Revolution in Russland?
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Die Erhöhung des Rentenalters hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Putins Silvester-Ansprache folgte ein Proteststurm im Internet
Lange, so schien es, hatten die Russen wirklich Angst vor Demonstrationen oder hielten sie für sinnlos. Was in der Ukraine passierte und passiert. ist für die Russen auch weiterhin abschreckend, die Verarmung der Ukraine, die Schließungen von zu Sowjetzeiten gebauten Fabriken wie den Antonow-Flugzeugwerken, die militärischen Angriffe auf die "Volksrepubliken" und die Instrumentalisierung der ukrainischen Kirchen für die Machtsicherung des Präsidenten Petro Poroschenko. Über all das wird in den russischen Medien ausführlich berichtet.
Doch ist die Kritik an der Situation in Russland dadurch verstummt? Nein. Sie nimmt immer mehr zu. Wegen der Erhöhung des Renteneintrittsalters sank die Popularität von Wladimir Putin nach einer im November 2018 durchgeführten Umfrage des Lewada-Zentrums innerhalb eines Jahres von 59 auf 39 Prozent. Parallel nahm im vergangenen Jahr die Sowjetunion-Nostalgie zu. Während 2017 58 Prozent der Russen die Auflösung der Sowjetunion bedauerten, waren es 2018 schon 66 Prozent. Putin, der sich in umstrittenen innenpolitischen Fragen sonst häufig im Hintergrund hält, trug die Argumente für die Rentenreform selbst öffentlich vor. Das wirkte fast selbstmörderisch.
Wie stark das Image des Präsidenten gelitten hat wurde an den Reaktionen auf seiner Neujahrs-Ansprache im Fernsehen deutlich. Der Fernsehkanal "Rossija 1" deaktivierte bei der Putin-Neujahrsansprache die Funktion "Kommentare". Wegen der massiven und zum Teil sehr aggressiven Kommentaren blockierte der Fernsehkanal "Erster" die Ansprache des Präsidenten auf YouTube. Die offizielle Begründung für die Blockierung war eine angebliche Beschwerde wegen der Verletzung des Urheberrechts.
Ein Blogger, der die Rede vor der Blockierung aufgezeichnet hatte, meinte anhand der Aufzeichnung nachweisen zu können, dass es zu der Rede im "Ersten" 11.000 Likes und 64.000 Dislikes gab.
Die zahlreichen Anti-Putin-Blogger, die meist den gleichen Tonfall wie der Oppositionsführer Aleksej Navalny anschlagen, feierten bei YouTube Triumphe. Zur Neujahrsansprache des Präsidenten erschienen massenweise Videos mit ironisch-gehässigen Titeln wie "Das reale Rating", "Großvater, geh in die Rente" (1,2 Millionen Clicks) oder "Putin schändete das Neue Jahr" (3,7 Millionen Clicks). Je aggressiver im Ton, desto mehr Clicks.
Im Zentrum die Putin-Ansprache: Die russische Familie
Wie schon im Jahr zuvor sprach Putin in seiner auf verschiedenen Fernsehkanälen übertragenen Neujahrs-Ansprache vor allem über die wichtige Rolle der Familie und die Hoffnungen, die mit dem Neuen Jahr verbunden sind. Über Politik sprach er nur am Rande.
Vor uns liegt die Lösung nicht weniger, dringender Aufgaben in der Wirtschaft, der Wissenschaft und bei den Technologien, in der Gesundheitsversorgung, der Bildung und der Kultur. Das Wichtigste ist, Schritt für Schritt die Erhöhung unseres Wohlstands und der Lebensqualität zu erreichen, damit die Bürger Russlands, jeder von uns im beginnenden Jahr Änderungen zum Besseren spürt.
Wladimir Putin
Die Änderungen zum Besseren sind aber bisher nicht in Sicht, was bei vielen Bürgern Frust auslöst. Der Ölpreis ist auf unter 50 Dollar gesunken, wodurch der Spielraum der russischen Regierung enger wird. Die Regierung hat den Unternehmen versprochen, wirtschaftliche Schäden, die durch die westlichen Sanktionen entstehen, zu kompensieren. Die Regierung braucht offenbar dringend Geld. Linke Kritiker meinen, sie hole es sich jetzt bei der Bevölkerung.
Was die Menschen an Putin schätzten, war vor allem Stabilität. Doch die kann der Präsident nur noch eingeschränkt garantieren. Die Einkünfte der Bürger fallen seit fünf Jahren in Folge. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums zu den Aussichten auf 2019 schließen 57 Prozent der Befragten eine Wirtschaftskrise nicht aus. 44 Prozent rechnen mit Massenentlassungen.
Die maue wirtschaftliche Lage hat schon Auswirkungen auf die Geburtenrate. Das erste Mal seit acht Jahren geht die Geburtenrate wieder zurück. 2018 wurden in Russland 13 Prozent weniger Bürger geboren als starben.
