Revolution, Diktatur und Verschwörung - die spirituelle Szene auf politischen (Ab-)Wegen

Seite 4: Faschismus und Religion

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Reich beschreibt in seinem Buch die Herleitung der Religion aus der sexuellen Unterdrückung. Er vertritt hier eine durchaus starke These, die näherer Diskussion bedarf. Für die vorliegende Untersuchung sei sie jedoch zunächst als solche akzeptiert, um den Argumentationsgang unserer Analyse zu verdeutlichen, die einen anderen thematischen Schwerpunkt hat.

Die Hauptthese seines Buches bzw. überhaupt seiner psychologischen Forschung besagt, dass durch die Unterdrückung der Sexualität eine Kontrolle über die wirtschaftliche Situation der Menschen im Sinne des Kapitalismus ausgeübt werden kann. Die Organisation des Privateigentums braucht die feste Bindung zwischen Frauen und Männern, um die Nachkommen klar dem Besitz zuordnen und diesen vererben zu können. Sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit würden diese feste Bindung unterwandern. Die erste Instanz, um die sexuelle Hemmung und die sozialökonomische Anpassung an die bürgerliche kapitalistische Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, sei die Familie. Die zweite Instanz sei die Religion.

"Die ständige Spannung im psychophysischen Apparat bildet die Grundlage zunächst von Tagträumerei beim Kleinkind und Puberilen, die sich besonders leicht in mystisches, sentimentales und religiöses Empfinden umsetzen und fortsetzen kann." Reichs Beobachtung kann man auch als minutiöse Schilderung eines beginnenden Suchtprozesses lesen. Die ständige Spannung im psycho-physischen Apparat entsteht durch die sexuelle Hemmung, die unbewussten Schuldgefühle und die sexuelle Angst. Der Verzicht auf die Sexualität und die Angst- und Schuldgefühle werden durch Tagträumereien oder Fantasien kompensiert. Dies ist bereits eine erste Abspaltung, eine erste Dissoziation von der Realität des eigenen psycho-physischen persönlichen Erlebens wie auch von der Außenwelt. Man begibt sich in einen abgespaltenen, sich in sich selbst drehenden mentalen Raum. Dies ist sehr schmerzhaft für die Seele. In späteren Jahren bei entwickelter Sexualreife wird der Mensch die Sexualität süchtig betreiben. Die Sucht drückt sich entweder in übermäßiger Ausschweifung oder in rigidem Verzicht aus.

Die sexuelle Hemmung bewirkt laut Reich, dass das Kind "mystische Einflüsse des Nationalismus, der Religion, des Aberglaubens jeder Art geradezu aufsaugen muss" (ebd.). Ich möchte dazu bemerken, das Reich meines Erachtens die Begriffe "mystisch" und "mythisch" verwechselt. Was sich als kontraproduktiv für ein freies Bewusstsein erweist, ist das mythische Denken, wie es eben auch heute aktuell in den Verschwörungsmythen zum Ausdruck kommt.

"Mythos" bedeutet eine Art schicksalsgegebene, idealistische Vorstellung von Einheit, Energie, Bedeutung einer bestimmten Sache. Beispielsweise kann die Vorstellung von "Volk" mythisch sein, nämlich eine schicksalhafte oder gottgegebene, durch Blutsverwandtschaft und geografische Herkunft ("Blut und Boden") begründete Gemeinschaft, die durch Affekte und sentimentale Vorstellungen getragen wird.29 Hier zeigt sich auch die unheilvolle Nähe von Mythos und Gefühl.

Obwohl weder das Gefühl an sich noch das religiöse Gefühl zwingend zu einem mythischen Bewusstsein führen, aus dem dann nationalistische oder abergläubische Konstrukte entstehen, kann dies dennoch sehr leicht passieren, wenn nicht eine aufgeklärte und vernünftige Denkleistung dazwischengeschaltet ist. Genauso wie die Abspaltung des Denkens vom Fühlen ungesund ist, so ist auch die Abspaltung des Fühlens vom Denken ungesund.

"Mystik" hingegen bezeichnet das innerste Wissen der Religion, mithin den spirituellen Kern der menschlichen Weisheit, ein ewiges Wissen der Wahrheit, das über alle parteilichen oder ego-getriebenen Meinungen hinausgeht. Mystisches Wissen beruht immer auf der eigenen spirituellen Erfahrung und nicht auf nachgebeteten Aussagen anderer.

