Revolution, Diktatur und Verschwörung - die spirituelle Szene auf politischen (Ab-)Wegen
Seite 2: Parallelen zwischen damals und heute
Hitler hatte den Volksmassen versprochen, den Kampf gegen das Bürgertum und das Großkapital aufzunehmen. In "Mein Kampf" schreibt er: "Die bürgerlichen Parteien, wie sie sich selbst bezeichnen, werden niemals mehr die proletarischen Massen an ihr Lager fesseln, da sich hier zwei Welten gegenüberstehen." (zitiert nach Reich, 63) Die "bürgerlichen Parteien" heißen heute "Altparteien" oder "Mainstream". Heute spricht auch niemand mehr von "proletarischen Massen". Dies war damals in den 1920er- und 1930er-Jahren ein stehender Begriff, der von den marxistischen Bewegungen in die Diskussion eingeführt worden war. Hitler hatte sich den Begriff angeeignet.
Heute spricht man nur noch vom "Volk". Das "Volk" steht den "Herrschenden" oder der "Elite" diametral gegenüber. Dieser Begriff des Volks ist von den meisten Protestierenden aktuell nicht unmittelbar völkisch gedacht.16
Es ist eher ein diffuser Sammelbegriff für alle Menschen, die unten sind und mit ihrer Meinung grundsätzlich gegen das "System" sind. Der Begriff wird mythisch gebraucht, im Sinne der kleinen Leute, die sich ungerecht behandelt fühlen. Der Begriff wird nicht klassentheoretisch reflektiert. Man beruft sich auf ein Bauchgefühl, auch in nicht esoterisch ausgerichteten Kreisen der Neuen Rechten. Dieses Bauchgefühl ist für die New-Age-Bewegung anschlussfähig, die selbst sehr kritisch gegenüber dem Denken ist und das jeweils eigene Gefühl als Orientierung bevorzugt.
So wusste schon Hitler: "Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüchterne Überlegungen, viel mehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt. Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, sondern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht viel Differenzierungen, sondern ein positiv oder negativ, Liebe oder Hass, recht oder unrecht, Wahrheit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder teilweise usw." (Mein Kampf, S. 201, zitiert nach Reich, S. 85)
Auch wenn der Begriff des Volks in den heutigen Verschwörungserzählungen nicht unmittelbar nationalistisch oder rechts gedacht wird, lässt er sich doch auf geradem Wege damit verbinden. So sprach kürzlich ein unpolitischer Corona-Skeptiker von der "ethnischen Gruppe der Kleinunternehmer", die unter den Corona-Maßnahmen leide. Hier wird nicht das Volk ethnisch gedacht, was ja für einen nationalistischen Denker noch naheliegen würde.
Es ist viel schlimmer: Eine wirtschaftliche Klasse, das Kleinbürgertum, wird ethnisch definiert. Hier fehlt politisches Wissen. Stattdessen betrachtet man die Welt "ethnisch" und weitet dies sogar auf die Wirtschaft aus. Die Aussage des Corona-Skeptikers verweist auch auf den Kern dieser Bewegung. Sie ist kleinbürgerlich, d. h. der Klassenstandpunkt ist eigentlich ein bürgerlicher.17 Sie gehören zur herrschenden Klasse, sind aber unzufrieden, weil sie nicht genug vom Kuchen abbekommen. Ihr Interesse ist nicht eine proletarische Revolution, sondern die Suche nach einem neuen Führer und/oder einer spirituellen Erlösung. In einem Wahlaufruf der NSDAP zu den Reichspräsidentenwahlen 1932 schreibt Hitler:
Ich glaube, dass ein Volk zur Erhöhung seines Widerstandes nicht nur nach vernunftsmäßigen Gründen leben soll, sondern dass es auch eines geistigen und religiösen Haltes bedarf.
zitiert nach Reich, S. 96
Es stellt sich heute die Frage, ob es überhaupt noch eine proletarische Klasse gibt. Innerhalb Europas spielt sie keine große Rolle. Es gehören dazu z. B. Hilfsarbeiter, Pflegehelfer, einfache Arbeiter. Die Klasse muss vor allem im globalen Maßstab verstanden werden. Sie wird vornehmlich durch die Menschen in den Ländern des globalen Südens repräsentiert, während wir hier im Norden global gesehen die herrschende Klasse sind.
