Rezept für ein Monster

"Hannibal Rising": Ein Alb, von dem niemand träumt

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Man hat es ja geahnt, dass der Mann kein Amerikaner sein kann. Dafür war er schon immer zu kultiviert. Mit seiner Vorliebe für klassische Malerei an der Zellenwand, für die Goldberg-Variationen zum Polizistenmord und einen guten Rotwein zur Volkszählerleber. Hannibal "The Cannibal" Lecter ist der Gourmet unter den Menschenfressern, unter den Bösewichten ein Bollwerk gegen den Bildungsverfall. Und was in ein paar Rückblenden inmitten von "Hannibal" angedeutet wurde, ist jetzt amtlich: Er ist ein Spross des Alten Europa.

Woher hat der gute Doktor seinen Bildungshunger und Appetit auf Menschenfleisch? Was machte den Mann zum Monster? Fragen, auf die Thomas Harris nun eher unaufgefordert Antwort gibt. Spöttisch könnte man diese zusammenfassen: Er hatte eine schwere Kindheit. Aber letztlich enthält Harris sich in seinem neuen Roman "Hannibal Rising" genau einer solchen rein psychologischen Erklärung, ebenso wie all der hirnphysiologischen oder sonstwie rationalen Thesen, wie sie die Profiler und FBI-Experten, die Helden seiner früheren Romane entwickelten.

In den entscheidenden Momenten bleibt Hannibals Maske der Gefühllosigkeit undurchdringlich, der Mann eine Gestalt der Mythen. Hannibal Lecter ist kein Jame "Buffalo Bill" Gumb, kein Serienkiller von dieser Welt - und "Hannibal Rising" eine Ursprungs-Legende, kein Gerichtsgutachten.

Das Schweigen der Lämmer

Harris hat mit "The Silence of the Lambs" 1988 einen der zentralen, definierenden Texte des Serienkiller-Genres vorgelegt, das er sieben Jahre zuvor schon mit "Red Dragon" erkundet hatte. Danach machte Harris sich prompt rar, überließ das Feld anderen, und kehrte erst zurück, als es reichlich abgegrast war. Was Dracula und Frankenstein für die Depressionszeit waren, das waren die Serienkiller für die späten '80er, frühen '90er: Die perfekten Monster, die Personifizierung der kollektiven Alb-/Träume. Mobil und bindungslos, emotionsfrei und triebgesteuert, dem Gesetz des "Mehr und mehr und mehr" verpflichtet.

Theater der Grausamkeiten

Spätestens Bret Easton Ellis' diamantharte Satire "American Psycho" hat endgültig explizit gemacht, wie eng diese Popkultur-Schreckensfiguren mit der Reagan-Ära verknüpft waren. Und danach hatte sich das Motiv auch weitgehend überlebt. Es ist kein Zufall, dass die einst großen Namen des Genres entweder sich längst vom thematisch begrenzten Totenacker gemacht haben, beispielsweise James Ellroy der Gesellschaft nun Panorama-Zerrspiegel vorhält, die viel weiter und tiefer blicken lassen. Oder sie bei der unfreiwilligen Selbstparodie gelandet sind - hallo, Andrew Vachss.

Harris ist zu intelligent, um das nicht begriffen zu haben. Schon als er 1999 mit "Hannibal" auf die literarische Bühne zurückkehrte, war bei ihm alles ziemlich anders geworden. Vom US-Polizeiermittlungsthriller weg, war er zu einem fast surrealen, eher europäischen, dekadenten Theater der Grausamkeiten geschritten. Und dieser barock-bizarren Richtung bleibt Harris auch in seinem neuen Roman treu - nur wirft er wieder ein bisschen Bildungsbalast über Bord.

Hannibal Rising

"Hannibal Rising" knüpft - ein paar Details variierend - an die Rückblenden in Lecters Kindheit aus "Hannibal" an. Es ist eine längere Führung durch seinen mnemnotechnischen Palast der Erinnerung, den man im Vorgängerwerk schon vorübergehend betreten durfte - ein Blick auf Lecters Lehr- und Wanderjahre. Harris liefert die Vorgeschichte und die genaueren Umstände zum zentralen Trauma in Lecters Leben: Dem Tod seiner kleinen Schwester Mischa während des Zweiten Weltkriegs durch eine Bande verhungernder Marodeure, die sie wegen ihres Fleischs umbringen. In seiner ersten Hälfte, könnte man gar sagen, ist der Roman nur eine extrem expandierte Version dieser kurzen Einblicke, ist eine Art nachgereichte, ausufernde Fußnote zu "Hannibal".