Mystik kann in Mythos umschlagen, klassischerweise dann, wenn aus der authentisch gelebten und erlebten spirituellen, d. h. mystischen Erfahrung ein Dogma wird. Ein Dogma ist eine nicht gelebte mentale Konstruktion, die bestenfalls eine Kopie einer einmal erlebten spirituellen Erfahrung darstellt. Der Vorteil des Dogmas ist seine Tradierbarkeit. Das Dogma kann an Nachfolger und Anhänger weitergegeben werden, was zur Stabilisierung einer religiösen oder politischen Bewegung beiträgt. Aus dieser Stabilisierung geht die Institutionalisierung der Bewegung hervor.

Auch das Prinzip der Institution ist nicht per se schlecht. Die Institution ist eine notwendige materielle Form für den Geist/Spirit, um Gruppen und Kollektive zu organisieren. Sie wird jedoch kontraproduktiv, wenn der innere Spirit verloren geht und nur noch die äußere Form weiter existiert. Führendes Prinzip ist immer der Spirit und nicht die Form. Dies ist wie bei einem Fluss mit seinem Flussbett. Der Fluss erschafft das Flussbett, nicht umgekehrt. Der Versuch, vom Ufer aus den Fluss zu regulieren, führt zu Gewalt gegen den Fluss und Widerstand des Flusses gegen diese aufgezwungene Bewegung. Die Regulierung eines Flusses sollte deshalb immer von der Fließbewegung selbst her erfolgen. Im menschlichen Sinne ist dies das authentische Gefühl.

Zurück zu Reich und seiner These, dass die sexuelle Hemmung über die Tagträumereien zu dem religiösen Mythenkomplex führt. Der erste Schritt seiner Argumentation ist seine These, dass Kapitalismus, Nationalismus und Faschismus ihre Fundierung in der Familie haben. Die kleinbürgerliche Produktions-Familie, z. B. bei Bauern, Handwerkern, Geschäften und Dienstleistungsbetrieben, bildet eine kleinkapitalistische ökonomische Einheit und führt zu Protektionismus und Isolationismus gegenüber anderen Familien, wie im großen Maßstab die kapitalistische Einheit der Nation zum nationalistischen Protektionismus und Isolationismus gegenüber anderen Nationen führt, also zu einer Feindseligkeit gegen andere Nationen sowie gegen den Internationalismus als Ganzes.

Wenn Bill Gates dafür eintritt, nationale Schranken aufzulockern und auf internationaler Ebene zusammenzuarbeiten, weil dadurch die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen besser genutzt werden können, um Bedrohungen der Menschheit durch eine Pandemie oder Bio-Terrorismus abzuwehren, sowie die afrikanischen Länder darin zu unterstützen, in der wirtschaftlichen Entwicklung aufzuschließen, wird das von nationalistischen und rechten Kräften als Bedrohung angesehen.

Auch das Konstrukt, dass eine globale Elite die ganze Menschheit mittels einer Diktatur versklaven möchte, ist nationalistisch motiviert, und es gibt dort eine, wenn nicht zwingende so doch homogene, Anschlussfähigkeit an die faschistische Denkweise. Während der linke Sozialismus vom Proletariat oder der Arbeiterklasse spricht, die eine internationale Solidarität impliziert, weil es in allen Völkern oder Nationen eine Arbeiterklasse gibt, spricht der rechte Sozialismus vom Volk, das gegen die Herrschenden steht. Die Identifizierung mit dem Volk erfolgt dann eher ethnisch-nationalistisch als klassentheoretisch.

Schöne Idee, aber passt hier nicht. Bild: Ronald Engert

So wie die Familie damit zu einem ideologischen Konstrukt wird, das den Nationalismus unterstützt, wird auch die Religion zu einer solchen Unterstützung des Nationalismus. Es muss wohl tatsächlich konstatiert werden, dass das religiöse Gefühl über die mythische Bewusstseinsstruktur in mythische Vorstellungen von Volk, Gemeinschaft, Rasse, Übermensch usw. führt.

Obwohl ich persönlich der Meinung bin, dass echte authentische Spiritualität emanzipativ ist und nationalistische und völkische Instinkte ausschließt, muss ich doch erkennen, dass die spirituelle Szene eine extrem hohe Affinität zu mythischen Bewusstseinsstrukturen hat. Diese sind prärational und nicht transrational. Der New-Age-Philosoph Ken Wilber nennt dies die "Prä-Trans-Verwechslung"30.