Es ist die Definition des Kleinbürgers, dass er etwas zu verlieren hat und dadurch reaktionär strukturiert ist. Sein Interesse ist die Erhaltung des Bestehenden, so wenig es auch sein mag. Das ist nicht die Haltung des Proletariats, das nichts außer seinen Fesseln zu verlieren hat. Aus diesem Versuch der Erhaltung des Bestehenden erwächst auch die Konkurrenz gegen andere und Fremde, die als Bedrohung des Eigenen wahrgenommen werden. Dem Kleinbürger/der Kleinbürgerin fehlt zudem die Erfahrung von Eigenmacht und Autonomie, wie sie eine großbürgerliche oder aristokratische Person subjektiv erlebt. Dies führt zu einer devoten Haltung nach oben den Autoritäten gegenüber18, die bei allerlei Gelegenheiten in eine emotionale Rebelliov umschlägt. Der eigene Autoritätskonflikt ist nicht gelöst. Man ist emotional und kognitiv von den Autoritäten abhängig, entweder affirmativ oder oppositionell. Ein Mensch, der seinen Autoritätskonflikt verarbeitet hat, muss nicht mehr emotional rebellieren. Die Auflehnung gegen die Autoritäten entspringt oft einer Manipulationserfahrung in der eigenen persönlichen Biografie, die irgendwann in der Vergangenheit traumatisch erlebt worden war. Der emotionale Affekt gegen die Herrschenden ist eine Übertragung der emotionalen Ladung dieser früheren traumatischen Erfahrung auf gegenwärtige Situationen.19 So gesehen wirkt Ken Jebsen wie ein kleiner Junge, der Angst vor seiner Mutter hat.
In der zeitgenössischen Darstellung der Situation 1933 durch Wilhelm Reich finden sich weitere interessante Übereinstimmungen zwischen dem Anfang der nationalsozialistischen Bewegung und heute: "In der Propaganda der NSDAP spielte der Kampf gegen die großen Kaufhäuser eine große Rolle." (72) Früher war es z. B. Woolworth, heute ist es die Übermacht von Amazon, Google, Facebook, Bill Gates u. a., die die Kleinbürger auf den Plan ruft. Hitler sagte dazu in einem Gespräch mit dem amerikanischen Politiker Knickerbocker: "Wir werden die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht von einem Kramladen abhängig machen (gemeint war das Schicksal von Woolworth in Berlin) … Die Existenz derartiger Unternehmungen bedeutet eine Förderung des Bolschewismus … Sie zerstören viele kleine Existenzen." (72f.) In einer Fußnote bemerkt Wilhelm Reich, dass nach der Machtergreifung in den Monaten März und April ein Massensturm auf die Kaufhäuser einsetzte, der aber von der Führung der NSDAP sehr bald unterbunden wurde (vgl. S. 73)20. Nach der Machtergreifung änderte sich der Ton und die wahren Absichten kamen zum Vorschein.
"Das Kleinbürgertum rebellierte also 'gegen das System', worunter es die marxistische Herrschaft der Sozialdemokratie verstand." (73) Heute nennen die Rechtspopulisten die liberalen und sozialdemokratischen Vertreter des "Systems" die "Linksfaschisten" oder die "links-grün Versifften". Von ultrarechts außen erscheint Merkel, bisher Vertreterin der konservativen bis rechten CDU, als linke Politikerin. Hauptangriffsziel der aktuellen Widerstandsbewegung ist allgemein das "System", das als "dystopisch und totalitär", mitunter auch als "faschistisch" eingestuft wird. Hitler und die Nationalsozialisten positionierten sich sowohl gegen die Kapitalisten21 als auch gegen die Marxisten. Diese Ablehnung des Kapitalismus wie auch des Marxismus ist die Position der rechten Ideologie.22 Auch der heutige diffuse "demokratische Widerstand" findet seine Hauptmotivation im Kampf gegen den Kapitalismus und das System als Ganzes, das pauschal als verlogen und diktatorisch gelesen wird. Gleichzeitig protestieren sie gegen den "linken Mainstream". Sie sind also gegen den Kapitalismus und gegen die Linke. Die Linke und die Antifa tun indes durch ihre ebenso demagogischen Pauschalisierungen und ihr aggressives Auftreten alles, um dieses Vorurteil und den Graben zwischen den Systemkritikern und ihnen noch zu vertiefen.
Die neuartige Qualität gegenüber der historischen NS-Bewegung ist, dass die rechten Systemkritiker den Begriff "Faschismus" als eigenen Kampfbegriff gegen ihre Gegner benutzen. Dies ist jedoch nicht weiter verwunderlich, sondern eigentlich sogar logisch. Die ideologische Verdrehung und der Missbrauch von Wahrheit für die eigene Ideologie verwenden jeden Begriff demagogisch und sie springen natürlich genau auf die Begriffe auf, die die meiste Ladung haben. Der demagogische Missbrauch des Begriffs "Faschismus" soll den Gegner diffamieren, ist eine Retourkutsche gegen den Faschismusvorwurf vonseiten der Linken und bewirkt en passant noch eine Verharmlosung des historischen Faschismus, wenn nun eine einfache linksliberale Politik schon "faschistisch" sein soll. Die inflationäre Verwendung des Begriffs verwässert ihn - teilweise auch aufseiten der Linken und der Antifa.
