Rente: Sachverständigenrat mit radikalen Plänen gegen Jung und Alt
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1. Die Produktivität hat für den Sachverständigenrat keine Bedeutung:
Gemessen an Kennziffern wie dem Beitragssatz und dem Sicherungsniveau der Renten bleibt die finanzielle Anspannung der GRV bei einem höheren Produktivitätswachstum unverändert.
Gutachten S. 353
Die triviale Argumentation: Höhere Produktivität führt zu höheren Löhnen und damit zu höheren Renten wäre richtig, wenn es nicht die Dämpfungsfaktoren in der Rentenformel gäbe, welche die Renten von den Löhnen zunehmend abkoppelt.
Die fünf Weisen aus dem Ökonomenland stellen sich der entscheidenden Fragestellung einfach nicht: Entstehen durch die Produktivitätsentwicklung Umverteilungspotenziale, die Beiträge zu den wachsenden Rentenaufwendungen (Babyboomer) leisten können? Die Antwort wäre ein klares JA! Gewesen.
Würden in den kommenden 15 Jahren nur etwa 0,1 Prozent von den Reallohnsteigerungen zur Rentenfinanzierung abgezweigt, wären die Mehrbelastungen ohne Weiteres tragbar. 0,1 Prozent Rentenversicherungsbeitrag bringen rund 1,8 Milliarden Euro in die Rentenkasse.
Da bei der paritätischen Finanzierung die Firmen ebenfalls 0,1 Prozent mehr einzahlen müssten, kämen pro Jahr zusammen 3,6 Milliarden Euro mehr in den DRV-Haushalt. Nach 15 Jahren wäre der Mehrbetrag gegenüber heute dann auf 54 Milliarden Euro angewachsen.
Deutlich mehr, als die erwartbaren Mehrausgaben für die Babyboomer-Jahrgänge betragen würden (etwa 47 Milliarden Euro – gerechnet nach heutige Kaufkraft – siehe auch weiter unten und in diesem Artikel).
2. Nicht beitragsgedeckte Leistungen – Unterdeckung von 37 Milliarden Euro spielt keine Rolle. Zu den nicht beitragsgedeckten Leistungen (NBL) wird in dem Gutachten zwar ausführlich die Rechnungslegung der Deutschen Rentenversicherung wiedergegeben und erläutert.
Demnach wurden zum Beispiel im Jahr 2020 NBL in Höhe von 112 Milliarden Euro von der DRV ausbezahlt. Aus dem Bundeshaushalt wurden aber lediglich 75 Milliarden Euro als Bundeszuschuss überwiesen. Die DRV beanstandete eine Unterdeckung von 37 Milliarden Euro. Eine Summe, die nicht aus Steuern, sondern aus Beiträgen aufgebracht wurde.
Der Sachverständigenrat hat damit kein Problem:
Zudem begründet die nach der erweiterten Abgrenzung bestehende Unterdeckung von Fremdleistungen in der GRV nicht zwangsläufig eine deckungsgleiche Anhebung der Bundeszuschüsse. Alternativ könnte die Zweckmäßigkeit mancher NBL hinterfragt und diese gegebenenfalls reduziert oder abgeschafft werden.
Gutachten S. 296
Nichtbeachtung findet damit ein sozialpolitischer Skandal (siehe auch: "Sozialversicherungskassen bluten für die schwarze Null").
3. Das Mackenroth-Theorem, das die wissenschaftliche Grundlage für die Umstellung auf ein Umlagefinanzierungssystem im Jahr 1957 leistete, wird für hinfällig erklärt:
Diese statische, auf einer makroökonomischen ex-post-Gleichung für geschlossene Volkswirtschaften basierende Sicht ist im Hinblick auf Analysen zukünftiger Dynamiken (Anmerkung: gemeint ist, dass Kapitaldeckung über höhere Kapitalakkumulation zu einem höheren BIP in Zukunft führen könnte) jedoch inadäquat und ihre Anwendung auf offene Volkswirtschaften wie Deutschland falsch.
Gutachten S. 338
Hierzu hat Heiner Flassbeck eine überzeugende Entgegnung verfasst, die mit dem Resümee schließt:
Weil es den unbestreitbaren Zusammenhang zwischen Ausgaberückgang der privaten Haushalte aufgrund von Sparbemühungen und Gewinnreduktion der Unternehmen wegen entsprechenden Absatzrückgangs gibt, existiert kein Mechanismus, der größere Sparbemühungen der Privaten in einen Zuwachs des Kapitalstocks verwandelt.
Heiner Flassbeck
(Eine weitere Erläuterung: "Finanzierung einer Rentenreform – zu teuer? I wo!")
4. Den demografischen Prognosen wird Verlässlichkeit unterstellt.
Die demografische Entwicklung wird jedoch von sehr langfristigen Trends bestimmt und ist ein gut zu projizierender Prozess.