Im Zeitalter der Aufklärung, beginnend mit Descartes um 164031, wurden Vernunft und Rationalität gegen das mittelalterliche klerikale Weltbild gestellt, um "aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" (Immanuel Kant32) auszubrechen. Die Aufklärung und Rationalität mit ihrer Bezugnahme auf die eigene Vernunft als Gegenmittel gegen von oben verordnete religiöse Schicksalsmächte war damals ein Befreiungsschlag. Die heutige Ablehnung der Rationalität durch die spirituelle Szene führt laut Wilber nicht selten zu einem Rückfall in voraufklärerische, mythische Vorstellungen anstatt zu einer transzendenzoffenen Rationalität, die die Vernunft beibehält und transrational in die numinose Sphäre erweitert, d. h. Gott und/oder das spirituelle Selbst in das Denken integriert. Die prärationale Herangehensweise stellt eine anti-rationale Grundhaltung dar, die sich der Spiritualität auf mythische anstatt auf mystische Weise bedient.

Der Philosoph Ken Wilber entwickelte die Idee der "Prä-/ Transverwechslung". Bild: Ronald Engert

Wenn Reich aber die Religion und das religiöse Gefühl per se als Wegbereiter des Faschismus sieht33 (es sei an Marx‘ Ausspruch erinnert: "Die Religion ist Opium fürs Volk."), so ist dem meines Erachtens nicht zu folgen. Es muss die Unterscheidung in Mythos und Mystik eingeführt werden. Nur die mythische Religion, die aus den abgespaltenen Fantasien der Unterdrückungs- oder Misshandlungserfahrungen aus der Kindheit hervorgeht, führt in den Faschismus. Eine echte Mystik hingegen hat ihre Schattenarbeit getan. Es handelt sich bei der lebendigen Mystik nicht um ein moralisch-dogmatisches Gebilde, eine zwanghafte Ideologie, die ein durch Tabus und energetische Hemmungen verlorenes oder abgespaltenes energetisches Lebensgefühl kompensieren muss. Mystik beginnt erst dann, wenn der Mensch befreit ist.

Reich spricht selbst das Phänomen an: "Wir können hier noch nicht auf den naheliegenden Einwand eingehen, dass ja auch der sexualökonomisch lebende mutterrechtliche Primitive34 mystisch fühle." (195) Dies betrifft also die Beobachtung, dass in indigenen Gruppen ohne Sexualunterdrückung die spirituelle Ausrichtung dennoch einen hohen Stellenwert hat. Reich führt das in diesem Buch nicht aus, weist aber an gleicher Stelle darauf hin, dass die Spiritualität der indigenen Gruppen, die matriarchal organisiert sind, "ursprünglich im Wesentlichen eine Religion der Sexualität war" (ebd.). Dies bedeutet, dass das religiöse Gefühl auch innerhalb einer befreiten Sexualökonomie nicht nur existiert, sondern dort auch die Fortsetzung der gesunden sexuellen Körperlichkeit und Emotionalität in die Weisheit ist. Wie einerseits im Faschismus das religiöse Gefühl der Gipfel der Pathologie ist, so ist andererseits im befreiten Bewusstsein das religiöse Gefühl der Gipfel der Gesundheit, mithin das vollständige Ziel der menschlichen Entwicklung. Dies ist echte Mystik.

Viele Vertreter der zeitgenössischen spirituellen Szene verwechseln dies. Sie sind ihrem Gefühl nach alles andere als rechts und fühlen sich nicht verstanden, wenn ihnen eine rechtsoffene Haltung unterstellt wird. Ihre mythische Herangehensweise an die Religion ist aber strukturell mit dem mythischen Denken eines Nationalismus verbunden. Gerade die Abkehr von Rationalität führt zu einer Verstärkung des sentimentalen und romantischen Elements, von dem auch das mythische Bewusstsein getragen ist. Das Problem des mythischen Denkens besteht eben gerade darin, dass die Errungenschaften der Aufklärung ausgesetzt sind.

Die wichtigste Errungenschaft der Aufklärung ist das wissenschaftlich-rationale Denken, das den Menschen vor den Fallstricken eines schicksalhaft mythisch denkenden Bewusstseins schützt, das z. B. in eine Schicksalsergebenheit führen kann, die reales Unrecht verschleiert (Karma) oder auch zu einem fanatischen Sendungsbewusstsein verleitet, das überall Verfolgung und Missgunst wittert - ganz abgesehen von der dualistischen Wirklichkeitskonstruktion Gut-Böse, die die Welt auf zwei gegensätzliche Pole aufspaltet. Die Aufklärung entstand als Revolution gegen die Herrschaft des Klerus, der seine vermeintlich von Gott gegebene Macht dazu ausnutzte, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Man beobachtet in der spirituellen Szene überall derartige abergläubischen Konstrukte, die auf naivem Glauben beruhen.

