Reichspogromnacht

Bild: Bundesarchiv, 146-1970-083-42 / CC-BY-SA-3.0

80 Jahre. Ein Menschenleben

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Am 9. November 2018 jährt sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal. 1300 Menschen starben in ihrer Folge, 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, 1.400 Synagogen wurden zerstört, 7500 Geschäfte geplündert und verwüstet. Das gesamte jüdische Leben in Deutschland wurde ruiniert und in weiten Teilen unwiederbringlich zerstört.

Es waren einfache Frauen und Männer, die, angestachelt durch die Rädelsführer der SA, ihre jüdischen Nachbarn drangsalierten, entmenschlichten und erniedrigten. Die sich in nur wenigen Stunden von Mitmenschen in Unmenschen verwandelten und den Weg in eine besondere Hölle ebneten, die zu diesem Zeitpunkt noch niemand erahnen und vorhersehen konnte.

Es sollte genau sieben Jahre dauern, bis aus einer arischen Herrenrasse ahnungslose Deutsche wurden, die hinsichtlich Pogrom und Holocaust weder informiert noch beteiligt waren. Selbst KZ-Wächterinnen, die inmitten von verwesenden Leichen und ausgemergelten KZ-Häftlingen umherschritten, wurden kurz nach Kriegsende mit selektiver Blind- und Taubheit geschlagen und anschließend von den Siegermächten geblitzt. Anders lässt sich beispielsweise der Bericht von Hilde Lisiewicz, einer SS-Aufseherin des KZ Bergen-Belsen, nicht erklären, die in ihrem Arbeitsgebiet inmitten des KZs 28.000 Leichen übersehen haben will.

Doch selbst diese Art der Leugnung und dieser primitive Nicht-Umgang mit der eigenen Schuld scheint manchen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu viel Raum in der öffentlichen Wahrnehmung der deutschen Geschichte einzunehmen. So fordert die AfD einen endgültigen Schlussstrich in der Auseinandersetzung mit Reichspogromnacht und Holocaust und verlangt ein Ende des "Schuldkults", mit dem die deutsche Bevölkerung ja nur stets auf "diese 12 Jahre" reduziert würde.

Weniger zurückhaltend formulieren es die Nicht-Nazis von PEGIDA, die ausgerechnet zum 77. Jahrestag der Reichspogromnacht auf dem ehemaligen "Adolf-Hitler-Platz" in Dresden "Schluss mit der Nazi-Paranoia" forderten und unter großem Jubel "den Schuldkomplex aus zwölf Jahren Naziherrschaft offiziell für beendet" erklärten. Dass ausgerechnet in Sachsen eine Nazi-Demo zum Jahrestag der Reichspogromnacht genehmigt und eine demokratische Gegendemonstration verboten wurde, ist sicherlich nur ein skurriler Zufall. Eine unbedeutende Posse. Ein bedauerlicher Einzelfall.

Obwohl sich die AfD eine Emanzipation von genau "diesen 12 Jahren" herbeisehnt, frönen ihre Politiker mit Feuereifer einem Hitler-Fetischismus, der mindestens irrsinnig und zuweilen pathologisch erscheint. Zu den zahlreichen Devotionalien, die die Herzen der Herrenmenschen höherschlagen lassen, gehören: Hitler-Weine, Hitler-Erdnüsse, Hitler-Bettwäsche, Hitler-Weihnachtspyramide, Hitler-Duschkabine, Hitler-Cartoon, Hitler-Pilgerreise, Hitler-Gruß (I), Hitler-Gruß (II), Hitler-Plagiat, Hitler-Bunker und die Beschimpfung Claus Schenks Graf von Stauffenberg, einem der Hitler-Attentäter, als Verräter und Feigling.

In diesem Sinne ist es sicherlich nur angemessen, von einer regelrechten "Hitler-Obsession" zu sprechen. Die AfD - eine Partei der Holocaustleugner und Antisemiten mit angeschlossenem Hitler-Fanclub. Der Antisemitismus dieser Partei ist derart obszön, tiefgreifend und schwerwiegend, dass eine Besuchergruppe der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel in der Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen (!) den Holocaust leugnete und die Existenz von Gaskammern infrage stellte, sodass eine Führung durch die Anlage abgebrochen werden musste.