Zu den Krisenerscheinungen gehören auch eine zunehmende Verrohung im politischen Leben. Der Leiter der Nationalgarde "Rosgwardia", Viktor Solotow, forderte den Oppositionellen Aleksej Nawalny in einem Video zum Duell heraus, nachdem dieser ihm den überteuerten Einkauf von Lebensmitteln für die 350.000 Rosgwardia-Mitarbeiter vorgeworfen hatte.
Neue Belastungen kommen auf die Russen zu
Am 1. Januar beginnt die schrittweise Umsetzung der Rentenreform. Bis 2023 wird das Renteneintrittsalter jährlich um ein Jahr erhöht. Ab 2023 müssen Männer dann mit 65 (statt mit 60) und Frauen mit 60 (statt mit 55 Jahren) in Rente gehen.
Wladimir Putin hatte 2015 erklärt, die Zeit für eine Erhöhung des Renteneintrittsalters sei "noch nicht gekommen". Warum diese Zeit gerade jetzt gekommen ist, wo gut bezahlte Arbeitsplätze rarer werden, ist ein Rätsel. Die Bekanntgabe der Rentenreform am 16. Juni 2018 erfolgte drei Monate, nachdem Putin mit dem Spitzenergebnis von 76 Prozent der Stimmen für eine vierte Amtszeit zum Präsidenten gewählt worden war. Viele Menschen hätten wohl für Oppositionskandidaten gestimmt, wenn sie gewusst hätten, dass Putin der Rentenreform nun doch zustimmt.
Ab dem 1. Januar steigt die Mehrwertsteuer um zwei Prozent auf 20 Prozent. Ausgenommen von der Erhöhung sind Lebensmittel (außer Luxuswaren) Medizin, Bücher sowie Lehr- und Lernmittel.
Die Wohnungsbetriebskosten werden in diesem Jahr in zwei Stufen um 1,7 und 2,4 Prozent erhöht. Das entspricht in der Summe der einmaligen Erhöhung im Vorjahr.
In Moskau, dem Gebiet Kaluga und Tatarstan startet ein Pilotprojekt. Freischaffende, die ohne Angestellte arbeiten und Waren oder Dienstleistungen verkaufen, müssen sechs Prozent Steuern zahlen. Früher blieben die Einkünfte dieser Freischaffenden - weil schwer zu kontrollieren - meist unversteuert. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds werden 34 Prozent des russischen Bruttoinlandprodukts in der Schattenwirtschaft erzeugt. 36 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung zahlen keine Steuern. Der Staat ist hier also auf eine Goldader gestoßen, macht sich aber beim Abbau dieses "Goldes" keine Freunde. Betroffen sind oft Personen, die nur zeitweise beschäftigt sind.
Das Unglück von Magnitogorsk
Vielleicht war es auch der teilweise Einsturz eines Wohnhauses in Magnitogorsk, der viele Menschen am Tag vor dem Neuen Jahr erboste. Im Westen bekommt man es nicht mit oder vergisst es wieder: In Russland hat es in den letzten Jahren zahlreiche Gas-Explosionen in Wohnhäusern gegeben. Der Kommersant veröffentlichte eine ganze Liste derartiger Unglücke.
Das letzte große Unglück vor Magnitogorsk ereignete sich im November 2017 in der Stadt Ischewsk. Am 7. November 2017 stürzte in der Stadt wegen einer Gasexplosion ein mehrstöckiger Plattenbau teilweise ein. Sieben Menschen starben.
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass große Teile der Infrastruktur in Russland noch aus der Sowjetzeit stammen und eigentlich schon längst hätten erneuert oder ausgewechselt werden müssen. Und es wird deutlich, dass die Infrastruktur nicht ausreichend überwacht wird.
Ein weiterer kritischer Bereich sind die Brände in Altersheimen , die es in den letzten 15 Jahren gab. Die Altersheime befinden sind oft in Holzhäusern am Rande von Städten und Dörfern. Die Feuerschutzanlagen funktionieren oft nicht. Große Unglücke gab es auch im Freizeitbereich:
- Am 25. März 2018 kam es in einem Einkaufs- und Vergnügungszentrum in der Bergbau-Stadt Kemerowo in Sibirien zu einem Brand. 60 Menschen, darunter 41 Kinder, starben. Die Brandschutzeinrichtungen arbeiteten nicht ordnungsgemäß.
- Am 10. Juli 2011 sank auf der Wolga das Ausflugsschiff Bulgaria. Das 1955 gebaute Schiff war veraltet und lief bereits mit Schlagseite aus. 122 Menschen ertranken.
- Am 5. Dezember 2009 starben bei einem Brand in dem Nachtklub "Lahme Ente" in Perm 156 Menschen.
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