Rot-Grün gewinnt in Niedersachsen
Mit einem Mandat Vorsprung gehen SPD und Grüne über die Ziellinie. Prognosen für den Bund sind aus der Landtagswahl in Niedersachsen allerdings kaum abzuleiten
"Das war in dieser Größenordnung nicht absehbar", meinte FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner nach den ersten Hochrechnungen. Wohl wahr, denn in den letzten Wochen vor dem Urnengang hatten manche Beobachter eher mit einer absoluten Mehrheit der CDU gerechnet als mit dem erneuten Einzug der FDP in den niedersächsischen Landtag. Doch es kam alles anders. Rot-Grün verspielte auf den letzten Metern einen komfortablen Umfragevorsprung und darf trotzdem die Regierung stellen. Die Demoskopen verschätzten sich mit der FDP und die CDU-Wähler machten die Union nicht nur zur stärksten Partei, sondern fungierten auch als Retter des Koalitionspartners, der nun keiner mehr ist.
Die Richtungsentscheidung - Besuch aus Berlin
Dass bundespolitische Themen und Machtspiele die Auseinandersetzungen in Niedersachsen überschatten würden, war von vorneherein klar. Mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst 2013 scheuten sich weder Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch ihr Herausforderer Peer Steinbrück (SPD), die eigentlichen Spitzenkandidaten bei ihren zahlreichen Besuchen in den Hintergrund zu drängeln.
In der "Wilhelmshavener Erklärung", die der Bundesvorstand der Union Anfang Januar verabschiedete, wurde der Urnengang in Niedersachsen explizit zur "Richtungsentscheidung" stilisiert:
Unser Programm zeigt, dass es in diesem Jahr um klare politische Alternativen für Deutschland geht. Wir setzen auf stabile Finanzen, stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch neue Beschäftigungschancen und kämpfen für Stabilität in Europa. Die linken Parteien setzen stattdessen auf Umverteilung und eine Politik auf Pump, die zu Lasten kommender Generationen geht. Auch in Niedersachsen geht es am 20. Januar 2013 um eine Richtungsentscheidung.
CDU: Wilhelmshavener Erklärung
Auf der Homepage der Bundes-SPD wurde ein Button mit der Aufschrift "Ein Wechsel kommt selten allein! Erst Hannover, dann Berlin" mit der Seite des niedersächsischen Landesverbandes verlinkt - und Parteichef Sigmar Gabriel, von 1999 bis 2003 selbst Ministerpräsident in Niedersachsen, mochte die Neuwahl ohnehin nicht isoliert betrachten.
Jetzt geht’s um die Frage: Schaffen SPD und Grüne eine eigene Mehrheit wie in Nordrhein-Westfalen oder in Rheinland-Pfalz, oder kommt es zu einem Patt? Deshalb werden die Wahlen in diesem Jahr spannend - im Land Niedersachsen wie später im Bund.
Sigmar Gabriel, 5. Januar 2013
Für den populären Amtsinhaber David McAllister erwies sich die Rückendeckung aus Berlin als Pluspunkt. Sein Kontrahent Stephan Weil hätte sich besser allein mit "Herzog Widukinds Stamm" auseinandergesetzt. Steinbrück war kein guter Kronzeuge für das im "Regierungsprogramm" propagierte Ideal "eines gesicherten sozialen Wertesystems (…), gerechte Rahmenbedingungen und Chancengleichheit". Der Kanzlerkandidat gab anschließend selbst zu, dass es aus Berlin keinen Rückenwind gegeben habe.
Zu allem Überfluss hatte Weil auch noch den Agenda-Kanzler und seine kandidierende Gattin am Hals, deren parteiinterne Konkurrentin Sigrid Leuschner flugs zur Linkspartei wechselte. Für die Medien waren die Schröder-Geschichten mitunter weitaus interessanter als die Auftritte des spröden Oberbürgermeisters von Hannover.
In Hannover und Berlin wird man noch einige Zeit darüber nachdenken müssen, wie und warum Rot-Grün innerhalb weniger Monate ein Umfragepolster von 13 Prozentpunkten verspielen konnte. Eben diesen Vorsprung prognostizierte Infratest Dimap noch im Mai 2012.
CDU-Wähler retten die FDP
Die eigentliche Überraschung des Sonntags lieferte die FDP, die sich trotzdem nur bedingt über ihr stolzes Wahlergebnis freuen konnte. Denn nicht einmal die sichtlich überraschten Protagonisten mochten behaupten, dass die 9,9 Prozent ausschließlich dem personellen Angebot und den inhaltlichen Qualitäten des niedersächsischen Landesverbandes geschuldet waren.
