Risse im Holzschnittpanorama
Ästhetik der totalen Landschaft: Nordkorea im Kaleidoskop der visuellen Kultur
Westliche Nachrichtensendungen wie die Tagesschau mögen um die Komplexität der Welt wissen, doch sie ziehen es vor, das Bild einfach zu halten, damit es auch die Kleinen verstehen. Holzschnittartig gesprochen: Auf der einen Seite Hawaii, auf der anderen Seite Nordkorea. Abstufungen gibt es in diesem Weltbild nicht etwa dazwischen, als vielmehr innerhalb dieser antagonistischen Kategorien. Kein Wunder, dass die kritische visuelle Kultur das Tagesschau-Nordkorea als einen Reibungspunkt begreift.
Die Autoren des Buches "Die totale Erinnerung" etwa - ein Schriftsteller (Kracht), eine Regisseurin (Munz) und ein Architekt/Fotograf (Nikol) - entlarven jene düsteren Bilder einer diffusen Bedrohung als propagandistisch, indem sie ihnen Fotos entgegen setzen, die dem asiatischen Staat huldigen: Nordkorea als das größte Kunstwerk der Menschheit. Kunstwerke, das ist bekannt, werden häufig missverstanden. Aufklärer, Weit- und Durchblickende schaffen Abhilfe, treten als Übersetzer auf und erschließen der breiten Öffentlichkeit den Reichtum des Unverstandenen. In diesem Fall: das Universum eines Kinofans, der eine beachtliche Sammlung Filmmaterial besitzt, Abhandlungen über den Film schreibt, Filmschaffende aus anderen Ländern entführt, um sein eigenes Land zu bereichern: Norkoreas diktatorischer Machthaber Kim Jong Il.
Letzteres wird ihm von den Kracht und Co. als Übereifer verziehen, ebenso wie im Grunde alles, das Nordkorea und vor allem seine Hauptstadt in eine drastische Filmkulisse verwandelt hat: Gigantische Bauvorhaben, bei denen der Staat seine eigenen Kassen plünderte und seine Bürger wie beim Bau von Pyramiden quasi-versklavte; die Transformation der Bevölkerung in Statisten der staatlichen Großinszenierung; die Kontrolle über Bewegung zwischen Land und Stadt - was sowohl für Menschen als auch für Informationen gilt, vornehmlich Bilder. Alles steht im Dienste des Kunstwerks. Und Kunstwerke, auch das ist bekannt, entstehen häufig unter Aufwendung übermenschlicher Ressourcen, vor allem dann, wenn sie den Anspruch erheben, alles Dagewesene, alles Existierende in den Schatten zu stellen.
Die Bilder, die "Die totale Erinnerung" präsentiert, zeigen, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Es sind Bilder von urbanen Landschaften, die nicht von dieser Welt scheinen. Meere aus Beton, die in gräulich blau-grünen Farben schimmern: perfekte Arrangements metropolitaner Siedlungen, ebenso perfekt choreographierte Staatsbauten von epischer Weitläufigkeit und wohl die perfektesten U-Bahn-Stationen dieses Planeten, die architektonisch gleichermaßen Science Fiction und 20th-Century-retro sind. Die Fotografien sind nüchtern, halten stets den Augenblick fest. Häufig indizieren vorbeihuschende Menschen, dass das Ganze nichts Ausgedachtes ist, sondern tatsächlich "lebt".
Die Menschen, sie werden als glückliche Rekruten gezeigt, die beispielsweise auf unbefahrenen Straßen vorschriftsgemäß, und als gäbe es nichts Normaleres, in Polizeiuniform die Leere überwachen. Die Fotos, die von Zitaten aus Kim Jong Ils Schriften begleitet werden, belegen, dass es ein Regisseur mit dem ausgeprägten Schönheitssinn und Perfektionsdrang eines Stanley Kubrick hätte auch nicht besser machen können. Doch so sehr sie sich als Belege, Indizien, Beweise präsentieren mögen, sie sind immer auch Stills, die die Autoren von ihrer Reise mitgebracht haben - und es ist kein Zufall, dass Kubricks bekanntester Film ("2001") eine Reise durch den Raum zeigt/ist. Die beiden - Film und Reise - hängen eng zusammen.
