Rock Me, Aphrodite

Seite 3: Griechisch und Programmiersprachen

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Und dennoch ist Homers Griechisch keine lebendige Sprache mehr.

Friedrich Kittler: Das ist die wahre Katastrophe, die Übersetzung aller griechischen Worte ins Bodenlose, wie Heidegger sagen würde, nämlich in Ciceros Latein. Unter Weglassung der Musik wird alles übersetzt und sozusagen wurzellos. De facto leben wir als Erste seit den Griechen wieder in einer Kultur, in der ein Zeichensystem alle Zeichensysteme integriert. Das war eben seit den Römern nicht so, das hat schon Isidor von Sevilla 700 oder 600 nach Christus bemerkt.

Die Römer haben an ihren furchtbar primitiven Zahlzeichen festgehalten und von den Griechen die Buchstaben indirekt übernommen, aber bei den Griechen waren eben die Buchstaben, also die Lautzeichen, ein bisschen später auch die Zahlzeichen und noch ein bisschen später dann auch die Tonhöhenzeichen alle im selben Alphabet codiert. Also strukturell ist unsere Turing-Zeit eine Rekursion auf diese griechische Einheit des Zeichensatzes.

Je komplexer der Zeichensatz, um so größer die Möglichkeiten.

Friedrich Kittler: Ja. Ich habe mich jetzt bei SchrifthistorikerInnen des Vorderen Orients bis ins vierte vorchristliche Jahrtausend kundig gemacht. Die haben tolle Zeichensysteme, aber diese Rekursivität des griechischen Zeichensystems, das ein Zeichensystem im Grunde alles, was relevant ist, das Dichterische, das Mathematische, das Musikalische encodiert, das ist sensationell.

Dennoch, wenn man sich Programmiersprachen anschaut, sind sie doch relativ schwach, verglichen mit dem Griechischen.

Friedrich Kittler: Also, in der einen Hinsicht sind sie vielleicht schwach, aber in der anderen Hinsicht unglaublich effektiv.

Geht es Ihnen denn um die Effektivität?

Friedrich Kittler: Es geht mir schon immer auch um die Schönheit, und das ist natürlich bei den Griechen entschieden schöner als bei uns. Ich hatte vollkommen überlesen oder vergessen, dass in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte Hegel seinen Studenten was ganz wahnsinnig Schönes über die Griechen erzählt hat. Die Griechen lauschen und staunen über alles, was sie wahrnehmen, und sie staunen nicht über das, was absonderlich ist, über Mischwesen, Monstren und so weiter. Sie staunen über das Natürliche an der Natur und dem lauschen sie.

So entstehen die Nymphen, indem man auf die Quellen lauscht. Wenn man ganz arg auf die Quellen lauscht, verliebt man sich in die Nymphen dieser Quellen und kann eigentlich gar nicht anders - alles Hegel noch - als eine Rohrflöte sich zu schnitzen und sie anzusetzen und dem Gesang der Nymphen zu antworten oder dem Rauschen der Quellen und dann ist man Pan geworden, Erfinder der Hirtenflöte. Das, glaube ich, ist der schöne Ursprung unserer Kunst und Kultur.

Zwei wahnsinnig schöne Gedanken

Das Christentum hingegen begreifen Sie als kulturelle Katastrophe.

Friedrich Kittler: Julianus Apostata hatte einen Brief an die Galiläer geschrieben, die Christen, einen offenen, einen kaiserlichen Brief. Da schreibt er zwei wahnsinnig schöne Gedanken. Erstens:

Ihr dürft predigen, Kirchen bauen, ich baue Euch gerne selber eine große Kirche, schenke sie Euch, Ihr seid so frei wie alle anderen in meinem Reich. Ihr dürft nur eines nicht, Ihr dürft unsere Dichter nicht vor den jungen Leuten auslegen mit dem ständigen Begleitkommentar, das sei alles nur allegorisch, weil es ja keine Götter und Nymphen gibt und für diese Auslegung, die die Dichtungen leugnet, noch Geld verlangen. Das verbiete ich Euch.