Im Vorfeld des Urnengangs wurden der FDP praktisch keine Kompetenzwerte zugeschrieben, doch vielen CDU-Wählern war klar, dass die eigene Machtoption davon abhängen würde, dass der Koalitionspartner wieder in den niedersächsischen Landtag einzieht. 80 Prozent der FDP-Wähler sollen ihre Stimmen gesplittet haben. Die erste für die eigene Partei (CDU) - die zweite für die Liberalen.
Das Manöver schlug trotzdem fehl. SPD (32,6) und Grüne (13,7) lagen am Ende 0,4 Prozentpunkte vor CDU (36) und FDP (9,9). So büßte Schwarz-Gelb in erheblichem Umfang Prozentpunkte ein, während der rot-grüne Hauptkonkurrent in der Summe zulegte.
TV-Duell ohne Piraten - Regierungsbildung ohne Sahra Wagenknecht
Auch Bündnis 90/Die Grünen, Linke, Piraten und FDP setzten - mit allerdings deutlich unterschiedlicher Schlagzahl - auf die Unterstützung prominenter Bundespolitiker. Keiner der vier Parteien gelang es, das eigene Spitzenpersonal flächendeckend und nachhaltig in Niedersachsen bekannt zu machen. Für die Piraten wurde die Aufgabe zusätzlich erschwert, weil sie vom NDR keine Einladung zu dem kleinen TV-Duell erhielten, in dessen Verlauf sich die Zuschauer immerhin einen Eindruck von Stefan Birkner (FDP), Stefan Wenzel (Die Grünen) oder Manfred Sohn (Die Linke) machen konnten.
Den meisten Bürgern blieb nichts anderes übrig, als sich an den identifizierbaren Wahlalternativen zu orientieren: Viel Arbeit also für die Trittins, Schlömers und Röslers, die landauf landab für ihre Männer und Frauen vor Ort warben.
Die Linkspartei hielt elf Tage vor dem Wahltermin noch eine kleine Überraschung parat und präsentierte Sahra Wagenknecht als "neues Gesicht für den Endspurt". Doch die Fraktions- und Parteivize stellte noch mehr in Aussicht: Sie sei bereit, sich an Verhandlungen über die Regierungsbildung "aktiv" zu beteiligen und einer entsprechenden Verhandlungskommission anzugehören, teilte Wagenknecht mit. Nun gibt es allerdings keinen Bedarf für das großzügige Angebot. Für die Linke votierten magere 3,1 Prozent.
Falsche Prioritäten - Die CDU und die Bildungspolitik
Obwohl die Bundespolitik inhaltlich und personell stets präsent war, entwickelten die Niedersachsen eine eigene Prioritätenliste, die sich zum Jahreswechsel auf einer entscheidenden Position veränderte. Noch im Dezember war Arbeitslosigkeit das wichtigste Thema (22 Prozent), im Januar legte dann "Schule und Bildung" um zehn Prozent zu und entwickelte sich zum mit Abstand wichtigsten Diskussionsfeld, das nur kurz vom Streit über die zwielichtige Privatisierung der Landeskrankenhäuser während der Amtszeit von McAllisters Vorgänger Christian Wulff überlagert wurde.
Die SPD war darauf vorbereitet. Das im November 2012 verabschiedete Programm kam deshalb sofort auf den Punkt: Die Bildungspolitik war der erste inhaltliche Bereich, der nach den einführenden Wahlkampf-Parolen abgehandelt wurde. Die Genossen entwickelten keine revolutionären Konzepte, markierten aber immerhin wichtige Problemfelder vom Ausbau der Kita-Plätze über die Umwandlung der allgemeinbildenden Schulen in Ganztagsschulen bis hin zur Etablierung eines "Inklusionsbeirats".
Auch die Bündnisgrünen besetzten von der Kampagne "Kitaplätzchen für alle - statt Betreuungsgeld" bis zur Forderung nach der Abschaffung der Studiengebühren frühzeitig die gesamte Bandbreite, und die Piraten warfen mit der Idee "Gesamtschule als Regelschule" ebenfalls ein reizvolles Modell in die Debatte.
Die Union aber ließ sich in ihrem Regierungsprogramm 31 Seiten Zeit, bevor sie auf das Thema Bildung zu sprechen kann. Davor beschäftigte man sich mit "Haushalt und Finanzen", "Wirtschaft, Arbeit und Verkehr", "Energie, Klima, Umwelt- und Naturschutz" sowie "Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung".