Aber es geht Harris diesmal so wenig wie nie zuvor um Plot. Es geht ihm um eine genaue Zutatenliste, um ein Rezept für ein Monster. Er rührt sich seinen Lecter aus sehr bewusst gewählten Ingredenzien zusammen: Hannibal wächst auf einem Schloss in Osteuropa auf - ein gewisser transsylvanischer Graf lässt grüßen. Er bekommt seine erste Dosis klassischer Kulturunterweisung von einem jüdischen Gelehrten - schalom sagt der Golem. Später geht es in den Wald ums Schloss, wird er mit seiner kleinen Schwester eingesperrt, von den Bösen geprüft, ob die Kinder zum Verzehr fett genug sind - Hänsel und Gretel, die finstre Welt der romantischen Märchen hätte man als Vorbild auch erkannt, ohne dass tatsächlich "Ein Männlein steht im Walde" (aus Humperdincks unverwüstlicher Grimm-Veroperung) durch das Buch klänge. Als junger Medizinstudent geht Lecter später nach Paris - die Stadt des Phantoms der Oper. Und schließlich wird alles fein abgeschmeckt mit einem guten Schuss fernöstlicher Fremdheit: Sein Gefühl für Eleganz, Stil und Grausamkeit bekommt Hannibal von seiner japanischen Stiefmutter und Geliebten Lady Murasaki mit.

Hannibal Rising

Die elegante Reduziertheit japanischer Ästhetik scheint für Harris auch schriftstellerisch eine gewisse Leitlinie gewesen zu sein: Das Buch - ohnehin mehr dunkel-perverser Bildungsroman als Thriller - ist deutlich kompakter, dichter, geradliniger als seine Vorgänger, hat stilistisch noch merklich mehr literarische Ambitionen.

Lecter, die Popkultur-Ikone

Ähnlich wie in "Hannibal" ist aber gerade diese Bewusstheit des Stils und der kulturellen Anklänge auch ein bisschen Harris' Problem: Er konstruiert mehr, als dass er erzählt. Er bastelt viel, was für die Deutungsarbeit in Seminaren einiges hergibt, auf der Metabene gut zusammenpasst - was aber auf den simpleren Ebenen, an der Oberfläche des Lesens erheblich weniger stimmig und überzeugend wirkt. Und wo man einfach merkt: Große, bleibende Populärkultur läßt sich nicht konstruieren - man muss sie träumen, oder sie geschieht einfach.

Harris ist in dieser Hinsicht ein Zauberlehrling, ein Frankenstein: Einer, der sich vergeblich um Kontrolle bemüht über das, was er da einst ins Leben gerufen hat. Hannibal Lecter ist sein Geschöpf, aber er gehört und gehorcht nicht mehr wirklich ihm. Lecter, die Popkultur-Ikone, das faszinierende Monster, das sich in unser aller Köpfe festgesetzt hat, war sowieso nie ganz der Lecter Harris'.

Hannibal

Nicht "Red Dragon", nicht dessen erste Kinoadaption MANHUNTER von Michael Mann 1986 mit Brian Cox als Hannibal, und noch nicht einmal "The Silence of the Lambs", der Roman, hatten gereicht, um den Kannibalen zur kollektiven Albtraumgestalt zu machen. Erst mit Jonathan Demmes kongenialer Verfilmung und der Darstellung durch Anthony Hopkins kamen all die nie genau definierbaren Elemente zusammen, die es braucht, um die Barriere vom Kunstwerk zum Phänomen zu überwinden.

Anders als bei den anderen großen Monsterschöpfungen der Neuzeit - die ein diffuses Leben führen, als ungreifbares Ideal, das sich in unzähligen Varianten nur vorübergehend konkretisiert - blieb bei Lecter diese eine Version auch die einzig wirklich gültige. Nicht "Hannibal", der Roman, nicht dessen Kinoadaption von Ridley Scott, und erst recht nicht die epigonale RED DRAGON-Neuverfilmung 2002 des talentfreien Brett Ratner konnten daran etwas ändern. Lecter - der wahre Lecter - scheint eine Ikone, zu der sich nichts Wesentliches hinzumalen lässt, der keine entscheidenden Variationen abzugewinnen sind.

