Rudi Dutschke: die Kraft der Worte
Seite 2: Der "Stalinismus der SPD"
In der Diskussion mit Wittfogel, Ahlers und Bahro über "marxistische Pluralität" spricht Dutschke metaphorisch von dem "Stalinismus der SPD" als das Gespräch auf die bestialischen Morde der Konterrevolution an Luxemburg und Liebknecht kommt. Auf den ersten Blick scheint es absurd und geschichtlich unhaltbar von einem "Stalinismus der SPD" zu sprechen, und doch weiß jeder, was Dutschke meint: die politische Gewalt einer machtbesessenen Parteiführung gegen Andersdenkende aus den eigenen Reihen, die in ihrem Gefolge auch den demokratischen Geist der innerparteilichen freien Diskussion ertötet.
Dutschke lenkt mit dieser Metapher die Gedanken der Zuhörer auf das Gemeinsame beider Formen des Revisionismus und lässt sie zugleich erahnen, wenn auch vorerst nur ex negativo, wie eine sozialistische Alternative zu Stalinismus und Sozialdemokratie inhaltlich aussehen müsste, die Dutschke, allein schon, weil er vom "Stalinismus der SPD" spricht, ganz offensichtlich vertritt. Doch das ist noch nicht alles. Dutschkes Metapher transportiert auch eine bestimmte historische Sichtweise.
Chronologisch kam der Stalinsche Terror nach den Morden der Eberts und Noskes. Weiß Dutschke das denn nicht? Dutschke geht es um etwas anderes: um den historischen Zusammenhang. Der "Stalinismus der SPD", der Verrat und die konterrevolutionäre Gewaltanwendung der Mehrheits-SPD gegen ihre Gegner innerhalb der Arbeiterbewegung in den Tagen der Novemberrevolution führte dazu, dass die "Revolution im Westen", an deren Gelingen Lenin das Schicksal des jungen Sowjetrusslands gebunden sah, scheiterte.
Die unterentwickelte und von Interventions- und Bürgerkrieg katastrophal geschwächte Sowjetunion blieb isoliert. Der "Aufbau des Sozialismus in einem Land", der daraufhin folgte und der in Wahrheit eine Restauration der "asiatischen Staatssklaverei", der eine Konterrevolution war, bildete die materielle Grundlage für Stalins Verrat und Gewaltherrschaft.
Ein anderes Beispiel: Dutschke spricht von einem letzten "Rest faschistoiden Gewaltdenkens", den die Demonstranten 1967 zunächst in sich selbst überwinden hätten müssen, um nicht spontan mit Hass und Gewalt auf die Polizeibeamten in jenen Situationen zu reagieren, in denen sie unmittelbar mit polizeilicher Gewalt konfrontiert waren. Auch hier werden in drei Worten komplexe Zusammenhänge transportiert.
Der Faschismus kann offenbar nicht einfach eine Feindbestimmung sein, wenn Dutschke ihn auch auf die psychische Struktur der antiautoritären Studenten bezieht. Hier klingen die Einsichten aus Wilhelm Reichs "Massenpsychologie des Faschismus" und Adornos "Studien zum autoritären Charakter" an. Wenn der Faschismus sich in der psychischen Struktur des Massenindividuums reproduziert, und auch der antiautoritäre "Rebell", wie Erich Fromm in seinem Buch "Die Furcht vor der Freiheit" gezeigt hat, wenn er sich nicht von der Fixierung auf die Autoritäten löst, gegen die er rebelliert, nur eine Kippfigur des "autoritären Charakters" ist, dann ist eine wesentliche Voraussetzung zur Überwindung des verobjektivierten "Faschismus in den Institutionen" (Dutschke) die praktische Selbstveränderung.
… erkämpft das Menschenrecht
Anhand der "Spaziergängerdemonstration", mit der die Konfrontation mit der polizeilichen Gewalt unterlaufen werden konnte, erläutert Dutschke anschließend, dass nur die Methode der "Subversion" mit ihren beiden Seiten, der Verweigerung den "Faschismus in den Institutionen" mit dem eigenen Verhalten zu reproduzieren und zugleich parallel dazu neue Verkehrs- und Produktionsformen zu entwickeln, die bestehende Gesellschaft umwälzen kann, zu der, weil jedes Individuum ein Teil von ihr ist, es kein "Außen" gibt.
Diese drei Worte enthalten also nichts weniger als Dutschkes revolutionsstrategischen Ansatz, der die Lehren aus der inneren Pervertierung der revolutionären Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht.
Ein letztes Beispiel: In seiner Trauerrede auf den Philosophen Ernst Bloch kennzeichnet Rudi Dutschke dessen "politisch-philosophisches Erbe" mit den Worten "immer in der Tradition der Arbeiterklasse: die Internationale erkämpft das Menschenrecht." Ernst Bloch habe die Voraussetzungen für diese "Erkenntnis" gegeben.
Welche Erkenntnis? Ist es nicht nur hohler, anlassferner Pathos aus dem Lied der Arbeiterbewegung "Die Internationale" zu zitieren, hätte es nicht auch alles andere sein können? Und doch trifft Dutschke hier tatsächlich die Bedeutung seines Freundes und Lehrers Ernst Blochs in der Geschichte des Marxismus. Was intuitiv verständlich ist, wenn man Dutschkes Rede hört, dass es Ernst Bloch um den "Wärmestrom" im Marxismus ging, das wird auch inhaltlich klar, wenn man reflektiert, welche Aussage Dutschke macht.
Das "Menschenrecht" ist eine Kategorie aus der philosophischen Tradition des "Naturrechts". Die Lehre, dass es bestimmte unveräußerliche Rechte gibt, die dem Menschen von Natur aus zukämen - wobei hier die "Natur" noch die sittliche Ordnung der Welt mitumfasst und noch nicht szientistisch entseelt verstanden wurde - hat die bürgerliche Klasse bald nach ihrem Sieg über die feudale zugunsten eines relativistischen Rechtspositivismus aufgeben, der von der menschlichen Natur, weder im Sinne des Naturrechts, noch in dem Adornos von "quälbaren Leibern" etwas wissen will.
Wenn heute von "Menschenrechten" die Rede ist, dann nur noch, um imperialistische Kriege zu legitimieren. "Der Gedanke des Naturrechts" hingegen "gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, so dass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen", wie Papst Benedikt XVI 2011 vor dem deutschen Bundestag so richtig feststellte.
Bloch hat nicht nur in seinem Buch über "Naturrecht und menschliche Würde", er hat mit seinem gesamten Werk in Erinnerung gebracht, dass die Grundintention des Marxismus nicht ein "großer Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft" ist, sondern die "Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit".
Jeder historische und moralische Relativismus ist dem Marxismus wesensfremd, ebenso eine politische Moral, nach welcher der Zweck die Mittel heilige. Einer unbedingten Humanität kann nicht mit allen Mittel gedient sein, der Zweck muss sich in den Mitteln seiner Verwirklichung widerspiegeln, wenn er nicht korrumpiert werden soll, "Nahziel und Fernziel" müssen miteinander vermittelt sein.