Reputation ersetzt Beleg
Forscher beurteilen Studien mehr nach ihrer Herkunft als nach ihrem wissenschaftlichem Wert
Auch Wissenschaftler sind nur Menschen und vertrauen wie wir alle zuweilen auch mal nur dem Schein. Zu diesem Schluss kommen jetzt der Geologe Andrew D. Miall von der Universität von Toronto und seine Frau Charlene, Soziologin an der McMaster University in Ontario, in ihrer Veröffentlichung in der kommenden Frühjahrsausgabe von The Sociological Quarterly. Ihrer Erfahrung nach werden wissenschaftliche Arbeiten viel zu oft einfach akzeptiert, weil der Urheber auch in der Vergangenheit gute Arbeiten abgeliefert hat, in der Fachwelt schlichtweg als brillant gilt oder weil die Studie von einer angesehenen Universität oder anderen Institution kommt, aber nicht etwa, weil die vorliegende Arbeit an sich exzellent wäre.
Basis dieser Feststellung ist eine Theorie, die in den 70er Jahren von Peter Vail, einem bekannten Wissenschaftler des Ölkonzerns Exxon, aufgestellt und weltweit in der wissenschaftlichen Gemeinde schnell akzeptiert wurde, obwohl die der Studie zu Grunde liegenden Daten nie veröffentlicht wurden. Ein Vorgehen, dass von den Mialls schlichtweg als "Exxon-Faktor" benannt wird. "Jeder, auch ich, glaubte an diese Ergebnisse, die für eine ganze Weile das Denken in der Petroleumindustrie dominierte", erläutert Andrew Miall. Die beiden Wissenschaftler interviewten Duzende von Wissenschaftlern bei Exxon und auch außerhalb des Ölmultis, die sich mit der Forschung auf diesem Gebiet beschäftigen. Alle stimmten zu, dass die Theorie weltweit schnell Akzeptanz fand, einfach weil sie von Exxon stammte, dessen finanziell gut ausstaffierten Forschungsprogramme bekannt waren, auch wenn die Daten hinter der Theorie zurückgehalten wurden, was nicht weiter verwunderte, denn immerhin sollte die Konkurrenz nicht kostenlos auf die teuer erforschten Daten Einsicht nehmen.
Die Theorie basiert auf der Annahme, dass die Höhe des Meeresspiegels in der Vergangenheit Schwankungen unterworfen war. Stieg der Meeresspiegel, verschob sich das Ufer in Richtung des Landesinneren, sank der Meeresspiegel wieder, dann zog sich auch das Ufer wieder in Richtung Meer zurück. Dieser Zusammenhang ist besonders für das Auffinden von Öl interessant, denn Uferablagerungen formen Steine, die sich sehr gut als Ölreservoire eignen und begründet, warum die wichtigsten Ölfelder in jenen Gebieten liegen, die einst vom Meer bedeckt waren.
Allerdings ging der Exxon-Wissenschaftler davon aus, dass sich der Meeresspiegel überall auf der Welt gleichermaßen durch das Schmelzen und Wiedereinfrieren von Gletschereis verändert. Dies wiederum würde bedeuten, dass die Formation ölhaltiger Felsen weltweit einem einheitlichen Muster folgen würde. Weiß man also zum Beispiel, wann die ölreichen Küstengebiete von Texas entstanden sind, bräuchte man nur noch nach ähnlich alten Felsen Ausschau zu halten und fände auch dort Öl.
Die Theorie verbreitete sich in der Ölbranche wie ein Wildfeuer und auch Andrew Miall schrieb darüber. Später begannen jedoch die ersten Geologen an der Theorie zu zweifeln. Der Meeresspiegel würde sich nie weltweit in gleichem Maße verändern, weil die lokalen Gegebenheiten der Landschaft sich zum Teil stark unterscheiden, weiß Miall heute. Wenn die tektonischen Prozesse auf einem Kontinent die Berge schneller wachsen ließen als der Meeresspiegel steigen konnte, dann ist dieser Effekt hinfällig.
Was uns jedoch interessierte, ist die Tatsache, warum die wissenschaftlichen Grundsätze hier einfach nicht angewendet wurden. Letztendlich waren es die sozialen Faktoren um Exxon herum, der hervorragende Ruf der Forschungsabteilung und diese Ansammlung ansonsten streng geheimer Daten, die in dieser Studie, wenn auch nur als Ergebnis, bekannt wurden.
Charlene Miall
Keiner fragte daher, ob die bekanntermaßen brillanten Forscher bei Exxon falsch liegen könnten mit ihrer Theorie, da die Bewertung der Arbeit einfach nicht nach wissenschaftlichen Kriterien stattfand. Soziologen nennen dies "reputational capital" - erarbeitetes Renommee als Kapital für nachfolgende Arbeiten.
Auch wenn die Exxon-Diskussion Jahrzehnte alt ist, so betrachten die Mialls das Vorgehen von damals auch heute noch als sehr relevant und aktuell. So kam beispielweise das Datenmaterial zum amerikanischen Raketenabwehrsystem SDI, anhand derer unabhängige Wissenschaftler über das Funktionieren eines solchen Systems hätten entscheiden können und mit denen Politiker für das Durchsetzen der Pläne im politischen Lager und in der Bevölkerung für das umstrittene Projekt geworben haben, von Firmen, die von der Vergabe der Aufträge profitiert hätten. Auch die Konsumenten leiden unter dem Exxon-Faktor.
"Große Pharmafirmen führen Versuche für neue Medikamente in den eigenen Labors durch, in den Kliniken führen Mediziner Versuche am Menschen aufgrund dieser Laboruntersuchungen durch, und ebenso aufgrund der Firmenuntersuchungen wird ihnen von der Behörde die Zulassung für das Medikament erteilt."
Damit versinnbildlichen die Mialls, wie viel eigentlich in der heutigen Gesellschaft auf Vertrauensbasis geschieht. Wieviel dieses blinden Vertrauens jedoch einfach auf der Bequemlichkeit beruht, etwas nicht zu hinterfragen, können auch die beiden Wissenschaftler nicht beantworten.