Regulierungsbehörde für Politik
Während über Horst Dreiers Folterposition diskutiert wurde, schaffte ein Befürworter des Europäischen Haftbefehls relativ unbemerkt den Weg ins Bundesverfassungsgericht
In nächster Zeit werden zwei Posten beim Bundesverfassungsgericht frei. Trotz der eigentlich geforderten Unabhängigkeit der Richter beanspruchen Parteien ein Vorschlagsrecht für diese Posten. Inwieweit die Richter später einer Parteilinie folgen, ist allerdings weniger sicher als bei Abgeordneten: So entwickelte sich etwa der von der Union vorgeschlagene Siegfried Broß zu einem der privatisierungskritischsten Richter im Gremium. Dass das Bundesverfassungsgericht bisher trotz des informellen Parteiproporzverfahrens eine unabhängige Rechtsprechung produzieren konnte und über relativ großes Vertrauen verfügt, nannten Juristen das "Wunder von Karlsruhe".
Für die beiden aktuell frei werdenden Posten beansprucht die SPD ein Vorschlagsrecht. Sie brachte für die Wahl zum Nachfolger von Winfried Hassemer als Vorsitzender des 2. Senates und Vizepräsident des Gerichts das SPD-Mitglied Horst Dreier ins Spiel, was relativ bald kritische Stimmen nach sich zog. Dreier hatte nämlich in einer von ihm zu verantwortenden Kommentarstelle den Artikel 1 des Grundgesetzes relativiert.
Seine Argumentation verläuft dabei wie folgt: Zwar hält auch er die Menschenwürde für "abwägungsfest" - aber nur gegenüber anderen Grundrechten. Sie darf also beispielsweise nicht durch eine Abwägung mit dem Grundrecht auf Leben relativiert werden. Was aber, wenn die Menschenwürde des Täters mit derjenigen eines Opfers kollidiert? Hier sieht Dreier eine "Pflichtenkollision", bei welcher der Staat die Menschenwürde des Opfers höher gewichten und in "konstruktiv denkbaren Ausnahmefälle[n]" Folter zulassen müsse. Problematisch daran ist unter anderem, dass, wie Andreas Zielcke in der Süddeutschen Zeitung feststellte, "die von Dreier unterstellte Annahme unter terroristischen Bedingungen nicht die Ausnahme, sondern eher der Normalfall ist".
Diese Position erzeugte Widerstand in Teilen der Koalitionsparteien. Auf Seiten der Union kam hinzu, dass der Jurist beim Schutz von Embryonen nicht die Menschenwürde, sondern den Lebensschutz als entscheidendes Prinzip greifen sieht. Seit die Debatte an die Öffentlichkeit gelangte, ruht die endgültige Entscheidung um seine Berufung.
Relativ unbemerkt wurde in Windschatten der Dreier-Diskussionen ein anderer Verfassungsrichter vom Bundesrat als Nachfolger von Wolfgang Hoffmann-Riem durchgewunken, der möglicherweise ebenfalls problematischen Positionen anhängt: Johannes Masing vertrat Brigitte Zypries 2005 vor dem Bundesverfassungsgericht, als die Justizministerin mit ihrer verfassungswidrigen Umsetzung des Europäischen Haftbefehls gestoppt wurde. Dass Masing die grundlegenden Nichtverträglichkeit der von Zypries angestrebten Regelung mit rechtsstaatlichen Prinzipien offenbar nicht erkannte, lässt für die Rechtsprechung in den Bereichen, für die er demnächst zuständig sein wird (darunter Datenschutz und Medienrecht), nicht unbedingt eine Stärkung von Bürgerrechten erwarten.
Beworben wurde Masing von Zypries allerdings nicht mit diesem Teil seiner Biographie, sondern mit seinem Ruf als Befürworter starker Regulierungsbehörden, die Marktteilnehmern klare Grenzen setzen – womit er beispielsweise auf dem Juristentag 2006 hofiert wurde. Dass Masing die Probleme, die ein Europäischer Haftbefehl in der von Zypries gewollten Form für die Rechtssicherheit gebracht hätte, nicht in ausreichendem Maße antizipieren konnte oder wollte, deutet möglicherweise darauf hin, dass er diesen Regulierungsbedarf, dieses Setzen klarer Grenzen, für Staatsorgane als weniger notwendig erachtet als für private Akteure.
Seine Berufung ist daher auch insofern problematisch, als das Bundesverfassungsgericht auch als eine Art Regulierungsbehörde für die Politik funktioniert, indem sie ihr klare Grenzen nach festen Maßstäben setzt. Das setzt die Fähigkeit voraus, sich selbst nicht als Teil von Politik und Bürokratie betrachten zu müssen, sondern den beiden Bereichen auch mit einem Grundmisstrauen entgegen zu treten, das notwendig ist, damit potentiell missbrauchbare und willküranfällige Gesetze vermieden beziehungsweise für verfassungswidrig erklärt werden können. Ob und inwieweit auch im Fall Masing das "Wunder von Karlsruhe" wirkt, wird sich schon bald zeigen: Der neue Verfassungsrichter soll nämlich im Ersten Senat das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vorbereiten – eine bessere Nagelprobe für seine tatsächliche Eignung ist kaum vorstellbar.