"Hannibal" - Buch wie Film - konnten sich dabei wenigstens noch auf die äußere Ähnlichkeit des Anti-Helden verlassen: Es war wenigstens der Hopkins-Hannibal. Dass jetzt für die schon im Februar weltweit anlaufende Kinoversion von "Hannibal Rising" (Regie: Peter Webber, Drehbuch: Thomas Harris selbst) naheliegenderweise ein anderer Schauspieler die (hier jugendliche) Titelrolle übernimmt, nämlich der Franzose Gaspard Ulliel, macht auch eins der Probleme des Romans deutlich: Bei allen Anknüpfungspunkten, und trotz des selben Namens - dieser Hannibal Lecter ist letztlich ein anderer als der, den wir alle kennen.

Der unlesbare Meisterleser

Man kriegt im Kopf den Brückenschlag von "Hannibal Rising" zu "Silence of the Lambs" nicht richtig hin - das bleiben zwei getrennte Welten, die sich weder in die Quere kommen, noch gegenseitig bereichern. Man kann dies, je nach Gusto, als eine Stärke oder Schwäche dieses Buchs auslegen: Dass es nichts tut, um das etablierte Bild Lecters anzukratzen oder gar zu ruinieren. Dass es dadurch aber auch wenig beiträgt, um seine mittlerweile schon klassischen Auftritte mit neuen Augen sehen zu lassen.

Blutmond (Red Dragon)

Was aber am meisten dazu beiträgt, dass "Hannibal Rising" sich wie eine hübsche Episode anfühlt statt wie ein vollgewichtiger Lecter-Roman: Hannibal, der Unheimliche, ist hier zu heimisch. Was ihm fehlt, sind weniger die Gegenspieler: Die schwesterleinverspeisenden Deserteure, an denen der jugendliche Lecter späte Rache übt, ein Pariser Polizist, der sich auf seine Fährte setzt, sind zwar tatsächlich kleine Herausforderungen im Vergleich zu Francis Dolarhyde, Will Graham, Jame Gumb, Clarice Starling und Mason Verger. Doch vor allem geht ihm ein Territorium, eine Kultur ab, an denen er sich reiben könnte. Lecter lebt, wie alle fiktionalen Schreckgestalten, von der Angst vor, aber auch der Faszination für das "Andere". "Hannibal Rising" ist, als würde man einen Roman über Dracula schreiben, der nie aus Transsylvanien herauskommt, nie Besuch aus London bekommt.

Lecter wird zum Monster nicht durch Kindheits-Traumata und nicht durch seine ersten Morde. Lecter wird in Wahrheit zum richtigen Monster erst durch den Kontext der USA.

Auch hier ist Harris zu intelligent, um das nicht zu realisieren - im Epilog (überhaupt dem stärksten Teil des Buchs) lässt er Hannibal diesen letzten, wichtigsten Schritt vollziehen. "America fascinated him. Such abundant heat and electricity. Such odd, wide cars. American faces, open but not innocent, readable," heißt es da. Zu wenig, zu spät, muss man aber leider sagen. Denn die Spannung von "Silence of the Lambs" (und in etwas geringerem Grad "Red Dragon") war ja auch immer die Spannung des Zusammentreffens von Lecters alteuropäischer Kultiviertheit, urbaner sophistication, klassischer Bildung und Verwurzeltheit mit Starlings und Gumbs amerikanischem Pragmatismus, ihrer Provinzialität. Des Zusammentreffens der offenen, aber nicht unschuldigen, lesbaren amerikanischen Gesichter mit dem ultimativen Maskenträger, dem radikal verschlossenen und unlesbaren Meisterleser Lecter (oder noch deutlicher "Lector", wie er in MANHUNTER heißt).

Eine Kultur braucht ihre Monster - aber die Monster brauchen auch ihre Kultur. Und ein Hannibal Lecter, der sein Amerika nicht hat, ist wie ein Alb, von dem niemand träumt.

Thomas Harris: "Hannibal Rising". 327 S., William Heinemann / Random House, £ 17,99. Deutsche Ausgabe: 352 S., Hoffmann und Campe, EUR19,95