Eine sehr aufschlussreiche und authentische Quelle zu den Überzeugungen früher Nazis sind die Originalinterviews des US-Soziologen Theodore Abel, der im Sommer 1933 unter Mitgliedern der NSDAP die Frage stellte, warum sie in die Partei eingetreten seien. Hier der Bericht eines NS-Mitglieds der frühen Stunde, Heinrich Dörnhaus23:
Ich besuchte Wahlversammlungen, an denen es in der 'Systemzeit' nie fehlte. Vor der Landtagswahl 1929 besuchte ich an einem Abend der Reihe nach folgende drei Wahlversammlungen: eine Deutschnationale, eine Zentrumsversammlung und eine der NSDAP. Die Redner der beiden ersten Versammlungen brachten die üblichen schönen Worte und Erläuterungen zu ihrem Programm. Von einem greifbaren Vorschlag, wie wir aus unserem Elend herauskommen und wieder als Volk zu Ehren kommen könnten, hörte ich nichts. Ganz anders bei dem Redner der neuen Bewegung. An ihm packte mich nicht nur sein temperamentvoller Vortrag, sondern sein aufrichtiges Bekenntnis zum deutschen Volk als Ganzes, dessen größtes Unglück die Zersplitterung in Parteien und Klassen sei. Endlich ein praktischer Vorschlag zur Erneuerung des Volkes. Zerstörung der Parteien! Weg mit den Klassen! Wahre Volksgenossenschaft! Das sind Ziele, für die ich mich restlos einsetzen konnte. Noch an demselben Abend war mir klar, wohin ich gehörte: zur neuen Bewegung. Von ihr allein konnte ich die Rettung des deutschen Vaterlandes erhoffen. Ich trat also in die Hitler-Jugend ein.
Man erkennt hier dieses Narrativ von der mutmaßlichen Spaltung des Volkes durch die Gegner, das auch heute ein beliebtes Thema der Widerstandsbewegung ist. Man hört ständig, dass wir uns nicht spalten lassen sollen. Das Volk wird als eine Einheit gesehen, das Volk als Ganzes, ohne demokratisch-kontroverse Debatte, ohne Parteien und ohne Klassen.
Das größte Unglück soll damals die Zersplitterung in Parteien und Klassen gewesen sein. Heute wehrt man sich gegen die Unterscheidung in rechts und links und sieht sich als Volksganzes, das der herrschenden Elite entgegensteht.
Diese Sichtweise entbehrt einer objektiven politischen Theorie und fördert das rechts-nationale, mythische Theorem, wie es bei Dörnhaus zum Ausdruck kommt. Sie appelliert an Gefühle der Einengung und der Angst und betrachtet das Volk als Schicksalsgemeinschaft, die von Kapitalisten und Diktaturen bedroht ist. Den Feind nennt Dörnhaus damals die "Systemparteien", so spricht er in dem obigen Zitat auch von der "Systemzeit", womit im Nazi-Jargon die Zeit der Weimarer Republik gemeint war, als man noch im verhassten "System" lebte.24
Der gleiche Topos findet sich heute in der sogenannten Widerstandsbewegung. Man bevorzugt heute zwar den Begriff "Mainstream-Parteien" oder "Altparteien" gegenüber "Systemparteien", die grundsätzliche Ablehnung des "Systems" ist aber in gleicher Weise das tragende Motiv.
Eine weitere Parallele zwischen der historischen NS-Bewegung und den aktuellen rechten Strömungen ist der Bezug auf spirituelle Werte. So sagt Hitler in "Mein Kampf": "Erst wenn der - politisch durch den organisierten Marxismus geführten - internationalen Weltanschauung eine ebenso einheitlich organisierte und geleitete völkische gegenübertritt, wird sich bei gleicher Kampfesenergie der Erfolg auf die Seite der ewigen Wahrheit schlagen." (zitiert nach Reich, 62) Die Wahrheit ist eine der höchsten spirituellen Kategorien, und gerade die "Wahrheit" ist eines der Hauptmotive der zeitgenössischen Systemkritiker, womit ihr Sendungsbewusstsein und ihre Legitimation über alles gestellt werden können.
Es war allerdings schon immer so, dass jeder die Wahrheit für sich gepachtet hat. Der Begriff der Wahrheit allein als ideologische Forderung bedeutet nicht nur nichts, es sollte sogar misstrauisch machen. Oft sind gerade diejenigen, die solche hohen Werte rhetorisch ständig im Munde führen, die gleichen, die sie missbrauchen. Echte Spiritualität wendet die Wahrheit an, aber posaunt sie nicht lauthals als Worthülse heraus oder benutzt sie als Kampfbegriff, um die Gegner der Lüge zu bezichtigen. Die Wahrheit ist ein philosophisch sehr anspruchsvolles Motiv. Hannah Arendt hat gezeigt, dass Wahrheit und Politik sehr verschiedene Dinge sind.25