Magische Anziehungskraft für Intellektuelle
Viele Künstler, Filmemacher, Schriftsteller und Architekten haben sich in letzter Zeit an Nordkorea abgearbeitet. Der US-amerikanische Künstler Sean Snyder etwa hat Querverbindungen zwischen Pjöngjang und Bukarest aufgezeigt sowie die Staatskunst auf ikonografische Muster hin untersucht. Der italienische Fotograf Armin Linke ist selbst hingefahren und hat die Bauwerke der Hauptstadt in sein fotografisches Klassifizierungsraster der Globalisierungsarchitektur aufgenommen. Die japanisch-koreanische Dokumentarfilmerin Yang Yong-hi hat mit "Dear Pyongyang" einfach nur versucht, ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten und damit vielleicht die tiefschürfendste Analyse abgeliefert - trotz südkoreanischem Hintergrund wurde ihre Familie in ihrer zweiten Heimat Japan nach der Teilung ihres Landes zu überzeugten Gefolgsleuten Nordkoreas.
Der frankokanadische Comicautor Guy Delisle arbeitete als Supervisor für eine französische Trickfilmproduktion zwei Monate lang in Nordkorea und verarbeitete dies in autobiographischen Schwarzweiß-Zeichnungen, die Mai diesen Jahres erscheinen. Der italienische Architekt Stefano Boeri hat in seinem Architekturmagazin Domus einen kontroversen Pjöngjang-Artikel veröffentlicht und daraufhin einen Ideenwettbewerb initiiert, der Architekten dazu aufrief, Entwürfe für das brachliegende Ryugyong Hotel einzureichen - vorgestellt im Rahmen der Venice Biennale of Architecture.
Selbst wenn sich das Projekt von Munz, Kracht und Nikol in diesem Kontext betrachten und kritisieren ließe, sein primärer Bezugsrahmen in jener, in dem das Subjekt - in seiner bequemen Haltung verharrend - Nordkorea als den Gegenpol zu Hawaii erlebt. Exakt dort holt das Buch den Betrachter/Leser ab und begeistert damit, dass es Nordkorea als Hawaii präsentiert. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt übrigens Philippe Chancels oppulenter Bildband "Nordkorea". Der französische Fotograf führt darin dem Betrachter ein Paradies der Arbeit vor Augen. Denn ein Paradies auf Erden - das ist Nordkorea aus der Sicht seiner Erschaffer allemal; der Gedanke gehört zur Staatsideologie wie der Meeresblick zum Strand.
Chancel, der bereits so gut wie überall auf der Welt gearbeitet und in letzter Zeit überwiegend im südostasiatischen Raum fotografiert hat, nahm diesen Gedanken ernst, einem Portraitfotograf gleich, der sein Sujet nur dann angemessen erfasst zu haben glaubt, wenn er auch dessen Selbstbild durchdringt. Ob das Ergebnis dieser Operation nun "Propaganda-Chic" ist, wie manch einer behaupten mag, sei dahin gestellt. Fraglos jedoch stehen Chancels Nordkorea-Fotos den visuellen Selbstinszenierungen des sozialistischen Regimes - heute nicht zuletzt in Bukarester Buchhandlungen zu finden - in Nichts nach. Denn während das Land bei Kracht & Co. stets wie aus einem edlen Fashion-Clip entsprungen scheint, zeichnen sich die Bilder des Franzosen auch in ihren farbenprächtigsten Momenten immer auch durch eine tendenziell unbequeme Kälte und Blässe aus.