Wir erleben heute in der spirituellen Szene eine Verwechslung von prärationaler und transrationaler Bewusstseinslage. Durch die Ablehnung des Denkens und des rationalen Diskurses fallen viele spirituelle Menschen in die mythische, prärationale Bewusstseinslage zurück und pflegen ein Weltbild, in dem Gut und Böse ganz scharf binär geschieden sind. Es gibt die guten Kräfte des Lichts und die bösen dämonischen Kräfte des Satans. Man wähnt sich natürlich auf der Seite des Lichts. Der Staat und die Regierung wiederum gehören zu den bösen Mächten, die dann gern auch die Behauptung über sich ergehen lassen müssen, Satanisten zu sein, wie dies die immer mehr Verbreitung findende Verschwörungsideologie von QAnon behauptet.35

QAnon-Anhänger ("Q" an der Haarspange bzw. Hut). Bilder: Ronald Engert

Die Kräfte des Lichts haben natürlich die Wahrheit auf ihrer Seite, und die andere, die dämonische Seite steht dann für die Lüge und den "Verrat am Volk". Das, was passiert, wird nicht mehr vernünftig oder rational erklärt, sondern geht als geheime Verabredung, absichtlicher Vorwand, perfider Plan hinter den Kulissen - kurz: Verschwörung - in die Erklärung ein. Wenn das, was die Regierung und die Mainstream-Presse sagen, gelogen ist, dann muss dahinter eine Verabredung stecken. Derartige einfache Erklärungen verleihen ein Sicherheitsgefühl angesichts unklarer oder unsichtbarer Bedrohungen, wie sie z. B. ein Virus darstellt.

Die Wirklichkeit ist allerdings genau anders. Niemand anders als Hitler hat uns die treffenden Worte an die Hand gegeben, die weiter oben bereits zitiert wurden: "Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüchterne Überlegungen, viel mehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt. Diese Empfindung aber ist nicht kompliziert, sondern sehr einfach und geschlossen. Es gibt hier nicht viel Differenzierungen, sondern ein positiv oder negativ, Liebe oder Hass, recht oder unrecht, Wahrheit oder Lüge, niemals aber halb so und halb so oder teilweise usw." (Mein Kampf, S. 201, zitiert nach Reich, 85)

Die Wirklichkeit ist "halb so und halb so oder teilweise", sie ist fast niemals eindeutig Entweder-oder. Die Wirklichkeit ist komplex, vielgestaltig, dialektisch, und manches kann man nicht kontrollieren. Niemand hat sich das Virus gewünscht. Es ist verführerisch, zu denken, es existiere überhaupt nicht oder sei harmlos. Wenn es aber nun harmlos ist und man ist endlich beruhigt, stellt sich die Frage: Warum diese drastischen Maßnahmen des Lockdowns? Dann bleibt nur noch die eine Antwort: die absichtliche und böswillige Verabredung der Herrschenden. Die andere Antwort - dass das Virus gefährlich ist und die Maßnahmen richtig sind - ist sehr einfach und einleuchtend, aber unbequem. Dann muss man sich den Maßnahmen fügen und sogar noch zugestehen, dass unser politisches System nicht per se böse ist und vielleicht sogar gut funktioniert. Das scheint für manche Menschen so schwierig zu sein, dass sie lieber hoch umständliche und hoch spekulative Verschwörungsnarrative aufbieten. Das ist der eigentliche Hype und die eigentliche Angstmaschine. Sollte es eine solche geheime Verabredung zwischen Regierungen, Konzernen, Wissenschaft und Presse geben, und noch dazu weltweit, so wäre dies meines Erachtens wesentlich angsteinflößender als so ein Virus.


Ronald Engert, geb. 1961, studierte von 1982-88 Germanistik und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. 1992-1996 Mitarbeiter im Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main. 1994 gründete er zusammen mit Marcus Schmieke die Zeitschrift "Tattva Viveka. Forum für Wissenschaft, Philosophie und spirituelle Kultur", seit 1996 alleiniger Herausgeber und Chefredakteur. Ab 2015 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, B.A. 2017, seitdem im Masterstudium.
Kontakt: ron@tattva.de