Die Zurückhaltung der Christdemokraten kam nicht von ungefähr, denn die forsche Behauptung "Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes" hatte schlicht keine Chance gegen die karge Bilanz einer zehnjährigen Regierungszeit. Weder beim Ausbau der Kita-Plätze, der erst in den letzten Jahren beschleunigt wurde, noch im Bereich der Schulpolitik, wo die Abbrecherquote sank, dafür aber die Schul-Absteiger bundesweit Maßstäbe setzten, konnten von Schwarz-Gelb wesentliche Fortschritte erzielt werden. Ganz zu schweigen von der Hochschulpolitik - und hier lag es nicht allein an der sturen Verteidigung der Studiengebühren, die nur noch in Bayern und Niedersachsen erhoben werden.
Die ebenso renommierte wie geschichtsträchtige Universität Göttingen, an der 45 Nobelpreisträger studierten oder arbeiteten, wurde in der zweiten Exzellenzinitiative von Bund und Ländern ausgemustert. Nur einer von vielen Fehlschlägen, die das Image eines modernen Wissenschaftsstandorts konterkarierten.
Kein Wunder also, dass die Mehrheit der Niedersachsen die größere Problemlösungskompetenz beim Zentralthema "Schule und Bildung" auf Seiten der Opposition vermutete. Knapp zwei Wochen vor der Wahl tendierten in dieser Frage 36 Prozent zur SPD, nur 26 Prozent vertrauten der regierenden CDU.
Auf vielen anderen Politikfeldern (Schaffung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftskompetenz) lag allerdings die CDU vorn, die sich in Niedersachsen inhaltlich, personell und bilanziell überzeugender präsentierte als ihre Parteifreunde, die 2012 bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein gescheitert waren.
Wahlkampf total - Kubanische Verhältnisse auf der Autobahn
Soziale Netzwerke, "Mega-Roadposter" an der A1, A2 und A7, tägliche Videobotschaften, die "Weil-App", ein Livestream aus der Parteizentrale oder ein linkes Tomatensuppen-Mobil - die Parteien, die für ihre Wahlkämpfe 86.702,42 Euro (Piraten) oder gleich 2 Millionen Euro (SPD) ausgaben, ließen nichts unversucht, um ihre Botschaften bis in den letzten Winkel des ländlich geprägten Niedersachsen zu verbreiten.
Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen. So interessierten sich für den linken Twitter-Account, der freundlicherweise von der Piratin Christine Haasler angelegt wurde, bis zum Wahlabend nur 299 Follower. Die überdimensionierten Ansichten des Ministerpräsidenten lieferten der Konkurrenz Stoff für spöttische Bemerkungen ("Personenkult wie in Kuba"), kosteten ansonsten viel Geld, richteten aber auch nicht mehr Schaden an als die schwer verdaulichen Videobotschaften, die Stephan Weil über YouTube lancierte.
Am 8. Januar entrüstete sich der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt darüber, dass die Bundesregierung mit Beschäftigten der Offshore-Industrie in Hannover sprechen wolle. Unverständlich für Weil, denn die Küste sei doch am Meer. In diesem Stil präsentierte der SPD-Kandidat Tag für Tag faszinierende Themen und dramatische Entwicklungen. Für wenige hundert Interessenten, die womöglich aus der eigenen Parteizentrale vorbeischauten.
Signalwirkung?
Die Frage, ob von der gestrigen Abstimmung eine Signalwirkung für den Bund ausgeht, ist angesichts der Bundestagswahl naheliegend und durchaus reizvoll. Aber auch müßig, denn bis September ziehen noch acht Monate ins Land, in denen die Karten völlig neu gemischt werden können.
Der CDU bleibt immerhin die Erkenntnis, dass ihr die eigene Stärke wenig nützt, solange der etatmäßige Koalitionspartner am Rande des Abgrunds steht. Die SPD kann davon ausgehen, dass sie mit halbherzigen Kurskorrekturen kaum über 30 Prozent hinauskommt und auf weitere Rekordergebnisse der Bündnisgrünen angewiesen bleibt. Der Linkspartei droht das fortgesetzte Scheitern im Westen der Republik und vielleicht auch eine Pleite bei den Bundestagswahlen. Und die Piraten werden sich einiges einfallen lassen müssen, um den Imageschaden der vergangenen Monate reparieren und an die Erfolge im Frühjahr 2012 anknüpfen zu können.