Gutachten S. 296
Und auf der Basis könnten Simulationsrechnungen bis zum Jahr 2080 "robuste" Ergebnisse liefern.
Merkwürdig nur, dass die Bevölkerungsvorausberechnungen seit mindestens 30 Jahren in erheblichen Maßen ständig nach oben korrigiert werden mussten. Die Kassandra-Rufe von der Unbezahlbarkeit der Renten für die zukünftigen Generationen sind darüber aber nicht verstummt.
Im Gegenteil: je kleiner das Problem wird, umso schriller die Töne und umso lauter die Forderungen nach reaktionären Eingriffen in das Rentensystem. (siehe auch: "Babyboomer lassen die Kosten explodieren? Das ist völliger Unfug!")
5. Historische Erfahrungen existieren für den Sachverständigenrat nicht. Empirie findet im Gutachten nicht statt. Diese auszublenden, ist schon bezeichnend. Empirische Untersuchungen liegen reichlich vor. Zum Beispiel diese der DRV aus dem Mai diesen Jahres:
Es ist allerdings nicht so, dass mit dem Renteneintritt der Babyboomer ein Belastungsanstieg einhergeht, wie ihn unsere Gesellschaft noch nie erlebt hat. Der bis 2040 zu erwartende Anstieg der demographischen Belastung ist nach der aktuellen Vorausberechnung keineswegs beispiellos.
Im Gegenteil: In der Vergangenheit hat die Bundesrepublik Deutschland bereits mehrfach vergleichbare Phasen erlebt – teilweise hat sich die demographische Belastung innerhalb von zwei Jahrzehnten sogar noch stärker erhöht als das für die Zeit von 2020 bis 2040 zu erwarten ist.
So ist der Altenquotient z. B. in der Zeit zwischen 1990 und 2010 von 22,9 [Schreibfehler, muss lauten 23,9] auf 33,8 gestiegen – also um 9,9 oder mehr als 40 Prozent! Und auch in den 20-Jahres-Zeiträumen zwischen 1995 und 2015 oder 1960 und 1980 war der Anstieg ähnlich hoch oder sogar höher als das, was nach der aktuellen Bevölkerungsvorausberechnung für die Zeit von 2020 bis 2040 zu erwarten ist.
Reinhold Thiede, Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung bei der DRV
Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass, obwohl der Altenquotient um mehr als 40 Prozent anstieg, der Beitragssatz auf 18,6 Prozent abgesenkt wurde (im Jahr 1998 20,4 Prozent). Das war der Beitragssatz, der zuletzt im Jahr 1985 erhoben wurde!
Noch aussagekräftiger als der Altenquotient ist die Heranziehung des "Rentnerquotienten". In ihm werden abgebildet, wie viele Standardbeitragszahler auf wie viele Standardrentner kommen. Auch hier könnten sich die Damen und Herren Sachverständige aus den Datensätzen der DRV bedienen, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Statt des tiefgreifenden Rentenkürzungsprogramms und dem riskanten Umbau der Umlagefinanzierung zur Aktienrente könnte man leicht auf folgende stabilisierende Maßnahmen kommen: Erhöhung der Erwerbstätigenquote; Abbau der Arbeitslosigkeit; Beseitigung der prekären Beschäftigungsverhältnisse mit deutlichen Einkommenssteigerungen; Einbeziehung der gut bezahlten Beschäftigten in das gesetzliche Rentensystem.
Grundsätzlich gilt aber: durch Produktivitätssteigerungen, die an die Löhne weitergegeben werden, entstehen die Verteilungsspielräume, die eine Finanzierung der Renten auch in der Zukunft beherrschbar machen (siehe oben).
Und die Mainstream-Medien versagen immer noch auf ganzer Linie
Die Götter, also der "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage", haben gesprochen und für das ARD-Marktmagazin mex ist es unverrückbare Wahrheit: "Die Rente ist in Gefahr", "so kann es nicht weitergehen mit der Rente" und "wir sind ein bisschen stolz, dass wir vorher schon mit ihnen darüber sprechen konnten".
Was dann folgt, sind sieben Minuten Propaganda für die neoliberalen Lösungskonzepte von Werding, Schnitzer und Co.
Keine kritische Nachfrage, keine abweichenden Standpunkte, nur Verkündung der reinen (neoliberalen) Lehre. Dieses Armutszeugnis des Journalismus muss wieder einmal dem meinungsbeherrschenden Mainstream verpasst werden.
Das Minderheitenvotum von Achim Truger, der an zahlreichen Stellen den Empfehlungen der Mehrheit widerspricht, wurde in der Berichterstattung völlig ignoriert. (Ein weiteres Beispiel für Medienversagen: "Blackout bei der Aktienrente - Hallo Journalisten, lebt ihr noch?")