Das ist der erste schöne Gedanke, finde ich, den wir heute reaktualisieren sollten, und der zweite schöne Gedanke ist:

Nicht alles haben wir Griechen erfunden, das Rechnen mit den Zahlen stammt von den großen Kaufleuten aus Phönizien, haben wir aber von denen gelernt. Die Astronomie stammt von den Babyloniern, die haben wir aber von ihnen gelernt. Die Geometrie stammt von den ägyptischen Feldvermessern, bei den Nilüberschwemmungen, das haben wir auch von ihnen gelernt, wir Griechen. Und dann haben wir was Viertes selbst entdeckt und das hat die anderen drei, Arithmetik, Geometrie und Astronomie überhaupt erst zu dieser schönen Vierheit gerundet, nämlich die Musik, an der wir das alles beweisen können, dass die Gesetze gelten.

Und dann fragt er:

Und ihr Christen, was habt Ihr an der Stelle anzubieten? Nichts.

Also, die Griechen sind nicht so chauvinistisch zu sagen, alles ist erst griechisch. Sie sind schon dankbar für ihre Vorgänger.

Sie beklagen heute eine gewisse Lustfeindlichkeit.

Friedrich Kittler: Ja, das scheint mir das Schlimmste - und das, was die großen Vorsokratiker, Vorgänger von mir, Nietzsche und Heidegger, immer übersehen haben. Heidegger sagt einmal in dem zu Lebzeiten nie gedruckten, ausgerechnet im Sommer 1945 geschriebenen, langen Gespräch, dass es eigentlich um die Liebe geht im Denken. Er hat mich völlig verblüfft, weil im gesamten veröffentlichten Werk kein Wort davon drinsteht.

Ich sitze gerade an der Umstellung auf Platons Ideenlehre. Warum erfinden Euripides und Sokrates die Trennung von Leib und Seele? Was hat das für einen Zweck? Meine Antwort ist die: Um die Götter brav zu machen. Die Götter sollen entweder monogam leben oder es gibt nur einen Gott und der hat dann keine Probleme mehr mit der Monogamie. Das Verrückteste an den Göttern ist ja ihre Wandelbarkeit. Sie können uns als Menschen erscheinen, als Frauen, als Männer, als Tiere, als Schwäne, Adler und so weiter. Und dann sagt Platon, es ist das Wesen des Gottes, des einen Gottes, einer zu sein.

Also sind ihm alle Metamorphosen verboten und es liegt in seinem Wesen, dass er sich nicht wandelt und deshalb darf Dichtung nicht sein. Punkt, Ende der Durchsage. Ich meine, dass kann man ja nicht alles aus der Welt schaffen in diesem einen Leben, aber so entsteht dann, das will ich irgendwie nächstes Semester neben Pynchon durchexerzieren, das ist noch nicht geschrieben, so entsteht dann der Anlass, Begriffe wie Metapher und Allegorie in die Welt zu setzen.

Wenn es bei Homer steht, dann muss es eben irgendwie wegerklärt werden. Platon überlegt sich, ob er das machen soll, oder ob er sagen soll, der uneheliche Beischlaf von Ares und Aphrodite im achten Gesang der Odyssee, den kann man auch wegerklären als Hochzeit von Erde und Himmel und sagen, das sei eben eine Allegorie auf Erde und Himmel. Dann sagt er: Nein, das geht nicht, denn die jungen Leute, denen wir das wegerklären wollen, die wissen gar nicht, was eine Allegorie ist. Die können noch gar nicht zu dieser Fiktionalitätseinstellung gebracht werden. Mit anderen Worten, ich habe das Gefühl, die ganze Literaturwissenschaft, wie wir sie kennen, mit solchen tragenden Begriffen wie Metapher, das ist nicht so gemeint, wie es dasteht, das ist nur so uneigentlich gemeint, die möchte eigentlich die Göttinnen und Götter und deren Wildheit wegerklären.