wolfgang Daschner drohen im Fall einer Verurteilung bis zu fünf Jahre Haft. Ob eine Strafe angemessen ist und wie hoch sie ausfällt, müssen letztlich die Frankfurter Richter entscheiden. Um diese Aufgabe sind die Juristen nicht zu beneiden, zumal sie zu berücksichtigen haben, dass es offenbar auch in der prekären Situation des Jahres 2002 Auswege aus der Entweder/Oder-Situation gegeben hat. So soll sich Daschner geweigert haben, Magnus Gäfgen mit der Schwester seines Opfers zu konfrontieren, obwohl diese zu einer Gegenüberstellung bereit war. Laut Spiegel hat der Täter, der mit der 16jährigen Elena von Metzler bekannt war, mittlerweile zu Protokoll gegeben, dass er in diesem Fall "sofort erzählt hätte, wo Jakob ist".