Riskante Restlaufzeiten

Seite 2: Atomausstieg mit Fragezeichen

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Einen Grund dafür, nicht schneller aus der Kohle aussteigen zu wollen, sieht Altmaier in der Doppelbelastung von Atom- und Kohleausstieg. Über den Atomausstieg glauben die meisten Menschen ja, dass er in trockenen Tüchern ist und schrittweise bis zum Jahr 2022 vollzogen wird. Dabei gibt es jedoch gewisse Unwägbarkeiten. Ende 2016 hat das Bundesverfassungsgericht einzelne Regelungen zum Atomausstieg bemängelt und den Gesetzgeber zu einer Novelle des Atomgesetzes bis Sommer 2018 aufgefordert. Demnach hätte die Bundesregierung drei Möglichkeiten:

  1. eine Entschädigung der Kraftwerksbetreiber verbunden mit einer Stilllegung der entsprechenden Strommenge,
  2. eine Laufzeitverlängerung für einzelne AKW oder
  3. eine gesetzlichen Regelung zur Strommengenübertragung.

Nach Einschätzung des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) würden Entschädigungen gering ausfallen, da mit den AKW derzeit kaum Gewinne erzielt werden. Im Bundeswirtschaftsministerium werden aber scheinbar alle drei Varianten erwogen.

"Die Gefahr der Laufzeitverlängerung für einzelne AKW über 2022 hinaus ist real", meint auch der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Der BUND will aufgrund von akuten Sicherheitsbedenken das genaue Gegenteil erreichen, nämlich eine schnellere, besser noch eine sofortige Stilllegung. Dies ist das Fazit aus der Studie "Atomkraft 2018 - sicher, sauber, alles im Griff?" der Atomsicherheitsexpertin Oda Becker.

"Ein schwerer Unfall ist in jedem AKW möglich und Katastrophenschutzpläne sind nicht umgesetzt", fasst Becker die Risikosituation zusammen. "Aus Fukushima hat man gelernt, dass es wichtiger ist, auf das mögliche Schadensausmaß zu fokussieren als auf die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls." Das heißt, auch unwahrscheinliche, aber katastrophale Ereignisse müssen bedacht werden.

Genau dies ist bei den noch laufenden AKW in Deutschland nicht der Fall. Stattdessen erfolgten viele Nachrüstungen und Neubewertungen nicht, da sie aufgrund der Restlaufzeiten von wenigen Jahren als unwirtschaftlich betrachtet werden. Das betrifft etwa die Erdbebensicherheit oder den Schutz der Reaktoren vor Flugzeugabstürzen. Auch umfangreiche regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen fänden aufgrund der Restlaufzeitenregelung nicht mehr statt. Mängel würden manchmal rein zufällig entdeckt und deuteten, selbst wenn sie kein akutes Sicherheitsrisiko darstellten, darauf hin, dass bisherige Prognosen bezüglich der Alterungsprozesse in den Kraftwerken falsch seien.

Einige Mängel gingen auch auf scheinbar inkompetentes Personal zurück, wie im Fall des Einbaus 61 falscher Dichtungen in einem Kraftwerk.

Solange die AKW betrieben würden, müssten die Bundesländer den Katastrophenschutz ausweiten, was letztendlich wieder Steuergelder kosten würde, Kosten die sich nur durch eine vorzeitige Stilllegung der AKW sparen ließen. Für Schwangere und Kinder würden aber auch die neuen Katastrophenschutzpläne nicht ausreichen, nach denen bei einem Unfall ein Umkreis von 5 Kilometern evakuiert werden muss. Je nach Wind- und Wetterlage könnten sie noch immer schädliche Strahlendosen abbekommen.

Wenn Regierung und Kraftwerksbetreiber nicht genug tun, um die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen, hilft nur noch öffentlicher Druck, meint Hubert Weiger. In Belgien wird dieser Druck gerade per massenhafter Strafanzeige ausgeübt. In den Polizeistationen von Eupen, Tongeren und Namur erstatteten am Wochenende Hunderte von Betroffenen Anzeige gegen die Betreiber des Reaktors Tihange 2 und den belgischen Staat wegen unterlassener Hilfeleistung mit den Worten: "Ich habe hiermit die Ehre, eine Beschwerde gegen die o.g. Personen zu erstatten, die wegen unterlassener Hilfeleistung für Personen in Gefahr (Artikel '422bis', '422quater' des belgischen Strafgesetzbuches), wegen der generell mangelnden Anwendung des Vorsorgeprinzips sowie wegen fehlender Maßnahmen, um die Bevölkerung zu schützen, die Sicherheit von Personen verletzen."