Der pervertierte Blick
"Nordkorea" führt uns nicht nur durch die Stadt und einige ausgewählte Etablissements, sondern an all die glorreichen Stätten des gesellschaftlichen Lebens, die sich hinter den gigantischen Fassaden der Stadt verbergen. Wer schon einmal ein fotografisches Erzeugnis des nordkoreanischen Propaganda-Ministeriums gesehen hat, fühlt sich unweigerlich daran erinnert. Stadien-Paraden, Theater-Aufführungen, Lernstätten, Restaurants; das "Kriegsmuseum", das "Große Studienhaus des Volkes", der "Kinderpalast", der "Zirkus der Volksarmee" - alles bekommen wir auch von Innen zu sehen und das heißt: In Situationen, die an die Bilderbücher der sozialistischen Philosophie angelehnt sind. Stets agieren die Menschen als Statisten eines sorgsam ausgearbeiteten Plans - keine Bewegung, kein Detail wirkt zufällig -, während die Innenräume jene klinische Sauberkeit aufweisen, die man sonst dem Krankenhaus zuschreibt, obwohl in der Wirklichkeit kaum ein Hospital so erschreckend sauber poliert sein dürfte.
Der Effekt, den Chancels Bilder erzielen, ist nicht zuletzt deshalb so beunruhigend, weil sie an Werke der konzeptuellen Fotografie von Jeff Wall bis Andreas Gurski erinnern. An fotografische Arbeiten also, die mit einem hohen Aufwand inszeniert und im Nachhinein nicht weniger aufwendig digital bearbeitet werden, mit dem Ziel, die Realität der Wohlstandssphäre ad absurdum zu führen. Chancel zeigt nun nicht ohne Augenzwinkern: In Nordkorea muss die Kameraführung lediglich subtil dem ideologischen Parcours der herrschenden Macht angepasst werden, um besagte Ästhetik hervorzubringen. So lässt die Inszenierung dort in den besten Momenten jene Bilder der Verstörung, Entfremdung und Dekonstruktion entstehen, die in der westlichen Kultur als Sinnstifter gesucht und konsumiert werden. Analog zu dieser Beobachtung notiert Stefano Boeri:
They created a city populated by automata unable to exercise their free will, the incarnation of an isolated absolute regime that is nevertheless capable of unscrupulous recourse to the symbolic language of Western democracies.
Ein "Geo"-Journalist wiederum bemerkte neulich in seiner Story "Kims Märchen": "Nur wer die Bilder beherrscht, kann ein solches Paralleluniversum als Realität in den Köpfen etablieren." Doch die kritische visuelle Kultur des Westens zeigt, dass diese Herrschaft über die sichtbare Welt, die der nordkoreanische Diktator offenbar errichtet hat, ein zweischneidiges Schwert ist. Nicht zuletzt die Fotos in "Nordkorea" und "Die totale Erinnerung" führen vor Augen, dass dieses Bildregime mehr mit "uns" zu tun hat, als vielen lieb sein dürfte. Bei näherer Betrachtung wirken die Bilder von der asiatischen Hölle vertraut und wecken Erinnerungen - was könnte beunruhigender sein? Wähnen wir uns doch so weit weg von diesen Zuständen und wollen Ähnliches niemals erlebt haben. Darüber hinaus leben die Fotos von einem "pervertierten Blick", der die einfache Welt der Tagesschau nicht umkrempelt. Im Gegenteil: Die Achse der eingangs erwähnten Polarität bleibt erhalten, nur die Pole präsentieren sich als recodiert. Dieses Manöver könnte bei eingehender Betrachtung zu einer inneren Aufregung führen und die Bequemlichkeit, die heutzutage in der westlichen Wohlstandszone so normal geworden ist, stören. Könnte Fragen aufwerfen und zu einer Auseinandersetzung führen. Vielleicht über Nordkorea. Vielleicht auch über die Welt, in der wir leben.