Wie mögen sich, angesichts solcher Geschehnisse, Menschen fühlen, die den Holocaust am eigenen Leibe erfahren und ihn nur knapp überlebt haben? Die zusahen, wie ihre engsten Familienangehörigen in einem KZ, in einer Gaskammer umgebracht wurden? Die das Leben unter Adolf Hitler als Bürger zweiter Klasse perspektivlos und entrechtet in Ghettos und Arbeitslagern bestreiten mussten?

Zahlreiche Holocaust-Überlebende warnen vor einem politischen Szenario, in welchem die AfD ihre geschichtsvergessenen und nationalen Paradigmen gegenüber anderen Parteien durchsetzen könnte. Horst Selbiger, Margot Friedländer, Eva Weyl, Salomon Perel, Charlotte Knobloch, Anita Lasker-Wallfisch, Traute Lafrenz, Esther Bejarano, Saul Oren und Berthe Badehi sind nur einige der Holocaust-Überlebenden, die sich in der aktuellen politischen Lage an eine Zeit erinnert fühlen, in der man die Nazis gewähren ließ. Als erst die Grenzen des Sagbaren und anschließend die Grenzen des Machbaren verschoben wurden.

Das internationale Auschwitz Komitee hat bisher 174 (!) Pressemitteilungen und Meldungen zur AfD veröffentlicht, in denen es vor den Bestrebungen dieser Partei warnt. Die Gedenkstätte des KZ Buchenwald hat dem AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke Hausverbot erteilt und klargestellt, dass es hinsichtlich der AfD eine rote Linie ziehen müsse und nicht mehr mit AfD-Abgeordneten verkehren werde. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat, gemeinsam mit 41 weiteren jüdischen Institutionen, eine Erklärung verfasst, in der es heißt "Die AfD ist eine Partei, in der Judenhass und die Relativierung bis zur Leugnung der Schoa ein Zuhause haben" und "Die AfD ist eine Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland!"

80 Jahre nach dem Ausbruch der Reichspogromnacht warnen Holocaust-Überlebende und jüdische Institutionen vor einem Wiedererstarken des Faschismus' in Deutschland. Wissenschaftler und Medienvertreter ziehen direkte Parallelen zwischen NSDAP und AfD. Juden fühlen sich in Deutschland zunehmend bedroht, denken offen darüber nach, Deutschland zu verlassen, und müssen mit ansehen, wie täglich vier antisemitische Delikte begangen werden (im Übrigen fast ausschließlich von Rechtsextremen). Die Sprecherin des Bundesinnenministeriums kann die Frage, ob das Judentum zu Deutschland gehört, nicht abschließend beantworten, und jeder fünfte Deutsche möchte keine Juden in seiner Familie haben.

Man möchte aufschreien angesichts unserer fundamentalen Unfähigkeit unsere ureigene jüdische Bevölkerung vor Antisemitismus zu schützen und vor allen Judenhass zu bewahren. Was genau haben wir eigentlich in 73 Jahren Gedenken an Reichspogromnacht und Holocaust gelernt? Welche Lehren haben wir gezogen? Welche zivilgesellschaftliche Konsequenz hat unser "nie wieder", wenn wir es zulassen, dass eine zutiefst holocaustleugnende und antisemitische Partei in alle Parlamente dieses Landes gewählt wird?

Wir sind es den Opfern, den Überlebenden und den Hinterbliebenen des nationalsozialistischen Regimes schuldig, an diese Ereignisse zu erinnern und mit allen verfügbaren Kräften ein Wiedererstarken des Antisemitismus zu verhindern. Das sollte weder Schönwetterveranstaltung sein noch Sonntagsrede. Es ist nichts geringeres als unsere verdammte Pflicht!

Jan Fleischhauer schreibt in seiner aktuellen Kolumne: "Wer nur einen Bruchteil der Literatur über das "Dritte Reich" gelesen hat, weiß, dass es die Deutschen verdient gehabt hätten, bis ins vierte Glied verflucht zu sein. Stattdessen hat die Weltgemeinschaft sie schon nach wenigen Jahren wieder gnädig in ihrer Mitte aufgenommen, mit der großzügigen Billigung der Israelis."

Hoffen wir, dass die Weltgemeinschaft diesen Schritt niemals bereuen wird. Weder heute, noch in den kommenden 80 Jahren. Wir haben es in der Hand.